Gewinnen lernen (2): Die Kunst des Schwerfigurentausches

von Jan Markos
30.06.2022 – Eine der raffiniertesten Möglichkeiten sich einen Vorteil zu verschaffen, ist die Kunst des Abtauschs. Die meisten Vereinsspieler nehmen den Tausch nicht allzu ernst. Opfern ist mutig, Angreifen macht Spaß, aber Figuren tauschen ist irgendwie langweilig, oder? Sogar feige. Aber zu wissen, wann man tauscht und wann nicht, ist eine mächtige strategische Waffe. In Teil 2 seiner Serie "Gewinnen lernen" zeigt Jan Markos, warum. | Foto: Wikipedia

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Viele Vereinsspieler verstehen nicht, wie man einen Vorteil erlangen kann, wenn man Figuren der gleichen Art tauscht. Immerhin haben beide Seiten eine Figur weniger, wie kann das positionelle Gleichgewicht also gestört werden?

Aber stellen Sie sich eine nicht-schachliche Situation vor. Es gibt zwei Schurken, die sich gegenseitig umbringen wollen. Beide sind mit einer Pistole bewaffnet, aber nur einer trägt eine kugelsichere Weste. Wer hat in diesem Kampf einen Vorteil? Sicherlich derjenige mit einer Weste. Aber halt! Stellen Sie sich vor, dass beide Schurken ihre Pistolen weglegen. Wer hat jetzt den Vorteil in einem Faustkampf? Es ist nicht mehr klar, wer der Favorit ist. Der Typ ohne Weste kann sich frei bewegen, also wird er vielleicht die Oberhand haben.

Beide Schurken haben die gleiche Art von Waffe "getauscht" (=entfernt). Und dennoch haben sich die Siegchancen erheblich verändert. Und in ähnlicher Weise können Abtauschvorgänge beim Schach die Bewertung der Stellung verändern.

In diesem Artikel befassen wir uns mit dem Tausch von Schwerfiguren. Warum? Ich bin der Meinung, dass in Partien von Vereinsspielern diese Abtausche noch unbedachter und intuitiver erfolgen als die Abtausche von Läufern oder Springern. Daher ist es sinnvoll, sie zuerst zu behandeln.

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Das erste Beispiel ist einfach und offensichtlich:

Carlsen-Giri, Blitz-Weltmeisterschaft, Sankt Petersburg 2018, Weiß am Zug:

 

Wenn Sie Weiß hätten, würden Sie den Damentausch zulassen? Nun, warum nicht? Beide scheinen ungefähr gleich aktiv zu sein. Aber Moment mal! Es ist die Stellung der Könige, nicht die der Damen, die bewertet werden muss, wenn man den Tausch der stärksten Figuren auf dem Brett in Betracht zieht.

Die Dame ist ein brillanter Angreifer, aber ein schlechter Verteidiger. Sie ist viel zu wertvoll, um andere Figuren wirksam zu verteidigen. Man kann sie mit einem goldenen Fahrradschloss vergleichen. Kein goldenes Schloss würde verhindern, dass Ihr Fahrrad gestohlen wird. Ganz im Gegenteil: Die Diebe würden Ihr Fahrrad viel schneller stehlen - und das Schloss gleich mit.

Giris König ist viel schwächer als der von Carlsen. Und Giris Dame wird nicht in der Lage sein, ihn zu verteidigen. Ganz im Gegenteil: die Tempi, die Weiß durch den Angriff auf die Dame gewinnt, werden nur seinen Mattangriff auf den König verstärken.

Deshalb zögerte der Weltmeister nicht lange, vermied mit 18.Df4! den Abtausch und setzte wenige Züge später den schwarzen König matt.

Die ganze Partie

 

 

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Abgesehen davon, dass Sie die Sicherheit des Königs überprüfen, sollten Sie immer darauf achten, welches Material nach dem beabsichtigten Tausch auf dem Brett verbleibt. Manche Figuren kooperieren besser als andere. Ich nenne die Figuren, die am besten kooperieren, "Seelenverwandte". Es gibt drei häufigste Seelenverwandte: das Läuferpaar, Dame + Springer und Turm + Läufer.

Im folgenden Beispiel sehen wir, wie Boris Gelfand die "Seelenverwandten" vergessen hat:

Gelfand-Carlsen, Kandidatenturnier 2013, Weiß am Zug:

 

Der israelische GM spielte das scheinbar aktive 25.Dd6?!, aber nach 25...Sf8 26.g3 Tc8 27.Txc8 Dxc8 war es Schwarz, der die bessere Figurenkombination hatte. Carlsens D+S erwies sich als stärker als D+L und Schwarz gewann eine schöne Partie.

Anstelle von 25.Dd6 war 25.Df3! viel stärker. Nach 25...Dxf3 26.gxf3 mag die Bauernstruktur von Weiß beschädigt erscheinen, aber wichtiger ist, dass sein Turm auf die siebte Reihe gelangt, und die Kombination T+L könnte stärker werden als T+S von Schwarz. (Am wichtigsten ist, dass der schwarze Springer nicht so leicht nach d5 gelangen kann).

Die ganze Partie

 

 

In der folgenden Stellung fragte sich Mamedyarov, was er tauschen sollte. Sollte er ein Turmpaar, beide Turmpaare oder gar keine Türme tauschen? Was würden Sie wählen?

Mamedyarov-Gelfand, FIDE GP, Baku 2014, Weiß am Zug:

 

Weiß hat Raumvorteil. Das bedeutet, dass er so viele Figuren wie möglich auf dem Brett behalten sollte. Außerdem hat Schwarz eine Schwäche auf d6. Stellen Sie sich vor, alle Schwerfiguren würden vom Brett verschwinden. In einer solchen Situation hätte Schwarz eine zusätzliche Verteidigungsfigur gewonnen: seinen König. (Der d6-Bauer kann vom schwarzen König bequem verteidigt werden, aber es ist unmöglich, ihn mit dem weißen König direkt anzugreifen).

Andererseits sind die schwarzen Türme auf der einzigen offenen Linie ziemlich aktiv. Wenn Mamedyarov jeglichen Abtausch vermeiden will, muss er die e-Linie ganz aufgeben, und das würde Gelfand beträchtliches Gegenspiel ermöglichen (z. B. könnte ...Sf6-e4 stark sein).

Daher entscheidet sich Weiß für einen Kompromiss. Er tauscht ein Turmpaar ab, um das schwarze Gegenspiel zu reduzieren, behält aber das andere Paar auf dem Brett, um auf beiden Flügeln aktive Chancen zu haben.

Schauen wir uns die Stellung an, die fünf Züge später entstanden ist. Der weiße Turm ist viel effektiver:

Mamedyarov-Gelfand, FIDE GP, Baku 2014, Schwarz am Zug:

 

Die ganze Partie

 

 

Ein einzelner Turm auf einer offenen Linie kann nutzlos sein, wenn alle Einbruchsfelder sicher gedeckt sind. Ein solcher Turm könnte effektiver als Hilfsmittel für einen Bauerndurchbruch eingesetzt werden. Das war in der folgenden Stellung der Fall:

Carlsen-Kramnik, Leuven 2017 (rapid), Weiß am Zug:

 

Weiß wird den Kampf um die c-Linie nicht gewinnen, da Schwarz alle wichtigen Felder kontrolliert. Das einzige, was auf der c-Linie passieren könnte, ist ein Turmtausch. Carlsen gab daher freiwillig die offene Linie auf und spielte 23.Tf1!, um die Türme auf dem Brett zu halten und f4-f5 vorzubereiten.

Die ganze Partie

 

 

Im letzten Beispiel wollen wir uns wieder auf die Sicherheit der Könige konzentrieren. In der folgenden Stellung hat Schwarz einen Bauern mehr. Aber wie soll er den Punkt nach Hause bringen?

De Firmian-Salov, New York 1996, Schwarz am Zug:

 

Salov spielte 34...Td8. Was könnte natürlicher sein, als den Turm auf eine offene Linie zu stellen? Nach 35.Td2 Txd2 36.Lxd2 blieb die weiße Dame jedoch in ihrer aktiven Stellung und störte sowohl den schwarzen König als auch den Damenflügel.

Bitte beachten Sie: Um die gegnerische Dame aus einer aktiven Stellung zu vertreiben, braucht Ihre Dame einen Rückhalt. Und wenn man zwei oder mehr schwere Figuren hat, können sie sich gegenseitig helfen. Daher hätte Salov die offene Linie ignorieren und stattdessen De6-c6 vorbereiten sollen. Nach 34...Kf7! 35.Ld2 Dc6 hat Weiß eine schwierige Wahl: seine Dame dezentralisieren oder sie abtauschen. In beiden Fällen steht Schwarz klar auf Gewinn.

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Gewinnen lernen (1): Ungleichgewichte schaffen


Jan Markos ist ein slowakischer Schachautor, Trainer und Großmeister. Sein Buch "Under the Surface" wurde 2018 vom Englischen Schachverband zum Buch des Jahres gewählt. Sein neuestes Buch, "The Secret Ingredient", das er zusammen mit David Navara geschrieben hat, konzentriert sich auf die praktischen Aspekte des Schachs, z.B. Zeitmanagement am Brett oder Vorbereitung auf einen bestimmten Gegner. Markos war vor zwanzig Jahren U16-Europameister und jetzt verhilft er seinen Schülern aus mehreren Ländern zu ähnlichen Erfolgen. Neben Schachbüchern hat er auch Bücher über kritisches Denken, moralische Dilemmata und Phänomenologie geschrieben.

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