Grenke Classic: Aronian deklassiert "Struwwelmagnus"

von Hartmut Metz
23.04.2017 – Levon Aronian war der überragende Spieler der Grenke Chess Classic 2017 und distanzierte sogar Magnus Carlsen. Hou Yifan, die nach dem Umzug von Karlsruhe nach Baden-Baden nur noch einen halben Punkt holen konnte, war nicht so zufrieden, sammelte aber viele Sympathien.

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Weltmeister Carlsen landet in Baden-Baden abgeschlagen auf Platz drei

"Es gibt talentiertere Spieler als Magnus Carlsen", hatte der Russe Alexander Morosevich unter der Woche eine steile These aufgestellt – und gleich danach Wasser auf seine Mühlen bekommen am kleinen Flüsschen Oos, das geruhsam durch Baden-Baden plätschert. Der Schach-Weltmeister war bereits eine Runde vor dem letzten Zug aus dem Kreis der Sieganwärter bei den Grenke Chess Classic ausgeschieden. Levon Aronian lag mit 1,5 Punkten uneinholbar in Front. Die Fans machten sich daher mehr Gedanken über die wilde Haartolle nach einem Thermen-Besuch als das wenig tolle Spiel. Am Samstag fehlte "Struwwelmagnus" ohne seine zu Turnierbeginn eingesetzte neue Brille der Durchblick für einen Sieg über die Nummer fünf der Weltrangliste, den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave.

Dagegen gab Aronian trotz seines vorzeitig feststehenden Triumphs weiter Vollgas und nahm mit Schwarz auch Fabiano Caruana aufs Korn, der ebenso wie gewohnt munter nach vorne spielte. Das ging jedoch nach hinten los, weil dem Weltranglistendritte der "schreckliche Fehler 22.Sxe6" unterlief. Dem Amerikaner entging die Pointe Tc8 nebst c5 und Springerfang. So musste Weiß den Springer für drei Bauern opfern – weil Caruana jedoch schon in der Eröffnung einen Bauern hergegeben hatte, sah die Lage hoffnungslos aus. "Ich wollte aufgeben, zwang mich aber dazu, weiterzuspielen", gewährte Caruana Einblicke in seine Gefühlswelt. Aronian agierte ab diesem Moment zu sorglos und unterschätzte weiße Tricks, obwohl nur der Anziehende in Zeitnot war. Mit 33...Tg7 statt Tf7 begann die Krise leicht und wuchs sich aus.

Nach 38.h7 beachtete der Turniersieger die schnellere weiße Bauernumwandlung zu wenig, weil er selbst sofort zur Dame ging. 38...Txh7 erwartete hingegen Caruana, was ihm noch ein paar Schachs gegönnt hätte - danach kostet ihn jedoch der schwarze Freibauer auf a3 einen Turm. Mit Springer weniger hätte der einstige Italiener seinen Aufgabe-Plan umsetzen können ... Das von Aronian gewählte 38...a2 betrachten die Engines zwar als stärksten Zug, aber für Menschen wird es danach kompliziert. "Ich habe 42.Tg8 samt Folgen übersehen", räumte der 34-Jährige ein. Hernach verfiel er in fast 50-minütiges Brüten – und fand die beiden Gewinnzüge De1 oder Da7 nicht. Vachier-Lagrave konnte das nach so langem Nachdenken gar nicht verstehen.

Für den Franzosen lag die Verteidigung vor allem mit Da7 auf der Hand. Die Dame wäre dann wohl weg, mit zwei Türmen und Springer hätte allerdings kein Zweifel am Ausgang des Duells geherrscht. Carlsen hatte von der Partie gar nichts mitbekommen und ließ sich diese im Kommentatorenraum von Peter Leko und Jan Gustafsson zeigen. Als ihm sein Kontrahent die Varianten des Nachbar-Duelles um die Ohren haute, meinte Carlsen grinsend: "Es ist unglaublich, wie viel du über die Partie weißt! Es muss ja leicht für dich gewesen sein, nebenbei das Remis gegen mich zu halten ..." In dem Vergleich mit Vachier-Lagrave hatte der Weltmeister seiner Einschätzung nach "überkandidelt" mit 22.b4 einen Bauern vorgestoßen. "h6 und Dc8 habe ich überhaupt nicht beachtet", lobte der 26-Jährige die spätere Verteidigung des Franzosen. Im Turmendspiel war am Schluss für beide Seiten nichts mehr zu wollen.

Aronian wählte in der kritischen Stellung nach besagten 50 Minuten Da5 und stand sogar kritisch. Mit mehreren einzigen Zügen wickelte er mühsam ins Endspiel mit zwei Türmen und Bauer gegen Dame und zwei Bauern ab. Weil die unverbunden waren, fiel die Verteidigung leicht. Natürlich bedauerte der Armenier den "leider versemmelten Sieg" und die herausragenden 6/7. Dennoch ging er mit 1,5 Punkten Vorsprung über die Ziellinie. Das sind immer noch Welten. Die favorisierten Caruana und Carlsen (beide 4:3) folgten in dieser Reihenfolge abgeschlagen auf den Plätzen zwei und drei.

Fast 3000 Elo-Perfomance

Während Aronian nach den zwei Auftakt-Unentschieden vier Siege in Serie feierte und bis zum Schluss an einer 3000er-Elo-Performance kratzte, gelang dem Norweger nur ein Erfolg. Eine gewisse "Stagnation" und zu "technisches Schach" witterte der ehemalige FIDE-Weltmeister Ruslan Ponomarjow angeblich bei seinem aktuellen Nachfolger. Als kreativer Kopf der Denkerszene assistierte der frühere Weltranglistenvierte Morosevich und sieht bei Carlsen vor allem nur Vorteile als besonders ehrgeiziger wie stabiler sportlicher Kämpfer, der die Gegner nach sechs Stunden ermattet. Entsprechend klagte Carlsen, dass "sieben Runden zu wenig sind". Sein Endergebnis sei zwar "kein Desaster – aber bei der kurzen Distanz konnte ich es mir nicht leisten, Punkte wie mit dem Remis gegen Aronian zu verschenken. Ich hätte mit 2/2 starten müssen", ging der 26-Jährige außerdem auf den Vergleich mit Matthias Blübaum ein. Gut gelaunt ulkte der der Weltranglistenerste: "Nach meinem Abschneiden hier bin ich nur für reine Superturniere ohne Schwächere. Bei uns in Norwegen im Juni geht es über neun Runden und alle aus den Top Ten sind dabei."

Hou "nicht so zufrieden", sammelte aber viele Sympathien

Landete Aronian bei der letzten Auflage der Grenke Chess Classic mit 50 Prozent im Mittelfeld, standen heuer die unter den Männern überzeugende Weltranglistenerste Hou Yifan, Arkadij Naiditsch und Vachier-Lagrave (je 3,5) dort. Die Chinesin war mit ihrem Ergebnis nach dem Umzug von Karlsruhe in die Kurstadt "nicht so zufrieden". Schließlich büßte sie die Spitze ein und sattelte auf die 2,5/3 lediglich einen Zähler drauf. Dennoch gilt sie als eine der Gewinnerinnen des Turniers – Hou sammelte Sympathien bei Fans wie den Organisatoren und dürfte 2018 wieder dabei sein. Diesmal hatte sie sich "erfreut gezeigt, an so einem Turnier überhaupt mitspielen zu dürfen", betonte die Pekingerin. In der letzten Runde versuchte die 23-Jährige wie Naiditsch in einem Franzosen den vollen Punkt einzufahren. Der einstige Schach-Deutsche opferte die Qualität für einen Bauern im Endspiel, was jedoch die Stellungsbalance nicht nachhaltig störte.

Hoe und Naiditsch

Am Schluss stand ein weißer Turm einem schwarzen Springer samt zwei b-Bauern gegenüber. Wie Vachier-Lagrave ("50 Prozent sind ein leichtes Desaster für mich") begeisterte Naiditsch die ausgeglichene Bilanz kaum. "Vier Punkte hätte ich schon einfahren sollen", reuten ihn vor allem "der vergebene einzügige Gewinn gegen Georg Meier" und die Eröffnungsmisshandlung gegen Aronian. Und wäre noch die schwache Behandlung gegen Caruana vermieden worden, hätte Naiditsch mit 3,5/4 an seinen Stichkampf 2015 gegen Carlsen anknüpfen können. Der Bundesliga-Topscorer tröstete sich wenigstens ein bisschen mit seinen "interessanten Partien", die die Zuschauer einmal mehr begeisterten.

Am Ende des Feldes fanden sich Meier und Matthias Blübaum wieder. Die beiden Studenten hielten phasenweise passabel mit, ließen jedoch mehrere gute Gelegenheiten aus und endeten abgeschlagen mit zwei Zählern. Meier war der Erste im Turnier, der sich 1.e4 gegen Blübaum traute – der Bremer Bundesligaspieler hatte sich nach den beiden letzten Schwarz-Partien verwundert gezeigt, dass Hou Yifan und Maxime Vachier-Lagrave dem Königsbauern den Vormarsch verweigerten. Doch nun witterte Blübaum Gefahr durch den anderen Französisch-Liebhaber im Feld und antwortete lieber mit c6. "In allen anderen Partien hätte ich Französisch gespielt", bekannte der 20-Jährige. Mit dem Panow-Angriff holte Weiß nicht viel heraus, der Nachziehende glich mühelos aus. Im 31. Zug gab Blübaum ein Dauerschach.

"Es ist gegen solch guten Leute schwierig. Wenn man einmal den Faden verliert, kommen die sofort zurück", bemerkte Meier erneut in einem Topturnier. Entscheidend war der Auftakt für ihn: "Wie ich in der zweiten Runde gegen Hou Yifan verlor, zeigte, dass ich in schlechter Verfassung war. Und vor allem gegen Levon Aronian vergab ich einen Elfmeter", beklagte Meier die verpasste Chance in "nur zwei Zügen". Danach wurde der Volkwirtschaftslehre-Student, der zurzeit in Stockholm seine Masterarbeit abschließt, zu allem Überfluss "krank. Ich bekam Grippe und hatte hohes Fieber. Ich hätte zwei Punkte mehr holen können".

Meier und Blübaum

Derlei Aussetzer beklagte Blübaum weniger, weil er "langsam und schlecht spielte. Erst als ich in Zeitnot schneller ziehen musste, machte ich bessere Züge". Diesbezüglich wertete der Lemgoer das Superturnier als lehrreich. Zudem stelle das Talent fest: "So unfassbar besser sind die Topleute auch nicht. Selbst gegen Carlsen war es nicht so hoffnungslos, wie man angesichts der Knetstellung gegen ihn denkt. Er hat das Endspiel nicht sonderlich stark gespielt", hat der 20-Jährige bei seinem ersten Remis zumindest den Respekt vor dem Weltmeister deutlich reduziert. Künftig traut sich Blübaum deshalb zu, in Topturnieren "mehr Punkte zu holen". In Dortmund kann er das im Sommer gleich bestätigen.

 

 

 


Hartmut Metz ist Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) mit Hauptsitz in Karlsruhe. Er schreibt außerdem unter anderem für die taz, die Frankfurter Rundschau und den Münchner Merkur über Schach und Tischtennis. Zudem verfasst der FM und Deutsche Ü50-Seniorenmeister 2023 von der Rochade Kuppenheim regelmäßig Beiträge für das Schach-Magazin 64, Schach-Aktiv (Österreich) und Chessbase.de.

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