31.01.2022 – Wenn Schachspieler das Wort "Hängepartie" hören, erinnern sie sich je nach Alter vielleicht an einen alten, abgeschafften Brauch, an Heldenerzählungen von tiefgründigen Analysen, an Partien, die Tage oder Wochen dauern konnten, an falsche Abgabezüge oder an die Freude über die Entdeckung verborgener Endspielressourcen. In einer charmanten Ausstellung mit dem Titel "Hängepartie. Kunst mit offenem Ausgang" zeigt das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt jetzt, was "Hängepartie" noch alles bedeuten kann. | Fotos: Manuela Hoffmann-Maleki
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"Hängepartie. Kunst mit offenem Ausgang"
Früher waren Hängepartien fester Bestandteil des Turnierschachs. War nach vier oder fünf Stunden Spielzeit keine Entscheidung gefallen, wurde die Partie unterbrochen, sie wurde zur Hängepartie. Einer der Spieler gab seinen nächsten Zug verdeckt in einen Umschlag, auf dem die aktuelle Stellung festgehalten wurde, und die Partie wurde nach ein oder zwei Stunden Pause oder am nächsten Tag oder noch später fortgesetzt.
Nach Abbruch durften beide Spieler die Stellung ausführlich analysieren, auch mithilfe stärkerer Spieler oder einschlägiger Endspielbücher. Hängepartien konnten sich über Tage hinziehen, sie kosteten Kraft, Schlaf und Nerven. Präzise Analyse und starke Helfer waren wichtiger als kreative Einfälle am Brett. Das Ideal der Analyse einer Hängepartie bestand darin, die Abbruchstellung bis zu einem klaren Gewinn zu analysieren, und diese Analyse nach Wiederaufnahme der Partie zu reproduzieren.
In den 90er Jahren schaffte man die Hängepartien ab, heute spielt man bis zur Entscheidung, aber wie die Wörter "Zugzwang" oder "Patt" hat der Ausdruck "Hängepartie" Eingang in die Alltagssprache gefunden. Und in der Ausstellung "Hängepartie. Kunst mit offenem Ende" untersucht das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt jetzt die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs "Hängepartie".
Natürlich spielt das Schach dabei eine Rolle. Neben einem Schachtisch aus den 20er Jahren lädt ein Schachbrett mit Figuren zum Spielen ein und ein Video einer alten kanadischen Wochenschau zeigt, wie der Musiker John Cage und der Künstler Marcel Duchamps, beides begeisterte Schachspieler, sich darauf vorbereiten, eine Schachpartie zu spielen, bei der die Züge Töne erzeugen.
Screenshot aus der kanadischen Wochenschau
Ein Highlight der Ausstellung ist der "Schachraum", den der Berliner Künstler Gregor Hildebrandt gestaltet hat. Der Schachbrettboden dieses Schachraums besteht aus zahlreichen Schachspielen aller möglichen Formen und Farben und Herkunft, die Hildebrandt und seine Mitarbeiter auf Flohmärkten zusammengesucht haben, um sie zu einem faszinierenden Kaleidoskop von Schachbrettern wieder zusammenzufügen.
An der Wand des Schachraums stehen über 2000 Bauern im Pawnshop aufgereiht in Regalen, die sich über die ganze Wand erstrecken. Auch diese Phalanx von Bauern stammt aus Schachspielen aus aller Welt und übt wie der Schachbrettboden einen eigenartigen Reiz aus.
Museumsdirektorin Dr. Theres Rohde erläutert Bauernstrukturen
Mit der abstrakten Schönheit von Schachpartien, die heute überwiegend am Computer nachgespielt werden, haben diese Arrangements konkreter Schachmaterialien wenig zu tun, aber die ungewöhnliche Anordnung der Bretter und Bauern entwickelt einen ganz eigenen Charme und zeigt, welche Faszination von Schachbrett und Schachfiguren ausgehen kann.
Bauernreihen
Neben diesen Exponaten mit konkretem Bezug zum Schach versammelt die Ausstellung jedoch vor allem Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die sich allgemein Gedanken zum Begriff der "Hängepartie" gemacht haben. Doch während bei der Hängepartie im Schach die Analyse, die Suche nach dem besten Zug, im Vordergrund steht, betonen die ausgestellten Werke vor allem das Spielerische und das Ungewisse, das in der Alltagssprache mit dem Begriff "Hängepartie" verbunden ist.
So schreibt der 1940 in Berlin geborene Künstler Timm Ulrichs:
Hängepartie ...Schwebezustand, der keine Verzögerungstaktik oder mangelnde Entschlussfähigkeit darstellt ...längere Bedenkzeit, sich eröffnende Möglichkeitsräume, offengehaltene Türen, Aufschub für potenzielle Chancen zu Neuem, Besserem, Veränderungen Statt einen definitiven Punkt zu machen, unaufhebbare Endpunkte zu setzen, empfiehlt sich also, auch hier und wie lang auch immer, der vielsagende Gedankenstrich: –
Diesen Schwebezustand illustriert Ulrichs mit seinem Exponat "Vage Waage", einer Konstruktion zweier Wasserwaagen, deren Anordnung allerdings jede praktische Nutzung verhindert.
Viele der Exponate zeigen den Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach Klarheit und Präzision und der Schwierigkeit, Klarheit herzustellen. Typisch dafür ist ein unbetiteltes Werk des 2016 verstorbenen französischen Künstlers Francois Morellet, das präzise angeordnete Linien zeigt, aber schief an der Wand hängt, und so dazu einlädt, das Werk gerade zu rücken, um Ordnung zu schaffen – wobei genau dieses Spiel mit Betrachter und Betrachterin die Pointe des Exponats ist.
Viele der Werke, die in Ingolstadt zu sehen sind, haben etwas Spielerisches, Leichtes, Beschwingtes. Im Schach haben Hängepartien nur selten für Leichtigkeit, Beschwingtheit und gute Laune gesorgt, im Museum für Konkrete Kunst tun sie es jetzt.
Dr. Theres Rohde führt in die Ausstellung ein
"Hängepartie. Kunst mit offenem Ende" ist noch bis zum 1.5.2022 im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt zu sehen.
Im Rahmenprogramm der Ausstellung wird Blindspielexperte Marc Lang am Samstag, den 26.3.2022, vor Publikum ein Blindsimultan gegen prominente Personen spielen.
Johannes FischerJohannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".
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