Herzlichen Glückwunsch! Andy Soltis wird 75 - ein Interview

von Johannes Fischer
28.05.2022 – Vor 75 Jahren, am 28. Mai 1947, wurde der amerikanische Großmeister und bekannte Schachautor Andrew "Andy" Soltis in Hazleton, Pennsylvania, geboren. In einem ausführlichen Interview spricht Soltis über seine Karriere als Schachspieler und Schachautor, Schach in New York, den Marshall Chess Club, über eine bemerkenswerte Blitzpartie gegen Bobby Fischer und über Fabiano Caruana und Magnus Carlsen. | Foto: Marcy Soltis

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Johannes Fischer: Sie haben mehr als 100 Schachbücher als Autor oder Co-Autor geschrieben. Aber was war das erste Schachbuch, das Sie gelesen haben?

Andy Soltis: Das war eine schlichte Einführung, wie man die Figuren zieht. Ich habe das Buch in der Stadtbibliothek entdeckt und alles, woran ich mich erinnere, sind die großen Diagramme. Das hat gereicht, um mich süchtig zu machen. Seitdem bin ich der Meinung, dass Grafiken und Illustrationen ein extrem wichtiger Bestandteil eines guten Schachbuchs sind.

Das erste Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen habe, war von Fred Reinfeld, "Greatest Short Games of the Chess Masters". Ich habe es immer noch, oder zumindest einige der zerfledderten Seiten. Das gleiche Schicksal ereilte auch Reinfelds Buch 1001 Tactics.  (Das Zerfleddern von Büchern ist eine meiner vielen Sünden.)

Reinfeld und Irving Chernev waren meine Lehrer.

Fred Reinfeld | Quelle: Chess Hall of Fame

Als ich IM wurde, schrieb Paul Keres in einer Kolumne in Chess Life, der Weg, ein guter Spieler zu werden, würde damit beginnen, einen guten Lehrer zu haben. Er meinte, dies sei der Weg der jungen Talente von damals, und führte nannte Karpov, Tukmakov, Rogoff... und Soltis als Beispiele an. Ich musste lachen, als ich das las. Ich hatte nie einen richtigen Lehrer. Und nach dem, was ich gelesen habe, hatte Keres auch keinen.

Wie ging es Ihre Karriere weiter, nachdem Sie die Regeln gelernt hatten?

Sie ging nicht weiter. Sie hörte auf und fing wieder an. Nachdem ich die Regeln gelernt hatte, spielte ich mit einem Schulfreund, aber dann gab ich das Schachspielen für mehr als ein Jahr auf. Tatsächlich habe ich Schach im Alter von 12 bis 15 zwei oder drei Mal mehr oder weniger aufgegeben. Erst als ich Marshall Chess Club wurde, fing ich an, Schach ernst zu nehmen.

Im Nachhinein betrachtet, war mein später Start vielleicht gut. Wenn man heutzutage einen zehnjährigen Meister sieht, kann man nicht sagen, ob er Talent hat - oder ob er einfach schon mit fünf Jahren Unterricht bekommen hat. Viele sehr junge Meister scheinen schnell auszubrennen. Ich vermute, das einzig wahre Talent junger Spieler besteht in ihrer Fähigkeit, sich ständig zu verbessern.

Hatten Sie Vorbilder, Idole, Spieler, die Sie besonders beeindruckt und inspiriert haben?

Wie fast alle Anfänger durchlief ich eine Morphy-Phase, eine Capablanca-Phase, und so weiter. Wir alle haben damals eine Nimzovich-Phase durchgemacht. Die meisten von uns haben sich davon erholt. In meiner allerersten Turnierpartie spielte ich 1. e4 e6 2. d4 d5 3. e5 c5 4. Dg4!? und gewann. Mein Gegner war übrigens Paul Magriel, der später ein berühmter Backgammon- und Pokerspieler wurde.

Als ich die ersten Partien von Mikhail Tal sah, konnte ich nicht genug von Tal bekommen. Ich habe immer noch Ausgaben der obskuren Bücher, die von baltisch-amerikanischen Spielern geschrieben wurden, "Chess Psychologist Tal" und "The Unknown Tal". Ich spielte Tal-Eröffnungen, wie Najdorf, Königsindisch und Benoni. 1. d4 habe ich erst mit 1...d5 beantwortet, als ich schon zehn Jahre lang Turniere gespielt habe.

Sie wurden in Hazleton, Pennsylvania, geboren, sind aber in New York aufgewachsen. Wie hat das Ihre Schachkarriere beeinflusst?

Eine alte Formel lautete: Geografie=Chancen. Ich fand, dass dies auf die meisten großen Spieler der Sowjet-Ära zutraf: Es gab Spieler aus Moskau, Spieler aus Kiev, Spieler aus Leningrad und nur sehr wenige andere. In Großbritannien schien es nur Spieler aus London zu zu geben (bis Miles und Adams kamen). Und in Amerika gab es Spieler aus New York.

Wäre ich anderswo aufgewachsen, hätte ich nie ernsthaft mit Schach angefangen. Es war ein goldenes Zeitalter und der Marshall und der Manhattan Chess Club hatten beide eine große Zahl aktiver Mitglieder. Dienstags spielte ich im Marshall das wöchentliche Schnellschachturnier, und freitags ging ich zum Manhattan, um dort das Schnellschachturnier des Vereins zu spielen. So konnte ich jede Woche Erfahrungen gegen GMs und etliche Meister sammeln. Die Clubmeisterschaften waren oft die wichtigsten US-Turniere des Jahres. Junge Spieler konnten bei einer US-Meisterschaft als "Wall-Board-Boys" dienen. Stellen Sie sich vor, wie es war, ein paar Schritte von Fischers Brett entfernt zu stehen und seine Züge auf einem Demonstrationsbrett zu machen.

Wie sah die Schachszene in New York aus, als Sie Teil davon wurden?

Es ging um die Clubs, nicht um Turniere. Ein ernsthafter Spieler war jemand, der einem Club angehörte, und davon gab es viele außerhalb von Manhattan. Es gab sogar einen im Stadtteil Astoria in Queens, wo ich aufgewachsen bin. Die Metropolitan League war der wichtigste Wettbewerb des Jahres und endete fast immer mit einem Match zwischen dem Marshall und dem Manhattan. Die ersten Partien, die ich gegen Meister gespielt habe, habe ich in der Met League gespielt.

Langsam änderte sich die Definition eines ernsthaften Spielers: Das war jemand, der ein Rating hatte. Die Clubs waren praktisch gezwungen, alle paar Monate ein Open nach  Schweizer System abzuhalten. Der Marshall veranstaltete auch Turniere mit einer Partie pro Woche. Das erste Turnier, das ich gewann, war ein Dienstagsturnier für Spieler mit einem Rating von 1400 bis 1600. Ich wechselte dann zu einem Mittwochabendturnier für Spieler mit einem Rating von 1600 bis 1800. Diese Partien waren so wichtig für mich, dass ich, wenn ich mir die Notation einer Partie ansehe, die ich vor 50 Jahren gespielt habe, weiß, an welchem Brett im Marshall ich sie gespielt habe.

Sie sind 9 Mal Meister des Marshall Chess Clubs geworden. Können Sie uns etwas mehr über Ihre Beziehung zu diesem prestigeträchtigen Club erzählen?

Eines Tages im Jahr 1962 las ich einen Artikel in der New York Times. Larry Evans, der gerade US-Meister geworden war, gab ein Simultan mit Vortrag im Marshall. Das war in einer der Phasen, in denen ich mich auf die Schule konzentrierte und das Schach fast aufgegeben hatte. Aber ich beschloss, es noch einmal zu versuchen.

Ich fand das efeubewachsene Gebäude und ging zum ersten Mal im Leben die alte Treppe hinauf.

Der Eingang zum Marshall Chess Club, 23 West 10th Street, zwischen Fifth und Sixth Avenue in Greenwich Village, New York City | Foto: "Beyond My Ken, Wikipedia"

Oben angekommen, wurde ich von einer zierlichen, grauhaarigen Frau empfangen, die an einem Schreibtisch saß. Sie nahm meine 5 Dollar entgegen und sagte mir, an welchem Brett ich während des Simultans sitzen sollte. Aber ich war von Evans enttäuscht. Er erzählte, was für eine fantastische Partie er gegen Eliot Hearst gespielt hatte und wie er damit die US-Meisterschaft gewonnen hatte und wie großartig sein neuestes Buch war. Auch von der Simultanpartie war ich enttäuscht. Ich hatte Evans' f4-Läufer in einer Grünfeld-Verteidigung mit ...g5 gefangen, wurde dann aber schnell überspielt.

Das war mir peinlich. Alle anderen Partien waren noch im Gange. Ich wartete auf einen passenden Moment, um aufzugeben und mich heimlich aus dem Club zu schleichen, um nie wieder zurückzukehren. Aber als ich wieder oben auf der Treppe ankam, wartete die kleine alte Dame schon. Sie lächelte und schwindelte, wie gut ich gespielt hatte. Sie überreichte mir einen Antrag auf die Mitgliedschaft im Marshall. Ich weiß nicht, warum, aber ich unterschrieb ihn. Dieser Moment hat mein Leben verändert. Die Frau war Caroline Marshall.

Im Laufe der Jahre engagierte ich mich viel stärker im Marshall, zum Beispiel als Vizepräsident des Vereins. Das wurde schwierig, als ich bei der New York Post die Schicht von Mitternacht bis 8 Uhr morgens übernahm. Eines der wenigen Turniere, bei denen ich noch mitspielen konnte, war die Clubmeisterschafts des Marshalls, weil dort nur eine Runde pro Woche gespielt wurde.

2015 wurden die Meister des Marshall Chess Clubs im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung gewürdigt. In meiner Rede sagte ich, es sei einfach Glück gewesen, dass ich das Turnier neunmal gewinnen konnte. Maurice Ashley, der nach mir sprach, lachte. Glück, sagte er, sei es nicht gewesen, warum er 1993 die Clubmeisterschaft gewinnen konnte, und damit hatte er Recht.

1972 wurden Sie Internationaler Meister, 1980 Großmeister, und 1971 standen Sie auf Platz 74 der Weltrangliste, obwohl Sie nie Profi waren. Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt?

Oft. Aber nie ernsthaft. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass ich kurz nach meinem College-Abschluss einen guten Job als Reporter bei der New York Post bekommen habe. Es gab wenig Grund, diesen Job aufzugeben.

Andy Soltis 1981 | Foto: Marcy Soltis

Profis waren nicht sehr angesehen. Das einzige Mal, dass ich Arthur Bisguier wütend gesehen habe, war, als er sich daran erinnerte, wie er und seine Kollegen als "Schach-Penner" bezeichnet wurden. Er erzählte, dass er früher eine Anstecknadel trug, die er für ein gutes Abschneiden der amerikanischen Mannschaft bei einer Olympiade erhalten hatte. Aber als Fremde ihn fragten, behauptete er, er hätte sie bei einem internationalen Ringerturnier.

Ich hätte eine Schachkarriere in Betracht ziehen können, bevor ich bei der Post angestellt wurde. Aber mir fehlte die Zielstrebigkeit von Walter Browne. Walter war zwei Jahre jünger als ich und brach die Schule mit 16 ab, weil er wusste, dass er nie etwas anderes machen wollte als Schach zu spielen. Und Poker, was besser bezahlt war, vor allem nachts um 2 Uhr, sagte er. Ich hatte bis zu meinem 22. Lebensjahr keine konkrete Vorstellung davon, was ich machen wollte.

Als ich die erste Einladung zu einer US-Meisterschaft erhielt, musste ich ablehnen, weil ich nicht genug Urlaub dafür hatte. Das bedauerte ich natürlich. Aber ich spürte auch, dass ich mich um mindestens 100 Ratingpunkte verbessern musste, um auf internationalen Turnieren meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich war sicher, dass ich das schaffen könnte. Aber das würde zu einer Profikarriere führen, die wahrscheinlich nicht länger als 15 Jahre dauern würde. Das war mir die Mühe nicht wert.

Außerdem, welches Hobby würde ich mir dann als Profi suchen?

Sie haben mehrere Eröffnungsbücher geschrieben, und eine wichtige Variante im Drachen-Sizilianer ist nach Ihnen benannt. Wie intensiv haben Sie sich mit Schach beschäftigt, als Sie noch aktiv gespielt haben?

Bevor ich IM wurde, habe ich viele meiner Samstage und viele freie Stunden dem Schach gewidmet. Als ich zur Nachtschicht bei der Post wechselte, fand ich oft Zeit dafür, wenn nicht so viel zu tun war. Damals gab es noch keine Computer, und die Analyse neuer Eröffnungsideen dauerte länger. Aber wenn ich mir jetzt einige meiner Entdeckungen anschaue, die ich um 3 Uhr morgens gemacht habe, dann finde ich, sie sehen aus wie, nun ja, die Art von Ideen, die man oft um 3 Uhr morgens hat.

Eine besondere Erinnerung: Mein erster Auftrag für die Post, bei der ich die Stadt verlassen musste, bestand darin, als radikaler Student an einem Kongress der so genannten Weatherman-Fraktion teilzunehmen. Sie fand in Flint, Michigan, statt. Am Ende eines jeden Tages, nachdem ich meine Geschichte bei der Zeitung eingereicht hatte, verbrachte ich den Abend in meinem Hotelzimmer und analysierte ...h5 im Drachen. Als ich Flint verließ, hielt ich die Variante für zunehmend korrekt.

Ein paar Monate später haben fünf Mitglieder der Weatherman, die in Flint gewesen waren, in einer Wohnung in Manhattan, ganz in der Nähe des Marshall, eine Bombe zu bauen, um Terrorakte zu begehen. Die Bombe explodierte versehentlich und tötete zwei von ihnen, darunter jemanden, mit dem ich auf der Highschool war. Ich sah die Trümmer drei Tage später, als ich für meine Partie in der Vereinsmeisterschaft gespielt habe. Wenn das ganze Dynamit explodiert wäre, hätte es den ganzen Stadtteil zerstört, einschließlich des Marshall.

 Wenn Sie auf Ihre Schachkarriere zurückblicken - was waren Ihre größten Erfolge?

Ich könnte scherzhaft behaupten, dass ich ein Weltmeister bin: Ich war Mitglied der amerikanischen Mannschaft, die bei der Studentenweltmeisterschaft 1970 in Haifa die Goldmedaille gewonnen hat. Und ich kann behaupten, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der mit Bobby Fischer Schach gespielt und Donald Trump interviewt hat. Natürlich wäre es eine größere Leistung, zu sagen, dass ich Bobby interviewt und mit Trump Schach gespielt habe. Aber ...

Und welche Partien waren besonders wichtig oder gut?

Nach denen suche ich gerade, weil ich meine Memoiren schreiben möchte. Das Problem ist jedoch, dass die verdammten Engines immer wieder die Partien verderben, die ich für brillant hielt. Aber vielleicht kann man zwei meiner Partien gegen Karl Heinz Maeder immer noch veröffentlichen.

 
 

Im Laufe Ihrer Karriere als Schachspieler und Autor haben Sie viele prominente Menschen getroffen. Gibt es irgendwelche Erinnerungen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Ich erinnere mich noch besonders gut an eine Blitzpartie gegen Fischer: Der Manhattan Chess Club hatte nie ein festes Vereinshaus, und als er 1971 wieder einmal umzog, schlug Fischer vor, das mit einem Blitzturnier zu feiern. Ich wurde eingeladen und spielte in der ersten Runde gegen ihn. Ich kam mit einer schlechten Stellung aus der Eröffnung und fragte mich, wie ich eine Demütigung vermeiden kann. Aber er übersah einen taktischen Trick und ich gewann die Dame für einen Turm. Aber ich wusste, dass ich trotzdem verlieren würde. Fischer hatte eine Aura, die mich überwältigte. Ich brauchte länger und länger, um einfache Züge zu machen. Mit nur noch Sekunden auf der Uhr - damals gab es noch kein Inkrement - fing ich an, illegale Züge zu machen.

Das war mehr als demütigend: Dutzende von Fans sahen zu, wie ich unmögliche Züge machte und verlor. Ich gab auf, als er kurz davor stand, einen Bauern zu schlagen. Die zweite Partie verlor ich, weil ich eine neue Eröffnung spielte, die ich nicht verstand, den Sveshnikov-Sizilianer. Aber ich wurde Zweiter in diesem Turnier, dem seit Jahrzehnten stärksten Schnellschachturnier in den USA. Die New York Times brachte am nächsten Tag eine lange Geschichte mit einem Foto von Bobby und mir. Im Hintergrund sieht man einige der wichtigsten Figuren des New Yorker Schachs, Hans Kmoch, Jack Collins, Walter Goldwater, Burt Hochberg und andere.

Bobby Fischer (links) spielt im Manhattan Chess Club 1971 Blitz gegen Andy Soltis (rechts) | Foto: Larry Morris/ NY Times

Seltsamerweise habe ich nur vage Erinnerungen an einen Sieg gegen Samuel Reshevsky in einem Blitzturnier und eine Niederlage gegen Viktor Korchnoi in einem anderen. Aber ich werde nie vergessen, auf welch seltsame Weise ich Turnierpartien gegen Bent Larsen und Svetozar Gligoric gewann. Als ich in einem Open in New York gegen Larsen spielte, sah ich, dass ich eine Figur gewinnen würde, aber verstand nicht, warum er mir plötzlich zunickte, das Partieformular unterschrieb, aufstand und wegging. Er hatte aufgegeben.

 

Nach 28.Sc2 Se8 geht der Läufer auf a5 verloren, und nach 28.Lxc7 gewinnt Schwarz mit 28...bxa3.

Gegen Gligoric hatte ich auch einmal eine Figur mehr, aber wusste nicht so Recht, was ich damit anfangen sollte. Das war in der Zeit, als es noch Hängepartien gab. Vor Wiederaufnahme der Partie habe ich mir die Stellung lange angeschaut. Dann hörte ich plötzlich, wie jemand hinter mir fragte, "Was passiert, wenn man mit dem König zurückgeht?" Ich drehte mich um und es war Pal Benko. Er machte Vorschläge, wie ich das drohende Dauerschach vermeiden konnte. Es schien, als wäre es ihm viel wichtiger als mir, Gligoric zu schlagen.

 

Sie sind dann nicht Schachprofi, sondern Autor und Journalist geworden. Wann und wie haben Sie Ihre Leidenschaft und Ihr Talent für das Schreiben entdeckt?

Das begann, als Ed Edmondson mich eines Tages anrief und fragte: "Hast du eine Schreibmaschine?" Ed hatte sich eine Stelle als Geschäftsführer des US-Schachverbandes geschaffen und suchte nach Wegen, um das chronische Haushaltsdefizit des USCF zu schließen. Er stellte, dass viele Amerikaner, die zu Turnieren ins Ausland fuhren, mit Bulletins nach Hause kamen, die sie dann in Schränken verstauten oder wegwarfen. Ed erkannte, dass die Partieformulare wertvoll waren. Unkommentierte Meisterpartien wurden schließlich zum Grundnahrungsmittel, das Publikationen wie Players Chess News und Inside Chess am Leben hielt.

Edmondson fragte mich, ob ich die Bulletins eines Turniers, Netanya 1969, das gerade zu Ende gegangen war, ins Reine tippen könnte. Nur wenige Amerikaner hatten damals tragbare Schreibmaschine. Aber ich hatte eine. (Das war das letzte Mal, dass ich technologisch nicht hinterherhinkte.)

Nachdem ich die Bulletins abgetippt hatte, ließ Ed die Seiten fotokopieren und zu einer Broschüre binden, die er über Chess Life verkaufte. Dann fragte er mich, ob ich noch andere Ideen für Bücher hätte. Ich erzählte ihm, dass ich an einer Sammlung der besten Partien von Boris Spassky arbeiten würde. Zu meiner Überraschung meinte Ed daraufhin, der USCF würde diese Sammlung veröffentlichen. Damals hatte Spassky gerade seinen WM-Kampf gegen Petrosian gewonnen.

Aber kurze Zeit später fing meine Probezeit als Post-Reporter an. Ich bestand den Test - auch weil ich eine Geschichte über Schachzocker schrieb, in der Asa Hoffmann vorkam. Ich hatte nie damit gerechnet, ein weiteres Buch zu schreiben. Dann leitete Edmondson einen Brief von Irving Chernev an mich weiter. Er schrieb, dass ihm mein Buch gefallen hätte, und gespannt sein, was ich über Capablanca und Lasker schreiben könnte.

Wenn Carrie Marshall Sie ermutigt, Schach ernst zu nehmen, und Irving Chernev Sie auffordert, darüber zu schreiben, wie können Sie da Nein sagen?

Gibt es Autoren, die Sie besonders bewundern und die Sie inspiriert haben?

Chernev, natürlich. Ich konnte mir nicht erklären, wie er seinen Lebensunterhalt mit Schachbüchern bestreiten konnte, bis ich begriff, dass dies nur sein Hobby war..

Irving Chernev | Fotoquelle: Chess Hall of Fame

Eine Zeitlang habe ich gedacht, die Texte von Reuben Fine seien ausgezeichnet - bis ich Kontakt zu ihm hatte. Er wollte, dass ich "Practical Chess Openings" für ihn umschreibe, für wenig Geld und ohne Nennung meines Namens. Außerdem wurde ich von seinem Verleger gebeten, Fines Manuskript über das Match Fischer-Spassky 1972 zu beurteilen, bevor es erschien. Es war furchtbar.

Ehrlich gesagt fand ich die meisten Schachtexte ziemlich schlecht. Großmeister lügen routiniert darüber, was sie während einer Partie gesehen haben. Heute ist es noch schlimmer, weil sie mit Computern analysieren und behaupten können, sie hätten die Varianten gesehen.

Ich respektiere Reinfeld immer noch, auch wenn ich zugebe, dass er zu viel geschrieben hat. Das habe ich auch getan. Aber ich habe meine Eröffnungspamphlete nicht wegen des Geldes geschrieben. Ich habe es getan, weil ich meine Fähigkeiten als schneller Schreiber und mein gutes Gespür für die Bedürfnisse der Leser nutzen konnte.

Sie sind ein äußerst produktiver Autor. Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Bücher und Artikel?

Immer, wenn ich ein größeres Buchprojekt abgeschlossen habe, mache ich eine Pause. Ich schaue meine Sammlung alter Zeitschriften, Internetausdrucke und Bücher durch. Das hilft mir, mich daran zu erinnern, was bereits geschrieben wurde, von mir oder jemand anderem. Einer meiner Leitsätze beim Schreiben lautet: Wiederhole dich nicht.

Es wird immer schwieriger, dieses Motto zu befolgen. Im kommenden September schreibe ich seit 50 Jahren eine wöchentliche Kolumne für die New York Post. Ich weiß nicht, ob es in Amerika jemanden gibt, der so lange eine Zeitungskolumne schreibt, egal zu welchem Thema.

Meine Chess Life-Kolumne erscheint nun schon seit 44 Jahren. Wenn ich auf eine Idee stoße, die mir originell und geeignet für einen Artikel in einer Zeitschrift erscheint, lege ich eine Computerdatei dazu an. Einige meiner Ideen zu Büchern oder Artikeln befinden sich seit mehr als zehn Jahren auf meinem Computer. Ich füge eine Datei hinzu, wenn ich ein Spiel, ein Zitat oder etwas sehe, das mir interessant erscheint. Wenn ich genug Material habe, schreibt sich eine Kolumne fast von selbst.

1999 veröffentlichten Sie "Soviet Chess 1917-1991", ein bahnbrechendes und gut recherchiertes Buch über die Geschichte und die Entwicklung des Schachs in der Sowjetunion. 2014 folgte eine Biografie über Mikhail Botvinnik, die von den Chess Journalists of America und dem englischen Schachverband zum Buch des Jahres gekürt wurde, und 2018 veröffentlichten Sie eine Multibiografie über Tal, Petrosian, Spassky und Korchnoi. Drei Jahre später folgte eine weitere Multibiografie, dieses Mal über Smyslov, Bronstein, Geller, Taimanov und Averbakh. Alle vier Bücher sind gut recherchiert und haben eine Menge bisher unbekannter Fakten über das sowjetische Schach und die sowjetischen Spieler ans Licht gebracht. Wann haben Sie sich für das sowjetische Schach interessiert und wie haben Sie das Material für diese Bücher recherchiert?

Alles begann wenig überraschend mit Tal. Ich wollte so viel wie möglich über ihn erfahren. Paul Magriel, mein erster Gegner in einer Turnierpartie, zeigte mir den Buchladen "Four Continents" in Manhattan. Er hatte nichts mit der schummrigen Höhle der Subversiven zu tun, die in dem Film "Pawn Structure" gezeigt wird. Bald ging ich alle paar Wochen zum "Four Continents", um die neuesten Ausgaben des "Shakhmatny Bulletin" und "Shakhmaty v SSSR" für 25 Cent zu kaufen. Dann kaufte ich alle Bücher, die auf Russisch herauskamen. Das half mir, den aussichtslosen Kampf aufzugeben, fließend Spanisch zu sprechen. In der 12. Klasse wechselte ich zu Russisch. Das war die zweitbeste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. (Meine Frau Marcy zu heiraten war die beste. Mit Abstand.)

Ein entscheidender Moment war für mich ein Nachmittag während des GMA-Turniers 1989 in Moskau, nachdem ich meine Partie beendet hatte. Ein Freund der sowjetischen Regierung aus New York stellte mich Tal vor. Endlich würde ich meinen Helden treffen. Aber auf seinen  Händedruck war ich nicht vorbereitet: Wie hätte ich wissen können, dass ihm an einer Hand Finger fehlten?

Mikhail Tal | Foto: Dutch National Archive

Mir fiel auf, dass das Leben der großen sowjetischen Spieler viele Geheimnisse birgt. Schließlich entdeckte ich russischsprachige Websites. Ich war erstaunt über die biografischen Details, die ich fand. Tal hatte eine Liebesbeziehung mit einer KGB-Agenten gehabt? Tigran Petrosian war ein begeisterter John Belushi-Fan und sah sich regelmäßig "The Blues Brothers" an? Die Erfahrungen von David Bronstein, Juri Averbach und Korchnoi im Zweiten Weltkrieg waren erschreckend, aber auch faszinierend. Die sowjetischen Bücher waren die anstrengendsten Projekte, die ich je in Angriff genommen habe. Sie verkaufen sich nicht annähernd so gut wie Lehrbücher - deutlich weniger "Pawn Structure Chess". Aber kein Buch habe ich so gerne geschrieben wie diese

2003 haben Sie "Los Voraces" veröffentlicht, eine fiktive, heitere Parodie auf ein Turnierbuch, das zugleich eine Parodie auf "hard-boiled" Krimis ist. Haben Sie je versucht, weitere Romane zu schreiben?

Ich hatte für meine Chess Life-Kolumne zwei Sherlock-Holmes-Geschichten geschrieben, wollte dann aber etwas Ehrgeizigeres versuchen. Ich hatte "Los Voraces 2019" im Kopf, seit ich in Lone Pine gespielt und gesehen hatte, wie einsam die Stadt lag. Ich fragte mich, ob ich einen Roman schreiben könnte, in dem die besten Spieler der Welt einer nach dem anderen ermordet wird.

Es hatte schon vorher Schachromane gegeben, aber nicht mit tatsächlichen Schachpartien, Diagrammen und Turniertabellen. Ich überzeugte Hanon Russell, den Roman auf Chess Café zu veröffentlichen. Ich habe versucht, dem Vorbild von Dickens zu folgen und ein Kapitel pro Monat zu schreiben. Ich hatte nur eine vage Vorstellung vom Ende der Erzählung, als ich 2001 begann, aber als die Geschichte zu Ende war, gefiel sie Robert Franklin von McFarland & Company und er veröffentlichte das Buch als Softcover. Er nannte es scherzhaft "Ten Little King's Indians". Wenn Sie diesen Titel nicht verstehen, dann googeln sie "Agatha Christie".

Ich hatte gehofft, einen weiteren Roman für Hanon schreiben zu können, in dem es um den Ursprung der modernen Schachregeln geht. Er sollte in Florenz in den 1490er Jahren spielen. Es gibt eine Fülle von möglichen Figuren, mit denen man arbeiten kann: Lorenzo de Medici, Machiavelli, Pico della Mirandola, der schachhassende Savonarola und so weiter. Aber ich konnte mir die Hauptfigur, den "Mann, der das Schachspiel erfunden hat", nicht ausdenken. Also habe ich das Projekt auf Eis gelegt. Vielleicht nehme ich eines Tages einen neuen Anlauf...

Sie waren Redakteur bei der New York Post und sind seit 2014 im Ruhestand. Aber Sie schreiben weiterhin Schachbücher, und vor kurzem haben Sie Bücher über Magnus Carlsen und Fabiano Caruana veröffentlicht. Was denken Sie über Carlsen und Caruana als Spieler, und was denken Sie über das moderne Schach und die neue Generation von Schachspielern?

Mich hat erstaunt, wie beide diesem alten Spiel neuen Schwung verliehen haben. Jeder Weltmeister findet eine Möglichkeit, die Antithese seines unmittelbaren Vorgängers zu sein. Ob mit Absicht oder nicht, Carlsen ist der Anti-Kasparov.

Magnus Carlsen | Foto: Lennart Ootes

Seine Partien zeigen uns, dass Schach nicht nur aus Rechenarbeit und schon gar nicht nur aus Eröffnungsvorbereitung besteht. Ich frage mich, ob irgendein anderer Spieler in der Geschichte des Schachs, Carlsens Gespür dafür hatte, sofort den richtigen Zug zu finden. Vielleicht Capablanca oder Anand. Aber die größten Spieler in der Geschichte des Schachs sind diejenigen, die die Art und Weise, wie wir spielen, verändern. Morphy hat das getan, Lasker, Capa, Botvinnik, Bobby, und jetzt auch Carlsen.

Caruana faszinierte mich zunächst wegen seiner bemerkenswerten Lebensgeschichte: "The Streak", dem Bieterkrieg, damit er für Amerika spielt und sein erstaunliches Match gegen Carlsen. Und als ich mir seine Partien genauer angeschaut habe, war ich überrascht.

Fabiano Caruana | Foto: Lennart Ootes

Er konnte im fünften Zug eine Neuerung bringen, im zehnten Zug Gambits und neue strategische Konzepte einführen. Besonders beeindruckt war ich von der Art und Weise, wie er die Steinitz-Lasker-Theorie der Verteidigung auf den Kopf stellte, als er 2016 Nakamuras und 2017 Anands Berliner Verteidigung schlug. Ich halte "Fabiano Caruana, 60 Memorable Games" für besser als mein bestes Carlsen-Buch.

Andy Soltis' Buch über Fabiano Caruana

Schach spielen, über Schach schreiben und als Journalist arbeiten - bleibt da noch Zeit für andere Hobbys und Interessen?

Viel. Marcy und ich reisen gerne. Wir haben in Australien mit Koalas gespielt, sind in Dubrovnik auf der Stadtmauer spazieren gegangen, haben in China die Große Mauer bestiegen, sind in Bali auf einem Elefanten und in Marrakesch auf einem Kamel geritten, haben den Nachtzoo in Singapur erkundet und in Rio auf dem Zuckerhut und dem Corcovado meine Schwindelfreiheit getestet. Früher fragten uns Freunde nach unseren Reisen zum Taj Mahal, zum Kreml oder zur Teufelsinsel. Jetzt wollen sie wissen, wie es war, durch Wuhan und Odessa zu laufen.

Vielen Dank für das Interview und alles Gute zum Jubiläum!


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".