Ansichtskarte aus Singapur
Von Ian Rogers, Fotos Cathy Rogers
Auszug aus Schachmagazin 64 9/2007
Jahrzehntelang galt Singapur als Armenhaus der Schachwelt
Südostasiens, was möglicherweise damit zusammenhing, dass viel versprechende
Talente des reichen, prosperierenden Stadtstaats sich vom Spiel abwendeten und
ihr Glück eher in einem „richtigen“ Job suchten.
Der namhafteste Spieler Singapurs, der mit den größten Titelaussichten, war
Leslie Leow. In den siebziger Jahren konnte er locker mit den besten Junioren
mithalten. Auf familiären wie gesellschaftlichen Druck hin ging Leow in die
USA, wo er sein Studium mit dem Erreichen des MBA abschloss. (Master of
Business Administration, ein akademischer Grad. Ein MBA-Studium richtet sich
vor allem an Ingenieure, Natur- und Geisteswissenschaftler, Juristen und
Mediziner, die ihr Einsatzspektrum um Managementpositionen erweitern wollen
und eine Alternative zu einem betriebswirtschaftlichen Aufbaustudium suchen.
Es können sich jedoch auch Wirtschaftswissenschaftler durch ein MBA-Studium
spezialisieren [Nach
http://de.wikipedia.org/wiki/Master_ of_Business_Administration].)
Schach nahm zwar nur noch einen untergeordneten Rang ein, trotzdem erreichte
Leow eine beachtliche IM-Stärke: „Elo 2500 waren durchaus drin, vielleicht
hätten es sogar 2600 werden können“, wunderte er sich selbst. Und das in den
vorinflationären Zeiten, vor zwanzig Jahren, wo diese Zahlen einer heutigen
Wertung von 2600 und 2700 entsprachen.
Ein Spieler Singapurs, Wong Meng Kong, schaffte es sogar, den GM-Titel zu
erlangen, obwohl er ganztags als Mediziner arbeitete. Allerdings galt sein
Titel eher als „schwach“, da eine der GM-Normen in einem dubiosen
Scheveninger-Turnier erreicht wurde, bei dem ein Team von Internationalen
Meistern gegen ein Team aus Burma spielte, dessen Spieler alle als gewaltig
überbewertet einzuschätzen waren. Zu jener Zeit brachte Burma plötzlich mehr
als fünzig Spieler mit 2500 und mehr Elo hervor, was auf eine Manipulation der
FIDE Wertungsregeln für Spieler ohne Elozahl zurückzuführen war. Es
überraschte damals niemanden, dass bei dem Turnier fünf GM-Normen erreicht
wurden…
Aber einer hat über die letzten drei Jahrzehnte seinen Glauben an Schach in
Singapur niemals verloren, Ignatius Leong. Leong, selbst ein eher
mittelmäßiger Spieler, war seit den siebziger Jahren nicht nur Singapurs
erster Veranstalter, er versuchte sich ebenso als Organisator, Schiedsrichter
und Herausgeber einer Zeitschrift und über zwei Jahrzehnte sah es so aus, als
wären sein Einsatz und die Bemühungen einer Handvoll Mitstreiter, das Ansehen
des Schachs in der 4,5 Millionen zählenden Metropole zu heben, zum Scheitern
verurteilt. Die Wende zeichnete sich vor etwa zehn Jahren ab, als Leong
gemeinsam mit einigen chinesischen Schachfunktionären offizielle Stellen davon
überzeugen konnte, ein Zentrum für Brettspiele zu errichten. Die Singapurer
Regierung – die von den einen als „wohlwollende Diktatur“, von anderen als
„kapitalistische Version des Kommunismus“ beschrieben wird – gab dem Vorschlag
nach und so wurde eine Etage des Gebäudes dem internationalen Schach
zugeteilt.
Leong startete dann mit einem Trainingsprogramm für Kinder und Jugendliche,
warb starke Trainer aus Asien und Europa an und bot neben Unterrichtseinheiten
im Schachzentrum auch Kurse in den Schulen an. Nachdem das Trainergeschäft gut
florierte, war Leong in der Lage, mit seiner ASEAN (Association of South-East
Asian Nations) Schachakademie in mehr Platz bietende Räumlichkeiten
umzuziehen, und zwar nach Beach Road, eine weitläufige Anlage. Die
Örtlichkeiten erlauben, den Raum mit Raumteilern in 20 separate Klassenzimmer
oder in einen großen Spielsaal zu verwandeln.
Wenn die ASEAN Schachakademie auch nicht mit der Ausstattung der besten
Schachclubs der Welt mithalten kann, macht sie das durch ihre schiere Größe
wett – wahrscheinlich ist sie das größte Schachzentrum weltweit.
Mit der Ausrichtung der Jugendschacholympiade 2007 nahm Singapur im August die
Gelegenheit wahr, die neuen Räumlichkeiten der Schachwelt zu präsentieren. Die
Jugend- (oder Kinder-) Olympiade – ein U16-Turnier – wurde vor dreißig Jahren
aus der Taufe gehoben, und im Jahr 1999 wiederbelebt, seither erfreut sich die
Veranstaltung wachsender Beliebtheit. Wenn das Jugendtreffen in Singapur auch
nicht ganz unproblematisch über die Bühne ging – vor allem der späte Ausstieg
des topgesetzten Teams aus der Ukraine, das bei der Olympiade in Kuala Lumpur
2002 noch mit Sergej Karjakin und Katerina Lahno an Brett drei und vier die
Silbermedaille geholt hatte, stieß unangenehm auf –, gab es doch auch viel
Erfreuliches.
Die Ungarn waren mit einem Team angetreten, das einen Durchschnitt von mehr
als 2400 Elopunkten aufwies und als Favorit galt. Die 34 teilnehmenden
Mannschaften kamen aus 23 Ländern. Afrika wurde von einem einzigen, dafür aber
konkurrenzfähigen Team aus Sambia repräsentiert, das seine Chancen steigerte,
indem es den schwächsten Spieler – den Sohn des Präsidenten des Schachverbands
– an Brett eins setzte. Die Philippinen brachten gar einen 2506-Spieler an
Brett 1, Wesley So, der sich schon Großmeisterskalps wie beispielsweise meinen
an den Gürtel heften konnte, und da der Rest des Teams aus zwar noch nicht in
der Eloliste geführten, gleichwohl talentierten Spielern bestand, stellten die
Philippinen die gefährlichste Mannschaft in der unteren Hälfte des
Teilnehmerfelds. Korea, das erst seit wenigen Jahren überhaupt Mitglied der
FIDE ist, stellte überraschend zwei Mannschaften und Australien gelang es,
sein zweites Team als reines Frauenteam ins Rennen zu schicken, das immer
hin so stark war, dass es das zweite US-Team in der Schlussrunde besiegte.
Die Spielbedingungen waren ausgezeichnet,
ausgezeichnet, abgesehen von der Bullenhitze. Singapur liegt
weniger als hundert Kilometer nördlich des Äquators, das heißt, dass
Temperaturen um die dreißig Grad an der Tagesordnung sind, was an sich kein
Thema wäre, wäre da nicht auch die hohe Luftfeuchtigkeit, und zwar jeden Tag
des Jahres. Die ASEAN Schachakademie hat keine Klimaanlage und die wenigen,
strategisch rund um die Halle platzierten Ventilatoren waren hoffnungslos
überfordert damit, die Umgebung etwas abzukühlen. Allerdings schienen vor
allem die Erwachsenen unter den Verhältnissen zu leiden, die jungen Spieler
ließen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Ungewöhnlich für ein
Jugendturnier war, dass Eltern und Trainer nicht aus dem Spielsaal verbannt
wurden, trotzdem kam es zu keinen unschönen Szenen oder auch nur zu
Verdächtigungen [Anm. der Red.: des unerlaubten Coachens]. Bei so vielen un-
bzw. unterbewerteten starken Spielern in einem Turnier war zu erwarten, dass
es zu überraschenden Ergebnissen kommen würde und so kristallisierte sich auch
erst mit der 0,5:3,5-Niederlage der Ungarn gegen die Inder ein klarer Favorit
heraus.
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SCHACH MAGAZIN 64 – 09|2007