Großmeister Igor Ivanov
von John Donaldson
Igor Ivanov als Kind beim Schachspiel
Igor
Ivanov wurde am 8. Januar 1947 in St Petersburg (ehemals Leningrad) geboren. Als
er fünf Jahre alt war, brachte ihm seine Mutter das Schachspielen bei, und es
dauerte nicht lang, bis er gegen sie gewinnen konnte. Igors erstes Buch war ein
Schachbuch, und schon in sehr jungen Jahren konnte er seine Partien im
Gedächtnis behalten. Mit acht Jahren war Igor ein
ausgebildeter Spieler, der täglich in den Schachpalast kam, wo er als eins der
viel versprechendsten jungen Talente galt – wobei dieses Potenzial eine Weile
ruhen sollte. Igors Mutter wollte, dass er Konzertpianist wird, und bat ihren
Sohn, weniger Schach zu spielen und seine musikalischen Talente stärker zu
betonen.
Aber als sie starb, als er 14 war und ihn
als Waise zurückließ, da begann er wieder Schach zu spielen. Sein musikalisches
Talent (Klavier und Cello) verhalf ihm zu Vergünstigungen und einem eigenen
Zimmer im Waisenhaus, aber seine Liebe zum Schach war größer. Mit 18 schrieb er
sich an der Leningrader Universität ein, um Mathematik zu studieren, aber bald
gab er das Studium der Mathematik auf, um eine Karriere als Berufsschachspieler
einzuschlagen.
Igor Ivanov beim Spiel in der Sowjetunion in den 70ern
Malevinsky und Sturua im Vordergrund; Ivanov dahinter
Anfangs arbeitete Igor als Leiter eines
Armeeschachclubs in Leningrad. Die Arbeit war angenehm, aber ließ ihm nicht viel
Zeit, um Schach zu spielen, weshalb er schnell einschlug, als ihm eine Stellung
als Berufsspieler in Tadschikistan angeboten wurde. Dort blieb Igor nur ein Jahr
und zog dann nach Usbekistan, wo er die Republik am ersten Brett in der jährlich
ausgetragenen Spartakiade vertrat. In einem solchen Wettbewerb zog er 1979 durch
einen Sieg über den amtierenden Weltmeister Anatoli Karpov erstmals die
Aufmerksamkeit der ganzen Schachwelt auf sich.
Sowjetische Spieler hatten von Igor schon
Jahre zuvor gehört, vor allem 1978 und 1979. Igor spielte im gesamten
sowjetischen Imperium und gewann nicht nur einige wichtige Turniere, sondern
gewann sie darüber hinaus so überlegen, dass man einfach auf ihn aufmerksam
werden musste: 1. Platz im Zaitsev Gedenkturnier in Wladiwostok 1978, 1. Platz
in Yaroslavl 1979 und wieder Erster beim Tashli Tailiev Gedenkturnier in
Ashkhabad, Ende 1979. In diesem Turnier erzielte er ein Ergebnis von 12 Punkten
aus 13 (!) Partien, drei Punkte mehr als der Zweitplatzierte Kakageldyev. Leider
sind nur wenige Partien aus diesen Turnier erhalten geblieben. Man findet ein
paar hier und dort in Shakhmaty Bulletin, Shakhmaty Riga, Shakhmaty v SSR und
weniger bekannten sowjetischen Schachzeitschriften, aber nie komplette Bulletins
der ganzen Turniere, deren Partieaufzeichnungen wahrscheinlich vor langer Zeit
verloren gingen. Igor selbst war in Bezug auf Aufzeichnungen nie besonders gut
und so vermitteln die Partien aus Wladiwostok und dem Halbfinale der
UdSSR-Meisterschaft 1978 in Daugavpils (=1. mit Kasparov) in der Partiendatei
nur einen Geschmack der Zeit, in der Igor sein Spiel als "furchtlos ohne Gefühl
für Sicherheit" beschrieben hat.
Der
Sieg über Karpov brachte Igor seine erste Reise ins Ausland, um am Capablanca
Gedenkturnier 1980 in Kuba teilzunehmen. Auf dem Rückweg in die Sowjetunion gab
es einen Zwischenstopp zum Auftanken in Gander, in Neufundland, wo Igor die
kanadische Regierung um politisches Asyl bat, was ihm auch gewährt wurde. Dieser
Zug führte, wie nicht anders zu erwarten, zu tiefgreifenden Veränderungen in
Igors Leben. Ein Mehr an persönlicher Freiheit stand fehlender finanzieller
Sicherheit gegenüber. Als Berufsschachspieler in der Sowjetunion ging es Igor
ziemlich gut, aber eine solche Beschäftigung gab es damals in Nordamerika, vor
allem in Kanada, 1980 kaum. Außerdem musste sich Igor als Schachspieler
anpassen. In Wochenendturnieren nach Schweizer System mit zwei oder drei Partien
pro Tag zu spielen ist nicht ganz das gleiche wie ein Rundenturnier mit 16
Spielern, das über drei Wochen geht. Ebenso wenig wie fast immer ein
Hundert-Prozent-Ergebnis erzielen zu müssen, um einen Preis zu gewinnen.
Igor ließ sich in Montreal nieder und lernte
schnell Französisch und Englisch. Er und Kevin Spraggett, der enorm schnell
besser wurde, dominierten das kanadische Schach in der nächsten Dekade. Igor
gewann die Geschlossene Meisterschaft seines neuen Heimatlands in vier von fünf
Anläufen, die er zwischen 1981 und 1987 unternahm. 1985 belegte er sowohl im
Canadian Open als auch bei den Geschlossenen Kanadischen Meisterschaften in
Edmonton, Alberta, den geteilten ersten Platz, wobei er seine Partien
gleichzeitig spielte! Igor spielte für Kanada 1984 und 1988 bei der
Schacholympiade und vertrat die Nation 1982 beim Interzonenturnier in Toluca,
Mexiko. Dieses Turnier brach Igor das Herz, obwohl er es damals noch nicht
wusste. Mit einem Ergebnis von 7,5 aus 13 war er nach Tie-Break Vierter, aber
die GM-Norm – die im Interzonenturnier für einen Titel gereicht hätte – waren
7,8 Punkte. So wie Igor gespielt hat, dachte er wahrscheinlich, der GM-Titel
würde an der nächsten Ecke bereits auf ihn warten, aber tatsächlich sollte es
noch 24 Jahre dauern, bevor er Großmeister wurde. Unwillkürlich fragt man sich,
wie dieser Titel sein Leben mit mehr Einladungen und besseren Konditionen hätte
leichter machen können.
Kanada ist ein sehr schönes Land und eins,
das eine Reihe guter Schachspieler hervorgebracht hat (Yanofsky, Suttles,
Biyiasas, Spraggett, Lesiege, Charbonneau und Bluvstein), aber es ist kein viel
versprechender Ort für einen Berufsschachspieler. Es ist kein Zufall, dass der
ehemalige Teilnehmer am Kandidatenturnier Kevin Spraggett in Europa lebt und
Igor in die Vereinigten Staaten zog. In den USA wartet auf Berufsschachspieler
kein Kessel voller Gold, aber wenn man bereit ist, zu reisen, dann gibt es
irgendwo immer ein Turnier mit einem Preis von $300 oder mehr für den ersten
Platz. Schachspieler aus der ganzen Welt kennen das World Open und das National
Open, große Turniere mit oft über 1.000 Teilnehmern und fünfstelligen Beträgen
für den Gewinner des ersten Preises. Solche Turniere gibt es allerdings nur
vereinzelt und der Wettbewerb dort ist so hart, dass niemand sicher sein kann,
zu gewinnen. Um als Berufsspieler in Nordamerika vom Spielen allein zu leben,
muss man kleinere Turniere finden, wo die Chancen zu gewinnen, ziemlich hoch
sind. Igor schlug diesen Weg in den 80ern entschlossen ein und bis 1997 hatte er
9 der US Chess Federation's Grand Prix Serien gewonnen. Bei diesem jährlichen
Wettbewerb, bei dem jedem Turnier Punkte auf der Basis der Höhe des Preisgeldes
verliehen werden, ($300 können z.B. sechs Punkte bedeuten), erreichte Igor in
einem Jahr einmal beinahe 500 Punkte. Das deutet nicht auf viele freie
Wochenenden hin! Am Ende des Jahres musste Igor oft lange Reisen unternehmen, um
an kleinen Turnieren teilzunehmen, und seinen Sieg im Grand Prix zu sichern.
Einmal fuhr er in weniger als einer Woche mit dem Bus von Los Angeles nach
Atlanta und zurück (insgesamt beinahe 6.000 Meilen oder 10.000 Kilometer)!
North Bay 1994 International Open: (von links nach rechts Boris Spassky
(Ehrengast), Igor Ivanov, Jonathan Berry - Turnierdirektor, Deen Hergott,
Derrick Bessette – Ko-Organisator des Turniers, Ron Smith, Eduard Rozentalis und
Alexey Shirov.
Ende der 90er begann Igor weniger zu spielen
und konzentrierte sich stärker darauf zu unterrichten. In der Vergangenheit
hatte er als Sekundant von Viktor Kortschnoj bei der Weltmeisterschaft 1981
gearbeitet, aber seine größten Erfolge feierte er an der Shelby School in
Arizona, der er als Trainer zu zwei Nationalen Meisterschaften verhalf. Vor
kurzem zog Igor erst nach Central und dann nach St. George, Utah. Er ist
Grandmaster-in-Residence (er erhielt den GM-Titel 2005 für Normen, die er in den
frühen 90ern erzielt hatte, aber von denen er nichts wusste) an der St. George
Chess School und lebte in den Bergen von Süd-Utah mit seiner Frau Elizabeth,
einer Lehrerin im Ruhestand. Er unterrichtete Schach, veranstaltete jeden Sommer
ein Schachlager, gab Klavierabende im St. George Stift, kümmerte sich um
Petruska und Sasha (zwei sehr verwöhnte Katzen) und war ein leidenschaftlicher
Gärtner und Leser. Igor war bei vielen Schachspielern sehr beliebt, die seinen
ausgezeichneten Sinn für Humor, seine Tierliebe und seine Lebensfreude
schätzten.
Igor Ivanov beim
2005 National Open
im Juni 2005
Am 17. November starb Igor Ivanov im Alter
von 58 Jahren in St.George.
Der Autor dieser Zeilen ist zuversichtlich,
dass Igor und seine Partien bei vielen Schachfreunden noch lange Zeit im
Gedächtnis bleiben werden.