Im Schatten des Königs

von André Schulz
08.07.2022 – Beim Kandidatenturnier war einige Unsicherheit spürbar. Das politische Klima in Weißrussland und Russland und der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Arbeit schwieriger gemacht. Zudem spielt Weltmeister Magnus Carlsen sein eigenes Spiel - auf unfaire Art, meint Ulrich Stock in seinem Abschlussartikel zum Kandidatenturnier in der Zeit. | Fotos: FIDE/ Stev Bonhage

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Zeit-Reporter Ulrich Stock war beim Kandidatenturnier in Madrid vor Ort, doch die Reise hat sich nicht wirklich gelohnt, für ihn nicht und für die anderen Journalisten, die gerne aus der Nähe berichten, auch nicht. Die Presse wurde zwar nicht ausgesperrt, aber Kontakt mit den Spielern gab es so gut wie keinen. Die seit einigen Jahren üblichen Pressekonferenzen, in denen die Spieler erzählten, was Ihnen durch die Köpfe ging und was nicht, wurden beim Kandidatenturnier in Madrid nicht angeboten. Seltsam - oder auch nicht. Tatsächlich hat sich die von der Milliardärsfamilie Scheinberg gesponserte Plattform chess.com in das Kandidatenturnier eingekauft und als Gegenleistung einen Exklusivzugang zu den Spielern erhalten. 

Auch der zweite große Player im Spiel der finanzstarke Könige erschien kurz vor Ende des Turniers in Madrid. Nachdem klar war, dass der von ihm als Gegner favorisierte Alireza Firouzja das Turnier nicht gewinnen würde, sondern sein Herausforderer des letzten WM-Kampfes, Ian Nepomniachtchi, reiste Magnus Carlsen an, um mit FIDE-Präsident Arkady Dvorkoviv und FIDE-Generaldirektor Emil Sutovsky über die Bedingungen des Wettkampfes zu verhandeln. Aus Norwegen hört man, dass Carlsen gerne das Format ändern möchte. Aber wie? Sollen etwa Armageddon-Partien nach einem Unentschieden zur Entscheidung eingeführt werden, so wie es inzwischen beim Norway Chess Turnier Usus ist? Oder will er eine Art zweite Schnellschach-Weltmeisterschaft einführen, zusätzlich zu der, die es schon gibt, nur hier im Wettkampfformat und als Mix mit der klassischen Bedenkzeit? Was auch immer Carlsen im Sinn hat, es würde vermutlich sehr heftig an der Tradition der klassischen Weltmeisterschaft rütteln und auf einigen Widerstand stoßen. Auch der Weltmeister kann nicht nach Gutdünken das Weltmeisterschaftsformat ändern.

In seinem Abschlussartikel zum Kandidatenturnier sieht Ulrich Stock es als unsportliche Machdemonstration, dass der Weltmeister die Kandidaten erst einmal spielen lässt, noch zuschaut, wie um einen vielleicht auch noch wichtigen zweiten Platz gekämpft wird, abhängig von seiner Entscheidung, um dann mit der FIDE Verhandlungen aufzunehmen:

"Magnus Carlsen, 31, scheint der Meinung zu sein, dass er, Weltmeister seit 2013, genug getan hat und nach Jahren der Entbehrung nun die Lust zu ihrem Recht kommen soll. Er will einfach Schach spielen, gern mehr online als am Brett, Preisgelder einsammeln und die Früchte seines Erfolgs genießen. Inzwischen verfügt er über ein eigenes Firmenimperium, Play Magnus. Die Streaming-Website Chess24 gehört dazu, die Lernplattform Chessables, eine Spiel-App und auch der niederländische Verlag, in dem New In Chess erscheint, die wichtigste Schachzeitschrift der Welt.

Magnus I. möchte so eine Art emeritierter Schachpapst werden, nur nicht so zurückgezogen wie der deutsche Papst Benedikt in den Gärten des Vatikans. Für die Schachwelt lässt das nichts Gutes ahnen. Welchen Wert hätte der Titel für den Nachfolger, wenn der Vorgänger überall herumturnt und sich als eigentlicher Weltmeister geriert?

Er wollte den Titel; nun leidet er unter dessen Gewicht. Dass er der erst 16. Weltmeister seit 1886 ist, die ganze Tradition mit ihrer Strahlkraft, das scheint ihn nicht zu scheren. Er ist der Mann, der Schach zum Sport gemacht hat, und künftighin zählen eben andere Dinge.

... "

Auch sonst gebe es viel Unsicherheit im Weltschachbund, schreibt Ulrich Stock. Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine hat die Dinge durcheinandergebracht. Der russische FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich stellt sich beim FIDE-Kongress zur Wiederwahl, hat aber mehrere Gegenkandidaten.

Der Deutsche Schachbund hat seine Unterstützung für Andrii Baryshpolets and Peter-Heine Nielsen angekündigt. Ein russischer Weltschachpräsident ist derzeit bei hochrangigen Turnieren in den meisten europäischen Ländern als Repräsentant politisch schwer vermittelbar. 

Dvorkovichs Unterstützer Nigel Short ist kürzlich als Vizepräsident zurückgetreten, nachdem er die Korruption im kleinen Schachverband der US-Virgin Islands angeprangert hatte und daraufhin vom FIDE Ethik Komitee eine Verwarnung erhielt.

Es gibt immer noch zu viel Korruption im Weltschach, sagt Nigel Short.

Falls der frühere stellvertretende russische Ministerpräsident Arkady Dvorkovich auf eine US-amerikanische Sanktionsliste geraten sollte, so wie es seinem Vorgänger Kirsan Ilyumzhinov passierte, wäre es allerdings aus mit dem Amt als FIDE-Präsidenten, denn der Weltschachbund müsste dann wieder mit Kollateralschäden rechnen.

Auch sonst macht sich das politische Klima in Weißrussland und in Russland bemerkbar. FIDE- Vizepräsidenten Anastasia Sorokina aus Weißrussland wurde schon vor zwei Jahren um sechs Uhr morgens von der Polizei des Landes zum Verhör abgeholt und des Extremismus verdächtigt. Die FIDE erwirkte ihre Freilassung. Jetzt lebt Sorokina mit ihrer Familie in Lettland im Exil.

Die bekannte russische Turnierfotografin Marie Emelianova kann wegen kritischer Äußerungen zu Russlands Krieg nicht zurück nach Russland, hat aber als russische Staatsbürgerin Schwierigkeiten, Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen für bestimmte europäische Länder zu bekommen.

Und dann eben noch Carlsen:

(Zur vorletzten Runde)"... erscheint unangemeldet Magnus Carlsen im Palacio de Santoña, gibt Autogramme und schaut durch die Tür in den Spielsaal. Er trägt zum T-Shirt kurze Hosen und Turnschuhe – ein bübischer Herrscher, der hier mitspielt, ohne am Brett zu sitzen."

Artikel in der Zeit: Im Schatten des Königs...


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.