Nachdruck mit freundlicher Genehmigung:
Bad Soden Marken-Sportschuhe, Jeans, grüne Fleecejacke, den
Reißverschluss hochgezogen, den Kragen hochgeklappt, „es ist kalt geworden in
Deutschland“, sagt Viswanathan Anand, 40, zur Begrüßung. Der Schach-Weltmeister
kommt gerade aus seiner Heimat Indien, am nächsten Tag gibt er in Zürich ein
Simultan, ein Reihenspiel gegen 35 Gegner. Zwischendurch besucht er seinen
Freund und Berater Hans-Walter Schmitt in Bad Soden. Hier im Taunus, ganz in der
Nähe des Frankfurter Flughafens, hat er sich auf seine beiden erfolgreichen
WM-Kämpfe 2008 in Bonn gegen den Russen Wladimir Kramnik und 2010 in Sofia gegen
den Bulgaren Wesselin Topalow mit seinen Sekundanten jeweils drei Monate lang
vorbereitet. Beim Italiener im Zentrum Bad Sodens ist Anand Stammgast. Er
bestellt auf Deutsch. Wolfsbarsch mit gedünstetem Gemüse, dazu Wasser, später
eine Cola und Pfefferminztee. „Seit ungefähr neun Jahren esse ich auch Fisch“,
sagt der Vegetarier.
Auch zu Hamburg pflegt der Champion Beziehungen. Das
Schachsoftware-Haus ChessBase in der AlsterCity versorgt ihn seit 23 Jahren mit
Datenbanken, Spielprogrammen und Analysemodulen. Das Abendblatt bringt ihm im
Auftrag der Firma die neueste DVD mit, auf der rund 4,5 Millionen Schachpartien
gespeichert sind. Die Daten stünden ihm auch online zur Verfügung, „aber sicher
ist sicher. Ich muss mich darauf verlassen, dass ich sie benutzen kann, wann
immer ich sie unterwegs brauche“, sagt Anand. Er gehört zur ersten Generation
von Großmeistern, die mit Computern aufgewachsen sind.
Abendblatt: Herr Anand, haben Sie ein Schachbrett in Ihrem Arbeitszimmer?
Viswanathan Anand: Natürlich.
Sind Sie da nicht ein wenig altmodisch?
Anand: Weil einige jüngere Spieler behaupten, sie besäßen keins
mehr? Das ist Propaganda. Schach wird nun mal bei Turnieren auf Brettern und
nicht hat an Monitoren gespielt. Ich überzeuge mich stets am
Brett, ob die Positionen, die ich spielen will, mir auch gefallen, ob ich
wirklich alles verstehe, was ich mit dem Computer analysiert habe.
Dreidimensional sieht man doch noch um einiges besser. Der Raum ist eine
wichtige Komponente im Schach. Richtig ist, dass ich das Brett weit weniger als
früher benutze. Ich arbeite hauptsächlich am Rechner.
Wie haben die Computer das Schachspiel verändert?
Anand: Durch die Datenbanken ist heute jedem eine Fülle an Informationen
zugänglich, die sich früher nur privilegierte Minderheiten mit entsprechenden
Netzwerken, wie in der Sowjetunion, beschaffen konnte. Das hat zu einer
demokratischen Verbreiterung des Wissens geführt und die Möglichkeit eröffnet,
sich vorhandene Erkenntnisse weit schneller anzueignen. Das gilt im Übrigen für
die meisten Lebensbereiche. Wenn wir etwas wissen wollen, googeln wir. Heute ist
es nicht mehr ganz so wichtig, dass du in Russland oder Europa geboren wirst, um
ein guter Schachspieler zu werden, der kannst du jetzt überall auf der Welt bei
entsprechendem Talent werden. Zudem sind die Schachcomputer inzwischen derart
stark, dass man alle Phasen der Partie umfangreicher, tiefer und genauer
analysieren kann. Alle diese Faktoren haben das Spiel verändert, wir verstehen
es heute besser. Schach ist dynamischer geworden, das Zusammenspiel der Figuren
effektiver. Die Fähigkeit, sich in schlechten Stellungen oder gegen
Königsangriffe zu verteidigen, hat sich dramatisch erhöht. Allgemeine Grundsätze
treten mehr und mehr in den Hintergrund, das Berechnen von Zugfolgen wird
wichtiger.
Welchen Einfluss haben die Computer auf Ihr Denken?
Anand: Ich bin kritischer geworden, hinterfrage bei meinen Entscheidungen viel
öfter meine Denkschemata und lasse mich weniger von allgemeinen Strategien
leiten. Ich suche nach dem besonderen Zug, der Ausnahme von der vermuteten
Regel, die ja nie eine Regel, sondern ein Krückstock zur Orientierung war. Diese
sogenannten Ausnahmen folgen ja ebenso einer Logik, nur haben wir diese bisher
nicht erkannt. Es gibt beim Schach keine geheimen Informationen. Wir müssen nur
zusammenbringen, was zusammengehört.
Wird im Computer-Zeitalter die „Ausnahme“ zur Regel?
Anand: Mit dem wachsenden Verständnis des Schachspiels stoßen wir immer häufiger
auf Züge, die wir früher aus allgemeinen Erwägungen verworfen hätten. Glaubten
wir einst, dass es in hundert Stellungen eine „Ausnahme“ gibt, so sind es heute
dreißig. Das ist das Verdienst der Computer. Sie weisen dich auf eine Vielzahl
ungewöhnlicher Ideen hin. Menschen scheuen sich, Ungewöhnliches zu denken.
Computer zwingen dich dazu.
Sind wir prinzipiell denkfaul?
Anand: Nicht faul, sondern verhaftet in Muster. Die kritische Distanz zu dem,
was wir tun oder denken, fehlt oft. Wir geben uns zu früh zufrieden, Dinge in
Kategorien einzuteilen und sie dort zu belassen. Die Computer holen sie wieder
aus diesen Schubladen heraus.
Brauchen wir noch Philosophen, wo doch die Wahrheit nicht im Allgemeinen,
sondern im Konkreten zu liegen scheint.
Anand: Ich rufe jetzt nicht das Ende der Philosophie aus, nur weil ich meine,
dass wir viel konkreter denken müssen. Im Gegenteil. Kritik der Vernunft ist ja
ein Grundpfeiler der Philosophie. Wir brauchen Orientierung, wir brauchen ein
Grundverständnis von Zusammenhängen. Wir müssen wissen, in welche Richtung wir
zu suchen haben und wo wir etwas finden können. Es gibt inzwischen einen derart
großen Müll an Informationen, dass der, der sinnvoll selektieren kann, gewinnt.
Die Art, wie wir Wissen verarbeiten, wird immer entscheidender werden.
Welche Rolle kommt dabei den Computern zu?
Anand: Wir müssen der Pilot bleiben, der Computer darf nicht ins Cockpit.
Auf den Finanzmärkten scheinen bis heute diese Rollen vertauscht zu sein.
Anand: Um sinnvoll mit Computern arbeiten zu können, muss man sie verstehen,
wissen, wie sie funktionieren, was sie können, wo ihre Grenzen sind. Es ist
dringend notwendig, eine kritische Distanz zu den Ergebnissen von Computern zu
behalten, wollen wir von ihren Rechenfähigkeiten maximal profitieren. Diese
kritische Distanz scheint mir in einigen Bereichen der Weltwirtschaft
abhandengekommen zu sein.
Am Schachbrett verfolgen selbst Sie nicht immer diese Prinzipien mit der nötigen
Konsequenz. Im WM-Kampf gegen Topalow unterlief Ihnen in der ersten Partie ein
derart grober Patzer, dass Sie sofort hätten aufgeben können.
Anand: Ich hatte eine zu Hause vorbereitete Stellung auf dem Brett, nur konnte
ich mich nicht mehr an die exakte Zugfolge in dieser Variante erinnern. Ich
wusste nur, dass ich irgendwann diesen ungewöhnlichen Zug König von g8 nach f7
spielen musste. Nur leider habe ich den richtigen Zeitpunkt verpasst.
Und dann spielen Sie diesen Zug, ohne ihn zu überprüfen?
Anand: In dieser frühen Phase der Partie musste ich mich darauf verlassen, was
wir vorbereitet hatten. Natürlich kann ich alles noch mal am Brett analysieren,
und ich würde dann auch wahrscheinlich zum richtigen Ergebnis kommen. Aber es
bleibt ein Rest Unsicherheit, doch etwas übersehen zu haben. Dieses Abspiel war
derart kompliziert, dass ein Irrtum nicht auszuschließen ist. Wenn ich mir
jedoch so früh viel Zeit zum Berechnen von Zugfolgen nehme, wird sie mir später,
wenn es vermutlich noch komplizierter wird, fehlen (für 40 Züge stehen jedem
Spieler gewöhnlich zwei Stunden Bedenkzeit zur Verfügung, die Red.). Das war
deshalb eine rein pragmatische Entscheidung.
Wird das Gedächtnis bei diesen umfangreichen Vorbereitungen zum Schlüssel
schachlichen Erfolges und Misserfolges?
Anand: Ich kann mir in der Tat nicht alles exakt merken, ich versuche zentrale
Ideen und ganz wichtige Züge zu behalten. Alle Weltklassespieler haben heute
immer mal wieder Probleme mit der präzisen Erinnerung an Varianten. Das ist der
überbordenden Fülle an Material geschuldet, das wir zu verarbeiten haben. Früher
wusste ich auch alle Telefonnummern, die ich benutzte, auswendig, heute sind das
zu viele geworden. Dafür gibt es ja schließlich Computer.
In zwei Wochen werden Sie 41 Jahre alt. Denken Sie manchmal ans Aufhören?
Anand: Ich werde nicht bis ins Alter von 60 oder 70 Jahren Schachturniere
spielen. Aber ich werde auch nicht wie vor fünf Jahren Garri Kasparow (der 13.
Weltmeister der Schachgeschichte, die Red.) von einem Tag auf den anderen
aufhören. Das wird ein längerer Prozess werden. Im Augenblick fühle ich mich
körperlich und geistig frisch genug, um noch ein paar Jahre auf höchstem Niveau
spielen zu können.
Wann müssen Sie ihren Weltmeistertitel wieder verteidigen?
Anand: Voraussichtlich im April 2012 in London. Die Verträge sind bereits
fixiert.
Wer wird Ihr Herausforderer?
Anand: Es gibt heute so viele gute Spieler, die alle die Klasse haben, um
Weltmeister zu werden.
Der Norweger Magnus Carlsen, der vor einem Jahr im Alter von 18 Jahren
Weltranglistenerster wurde, bis Sie ihn jetzt wieder ablösten, will in dem
anstehenden WM-Zyklus nicht mitspielen. Verstehen Sie seine Entscheidung?
Anand: Nein, denn im Gegensatz zu den vergangenen zehn, 15 Jahren stehen diesmal
fast alle Eckdaten unumstößlich fest. Wir hatten lange nicht mehr so viel
Klarheit im Kampf um die Weltmeisterschaft wie im Augenblick.
Das Interview führte Rainer Grünberg