"Sobald man beim Freestyle schlechter steht, bricht alles zusammen." - Interview mit Vincent Keymer (II)

von Holger Hank
17.01.2025 – Vincent Keymer hat ein ereignisreiches Jahr hinter sich. Er stieg in die Weltspitze auf und half zum Jahresende Domararaju Gukesh beim Gewinn der Weltmeisterschaft. Für die Deutschen Welle hat Holger Hank mit der deutschen Nummer Eins über verschiedene Aspekte des Spitzenschachs gesprochen. Zum 2. Teil des des Interviews: | Foto: Tata Steel Chess

ChessBase 18 - Megapaket ChessBase 18 - Megapaket

Das Wissen, das Du jetzt brauchst!
Die neue Version 18 bietet völlig neue Möglichkeiten für Schachtraining und Analyse: Stilanalyse von Spielern, Suche nach strategischen Themen, Zugriff auf 6 Mrd. LiChess-Partien, Download von chess.com mit eingebauter API, Spielervorbereitung durch Abgleich mit LiChess-Partien, eingebaute Cloud-Engine u.v.m..

Mehr...

Ab Freitag (17.01.2025) tritt der deutsche Spitzenspieler Vincent Keymer beim traditionsreichen Tata Steel-Turnier im niederländischen Wijk aan Zee an. Holger Hank hat Anfang des Jahres für die Sportredaktion der Deutsche Welle über Vincent Keymer und sein WM-Engagement berichtet.  Dabei ist ein ausführliches Interview entstanden. Im zweiten Teil des  Interviews äußert sich die deutsche Nummer eins u.a. über die zunehmende Popularität von Nebenvarianten, seine ersten Erfahrungen mit Fischer Ramdom („Freestyle“) und die Unterstützung von Spitzenspielern in Deutschland.

Teil 1 des Interviews...

Teil 2 des Interviews:

"Sobald man beim Freestyle schlechter steht, bricht alles zusammen."

Wenn Du auf Dein nächstes Turnier in Wijk aan Zee blickst, welches Level in der Vorbereitung ist da zu erwarten?

Wenn ich nach Wijk aan Zee fahre, dann würde ich davon ausgehe, dass einige meiner Gegner mindestens genauso gut vorbereitet sind wie Ding Liren es war. Deshalb arbeite ich mit dem gleichen Anspruch an Qualität und Präzision. Ich habe natürlich nicht so ein großes Team wie bei einem WM-Kampf. Es ist ja auch ein anderes Format. Aber die Vorbereitung an sich ist schon auf einem ähnlichen Niveau.

Es heißt ja, dass die Schach-Eröffnungen inzwischen ausanalysiert sind. Was bedeutet das für Vorbereitung auf Deinem Niveau?

Ich glaube, wir haben den Punkt der Ausanalyse schon überschritten - und jetzt wird es wieder interessant. Die Ideen verlagern sich immer mehr in die Nebenvarianten. Die junge Generation – zu der ich mich auch zähle (lacht) - ist sehr ambitioniert und will nicht remisieren. Beide wollen spielen und Risiken eingehen – und dann ist das schon wieder sehr spannend. Anderseits: Wenn jemand mit ELO 2650 sehr gut vorbereitet mit Schwarz auf Remis spielt, dann kann man auch als Top-Spieler nur sehr schwer etwas dagegen machen.

Wann beginnt ein Spitzenspieler wie Du, in einer Partie nachzudenken?

Kritisch ist der Übergang von der Vorbereitung zum eigenen Denken. Da frage ich mich: Was kenne ich, was will mein Gegner? Kann ich bei vertretbarem Risiko ausweichen? Das ist dann manchmal unheimlich schwer. Oft weiß ich, dass ich eine Stellung schon einmal gesehen habe und dass es sie in meinen Dateien gibt - aber kann ich mir zu 100 Prozent sicher sein? Denn auf meinem Niveau kann schon eine kleine Änderung in der Zugfolge die Partie kosten.

Die Eröffnungsvorbereitung im Spitzenschach ist sehr wichtig. Vieles ist inzwischen ausanalysiert. Wie siehst Du vor diesem Hintergrund die Zukunft für das Schach mit klassischer Bedenkzeit? Verliert es an Bedeutung?

Es stimmt schon, dass viele der Top- Spieler schnellere Zeitkontrollen befürworten. Und viele Zuschauer wünschen sich wohl auch mehr Action. Ich mag aber weiter auch das klassische Schach. Es hat noch nicht den Punkt erreicht, an dem es keinen Spaß mehr macht. Die Beteiligung an Top-Turnieren ist ja immer noch groß - mit der Ausnahme von Carlsen sind alle Top-Spieler weiter dabei. Aber ich sehe ein, wenn man auf Top-Niveau spielt, und dann sieben oder acht Runden hintereinander Remis spielt, dann ist das frustrierend. Es ist einfach so: Eine sehr gute computergestützte Vorbereitung ermöglicht es inzwischen auch nicht ganz so starken Spielern, den Spielstärke-Unterschied zu kompensieren.

Eine andere Entwicklungsmöglichkeit, über die gerade viel gesprochen wird, ist Schach mit ausgelosten Anfangsstellungen: Fischer Random – oder “Freestyle” wie es Dein Sponsor Jan Henric Buettner nennt. Ist “Freestyle” etwas für Rechenkünstler oder passt das besser zu Spielern, die eher von der Intuition kommen?

Das ist eine gute Frage! Intuitive Spieler haben direkt ein Bild vor Augen. Es geht ja darum, wie man bei den unorthodoxen Ausgangsstellungen dafür sorgen kann, dass alles wieder zusammenpasst. Natürlich geht es auch beim Freestyle um die richtige Balance. Aber ich habe das Gefühl, dass man eher intuitiv spielt. Mir ist aufgefallen, dass es uns allen sehr schwer fällt, sich zu verteidigen. Sobald man beim Freestyle schlechter steht, bricht alles zusammen. Das ist eine sehr interessante Erfahrung. Im Augenblich ist das alles noch sehr fragil. Das wird sich sicher ändern, wenn wir mehr Erfahrung haben. Das müssen wir erst noch lernen. Auf jeden Fall sind lange Bedenkzeit im Freestyle sinnvoll und dann hat das m.E. ein großes Entwicklungspotenzial.

Foto: ChessBase India

Wird sich nicht auch bei Fischer Random oder “Freestyle” eine Theorie entwickeln?

Klar, wenn Top-Turniere stattfinden, dann werden sich Leute damit beschäftigen. Aber das ist noch in den Kinderschuhen. Im Augenblick stellt man erste Zusammenhänge her. Also: Was mache ich zum Beispiel, wenn die Springer in den Ecken stehen und solche Dinge. 

Master Class Band 8 - Magnus Carlsen 2.Auflage

Sehen Sie, welche Eröffnungen Carlsen wählt, um seinen Gegner im Mittelspiel strategisch zu überspielen oder ein vorteilhaftes Endspiel zu erhalten.

Mehr...

Es scheint ja zwischen dem Weltschachbund FIDE und der von Jan Henric Buettner organisierten Freestyle-Wettkampfserie, in der Du zusammen z.B. mit Magnus Carlsen spielst, gewisse Spannungen gegeben zu haben. Was ist Deine Meinung dazu?

Über die Diskussionen mit der FIDE kann ich gar nicht viel sagen. Das wäre natürlich ein großes Thema für mich gewesen, wenn ich mich zwischen dem FIDE-Turnieren und dem Freestyle-Wettkämpfen hätte entscheiden müssen. Aber das ist zum Glück momentan nicht der Fall.

Als ich kürzlich mit Bundestrainer Jan Gustafsson sprach, meinte er, dass die nächsten zwei Jahre kritisch für Deine Entwicklung sind. Siehst Du das auch so?

Klar, ich komme langsam in das Alter, in dem der Jugendbonus wegfällt (lacht). Aber normalerweise ist man so mit 25 Jahren da, wo man am Ende der Entwicklung landet – manchmal sogar später. Aber es stimmt schon, die nächsten Jahren werden natürlich entscheidend sein für mich.

Frederik Svane und Vincent Keymer | Foto: Deutscher Schachbund/ Katharina Reinecke

Du hast im letzten WM-Zyklus den Sprung in das Kandidaten-Turnier nur knapp verpasst – wie willst Du diesmal die Qualifikation schaffen?

Na ja, man kann darüber diskutieren, ob das beim letzten Mal wirklich so knapp war oder nicht. Aber auf jeden Fall will ich es diesmal auf allen Wegen versuchen. Ich werde World Cup spielen und auch das Grand Swiss. Auch die Qualifikation über den FIDE-Circuit will ich versuchen. Ich bin offen dafür, auch in Open zu spielen, um mich im Rennen zu halten.

Wie fühlst Du Dich von der Schach-Community in Deutschland unterstützt?

Die Unterstützung durch Förderer und Sponsoren für das Spitzenschach ist bei uns auf dem Weg der Besserung. Natürlich können wir aktuell in Deutschland nicht mit Indien mithalten. Ich habe weiter meinen langjährigen Sponsor Grenke und seit kurzem aber vor allem große Unterstützung durch Jan Henric Buettner, für die ich sehr dankbar bin. Ich komme voran. Der Deutsche Schachbund hat aber leider nur begrenzte Mittel zur Verfügung und hat die finanzielle Unterstützung der deutschen Spitzenspieler erheblich gekürzt. Es gibt schon einige Trainingswochen für uns Spitzenspieler und wir werden von Bundestrainer Jan Gustafsson unterstützt, aber das ist im Vergleich zu der kontinuierlichen Förderung der Top-Athleten in anderen Sportarten noch zu wenig. Generell hat man es als Schachspieler nicht so einfach, etwas aufzubauen. Das gilt vor allem für die anderen Spitzenspieler in Deutschland, die nicht so gut unterstützt werden wie ich.


Holger Hank ist Journalist und arbeitet bei der Deutschen Welle in Bonn.

. Für den https://www.bsk1920.de/ spielt er in der Verbandsliga und kommentiert bisweilen das Schachgeschehen auf Twitter/X: @seitenschach, https://x.com/Seitenschach?s=20. Seit Jahresbeginn ist er vor allem auf Bluesky aktiv: @seitenschach.bsky.social.
Diskussion und Feedback Senden Sie Ihr Feedback an die Redakteure