"Jetzt ist die entscheidende Zeit für junge Schachspieler..." - Interview mit Vladimir Kramnik

von ChessBase
12.11.2020 – Vor wenigen Tagen jährte sich zum 20sten Mal das Ende des Weltmeisterschaftskampfes zwischen Garry Kasparov und Vladimir Kramnik. Ohne Partieverlust gewann Kramnik das Match und löste Kasparov als Weltmeister ab. In einem Interview mit Sport Express lässt der 14. Weltmeister seine Karriere Revue passieren, lässt in sein Inneres blicken und und gibt der Jugend Ratschläge. | Foto: Lennart Ootes

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"Jetzt ist die entscheidende Zeit für junge Schachspieler..."

Vor zwanzig Jahren endete in London der geschichtsträchtige Weltmeisterschaftskampf zwischen Weltmeister Garry Kasparov und seinem Herausforderer Vladimir Kramnik. In einem Interview mit Sport-Express erzählt der 14. Schachweltmeister, wie die Partie sein Leben beeinflusst hat, erklärt, warum er das Turnierschach aufgegeben hat, teilt seine Ansichten über seine Lebensziele mit und gibt jungen Schachspielern einen Rat, wie sie die Pandemie ohne Schaden für die Karriere überleben können.

- Wladimir, Sie wurden vor 20 Jahren der 14. Schachweltmeister. Kann man sagen, dass dieses Ereignis Ihr Leben in "vorher" und "nachher" gespalten hat? Wie schnell haben Sie erkannt, dass es "nie mehr dasselbe" sein würde? 

- Während des Matches habe ich nicht darüber nachgedacht, aber nach dem Sieg wurde es mir ziemlich schnell klar. Ich glaube nicht, dass ich es selber war, der sich viel verändert hat. Es war vielmehr eine Wende in meinen Lebensumständen. Es waren turbulente Jahre, in denen praktisch keinen Weltmeisterschaftszyklus gab. Es bedurfte vieler Verhandlungen und öffentlicher Veranstaltungen, um diesen zurückzubringen. Es gab meinem Leben einen anderen Rhythmus. Jetzt, da ich ein "Immunsystem" dafür entwickelt habe, ist das keine große Sache mehr. Aber es war nicht einfach damit umzugehen.

Unnötig zu sagen, dass der Schachweltmeister immer eine ikonische Figur war, die mit spezifischen Verantwortlichkeiten ausgestattet war. Es war eine hart verdiente, aber wahnsinnig aufregende Erfahrung.

- Würden Sie im Nachhinein sagen, dass Sie den Titel Ihres Lebens gewonnen hatten?

- Es war nie etwas Derartiges. Seit meiner Kindheit habe ich Schach geliebt, und ich war immer sicher, eines Tages Profispieler zu werden. Allerdings habe ich mich immer auf das Schachspiel selbst konzentriert und nicht auf meinen Platz in der Rangliste. Der Titel selbst hat mir nie die Seele erwärmt!

Alles in allem glaube ich, dass der Spitzenplatz in der Schachwelt bei weitem überbewertet wird. Dies ist ein besonderes Merkmal unserer heutigen Kultur. Ich habe das nie verstanden. Es gibt 7 Milliarden Menschen, die auf der Erde leben. Welchen Unterschied macht es, ob man der erste, zweite oder dritte ist? Sie sind auf dem Gebiet Ihrer Wahl ohnehin ein hervorragender und erfolgreicher Mensch! Es gibt aber genug Menschen, die bereit sind, alles zu tun, um sich den Spitzenplatz zu sichern, selbst auf Kosten des Dopings oder unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit.

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- Boris Wassiljewitsch Spasski hatte eine ähnliche Einstellung zum Titel. Ich habe immer geglaubt, dass Sie viele Gemeinsamkeiten haben - sowohl am Brett als auch in Ihrer Lebenseinstellung.

- In diesem Punkt stimme ich Ihnen zu: Er hat auch viel gespielt, bevor er den Titel. Übrigens war es Spassky, der seine drei Jahre als Weltmeister als die anstrengendste Zeit seines Lebens bezeichnet hat. Bei mir wäre es übertrieben, das zu behaupten. Es stimmt aber, dass es in gewisser Weise auch auf mich zutrifft. Die Jahre des Weltmeisters sind sicher nicht die angenehmsten und glücklichsten meines Lebens.

Natürlich ärgerte ich mich darüber, dass ich den Titel gegen Anand verloren hatte, weil ich in dem Wettkampf auch schlecht gespielt habe. Auf der anderen Seite ging es für mich danach psychologisch wieder aufwärts. 

- Dennoch geht es beim Weltmeistertitel nicht nur um das Ansehen. Es geht auch um den damit verbundenen materiellen Nutzen. War es nicht schade, das alles zu verlieren? 

- Ich war schon vor meinem ersten WM-Kampf finanziell unabhängig. Mein finanzielles Wohlergehen hatte keinen besonderen Einfluss auf mein Leben, weil ich preiswerte Hobbys habe. Ich mag Musik, Kunst in allen Formen und die Wissenschaft. Ich spiele auch gerne Tennis, schaue Fußball und Hockey. Ich stehe auch gerne mit interessanten Menschen in Kontakt.

Ich vor dem Match keinen Geldmangel. Nach dem Sieg bekam ich Gelegenheit, meine Familie in Tuapse stärker zu unterstützen. Dann habe ich eine eigene Familie gegründet. Ich bin bereit zu wiederholen, was ich vor dem Wettkampf 2000 gesagt habe, dass ich nicht eine Sekunde gezögert hätte, auch einen unbezahlten Wettkampf gegen Garry Kasparov zu spielen. Das wäre doch wahnsinnig interessant! Ich war euphorisch über die Chance, gegen einen solchen Spieler ein Match mit 16 Partien zu spielen. Das schlägt jede Menge an Geld!

- Alles in allem haben Sie vier Weltmeisterschaftsmatches bestritten. War eines davon besonders wichtig für Ihr Leben?

- Eigentlich nicht. Jedes war auf seine Weise interessant und war ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens. Es ist wie bei Kindern: Man kann nicht das eine dem anderen vorziehen. Jeder ist auf seine Art attraktiv! 

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- Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Bereuen Sie es, nicht gegen Magnus Carlsen gespielt zu haben? Es gab einen Moment, wo ein solcher Wettkampf unausweichlich schien. kam ein Moment, in dem dieses Spiel unausweichlich schien! 

- Es wäre spannend gewesen, gegen diesen Schachspieler einer anderen Generation anzutreten. Ich würde, ehrlich gesagt, auch jetzt noch gerne gegen Carlsen spielen. Andererseits liegt es nicht in meiner Natur, irgendetwas zu bereuen. Ich hätte sogar in den frühen 1990er Jahren im Fischerschach herausfordern können. Wir führten ernsthafte Verhandlungen. Es gab einige Sponsoren, die bereit waren, einen solchen Wettkampf zu finanzieren, aber es hat nicht geklappt. Jedenfalls habe ich jeden Wettkampf gespielt, den ich spielen wollte. Als ich anfing, hatte ich keine Ahnung, dass mich eine solche Karriere erwartete. Sich darüber zu beschweren, dass ich nicht gegen Carlsen spielen konnte, wäre so, als wenn man sich über ein Gottesgeschenk beschweren würde, wie das Sprichwort sagt. 

- Sie haben vor fast zwei Jahren nach dem Turnier von Wijk aan Zee Ihren Rücktritt angekündigt. Was war der Grund für diese Entscheidung?

- Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich nicht mehr wirklich interessiert war. Ich hatte das Gefühl, das die Teilnahme oder Nichtteilnahme an einem Turnier keine Rolle mehr spielte. Als ob ich stattdessen auch ein Buch lesen könnte. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren und Varianten berechnen, wenn es notwendig war.  Man versucht, sich selbst zu motivieren mit Worten wie: "Es ist mitte in einer Partie. Versuch dein Bestes, um nicht zu verlieren oder vielleicht zu gewinnen." Aber es ist mehr Zwang als Einstellung. Der Entscheidungsmechanismus ist gestört, und man merkt nur zu gut, dass einem das Ergebnis nicht mehr wichtig ist. Diese Einstellung reicht nicht, um an der Spitze zu bleiben. Ansonsten bin ich kein Mensch, der nur um des Spielens willen spielen kann. Dies ist der einzige Grund für meine Entscheidung, mit dem Turnierschach aufzuhören.

Das Einzige, was mich noch motiviert, sind die Schacholympiaden. Teil eines Teams zu sein mit geteilter Verantwortung bringt zusätzliche Motivation.

- Große Sportler sind dafür bekannt, dass sie nach Beendigung ihrer Karriere zum Coaching wechseln. Haben Sie solche Pläne?

- Ich betrachte es aus einem etwas anderen Blickwinkel - etwas philosophisch. Ich versuche nicht, mich als Trainer aufzubauen. Ich betrachte es nicht als Verlängerung meiner Karriere, sondern als Zurückzahlen meiner Schuld. Ich bin dem Schach dankbar für alles, was es mir gegeben hat. Es geht nicht nur um Erfolg, Anerkennung und dergleichen. Das Schachspiel hat mich als Individuum geprägt. Jetzt bin ich bereit, etwas zurückzuzahlen. Ich möchte meine Erfahrung an talentierte Kinder weitergeben. Im Laufe meiner Karriere habe ich einen riesigen Koffer an Ideen und Erkenntnissen angesammelt. Außerdem weiß ich, wie wichtig es ist, schon in jungen Jahren von  Autoritätspersonen die richtigen Worte der Anleitung zu hören. Dabei geht es nicht nur und nicht einmal so sehr um Eröffnungen. Ich bin bereit, mein Verständnis des Spiels weiterzugeben.

- Also eher als Mentor, und nicht als Trainer. War es nicht das, was Botvinnik praktiziert hat? 

- Könnte man so sagen. Ich habe vier Sitzungen seiner Schule besucht. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, denn es war eine so reiche Erfahrung. Ganz zu schweigen von der Zahl der starken Großmeister, die diese Schule abgeschlossen haben! 

Meiner Meinung nach besteht einer der Hauptzwecke eines Menschen im Leben darin, das, was er gelernt hat, an die nächste Generation weiterzugeben. Es ist nur natürlich, sein Wissen an so viele talentierte Menschen wie möglich weiterzugeben, in der Hoffnung, dass es sie weiterbringt.

- Sind Sie mit den Ergebnissen der Schüler der Sirius-Schachsektion zufrieden? Sie sind ja Vordenker und Motor dieser Schachschule.

- Das Sirius Trainingsprogramm ist gut unterwegs und hat schon zu guten Resultaten geführt. Die Vertreter der Schule besetzten immerhin alle Bretter der russischen Jugend-Nationalmannschaften. Der Beitrag unserer Schülerinnen und Schüler zum Gesamtsieg der russischen Mannschaft hat bei der letzten Olympiade eine bedeutende Rolle gespielt. 

Sirius hat in diesen Jahren ein zuverlässiges Trainerteam gebildet. Die Intensität des der Ausbildung hat in letzter Zeit aus offensichtlichen Gründen nachgelassen. Um dies zumindest teilweise auszugleichen, starten wir gemeinsam mit dem russischen Schachverband und Ramax im November eine Reihe von Online-Trainingseinheiten für die besten jungen Schachspieler unseres Landes.  

- Welchen Rat würden Sie jungen Sportlern geben, um sich in dieser Zeit der Pandemie zu verbessern? Der Turnier-Kalender ist durcheinander geraten. Alle Wettbewerbe werden entweder abgesagt oder ganz verschoben. 

- Es klingt vielleicht seltsam, aber ich denke, dass dies eine perfekte Zeit für junge Schachspieler ist. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die nur für bestimmte Turniere trainieren. Schach verlangt einen methodischen Ansatz ohne Pausen. Zunächst einmal müssen Sie kontinuierlich lernen, Ihr Spiel zu verbessern, indem Sie einige Ihre Schwächen ausmerzen. Schach ist kompliziert. Sie müssen unentwegt Ihre Kenntnisse und Ihre Fähigkeiten ausbauen, um auf höchstem Niveau zu spielen. 

Die Pandemie wird früher oder später vorbei sein. Wenn sie endet, werden wir sofort sehen, wer diese Zeit zu seinem Vorteil genutzt hat. Diejenigen, die hart arbeiten und den Bullet- und Blitzpartien im Internet fernbleiben, werden an die Spitze aufsteigen! Jetzt ist die entscheidende Zeit für junge Schachspieler, um den Grundstein für den Aufbau ihrer gesamten Karriere zu legen.

Das Interview erschien ursprünglich in Sport Express in russischer Sprache. Die Übersetzung basiert auf der englischen Version, die vom Russischen Schachverband veröffentlich wurde.

Übersetzt von André Schulz

Interview beim Russischen Schachverband...

 


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