Von Johannes Fischer
Sitzt man nicht zufällig auf der falschen Seite, dann
können Kurzpartien sehr lustig sein. Dramatisch und voll hübscher taktischer
Gewalt sorgen sie für Schadenfreude und befriedigen den Sinn für
Gerechtigkeit. Denn hier werden Fehler schnell und drastisch bestraft. Die
schwarze Dame geht im sechsten Zug auf Bauernraub, der König bleibt in der
Mitte, die weißen Zentrumsbauern rücken vor, Linien öffnen sich, Opfer,
Opfer, Matt. So soll es sein, denn schließlich weiß jeder Schachanfänger,
dass man in der Eröffnung keine unschuldigen Bauern jagen, sondern die
Figuren entwickeln soll.
Entsprechend lehrreich und unterhaltsam ist John Nunns
Buch Winning Quickly at Chess, in dem der englische
Großmeister 125 Partien, die nicht länger als 25 Züge dauerten, ausgewählt
und analysiert hat. Partien, die durch grobe Fehler entschieden wurden, hat
Nunn nicht berücksichtigt, genau wie er Wert darauf gelegt hat, dass beide
Seiten mindestens Elo 2500 hatten und die Auswahl unterschiedliche Motive
vorführt. Dadurch sind die hier versammelten Partien anspruchsvoller als die
Partien in Kurt Richters bekanntem Buch 666 Kurzpartien. Für Richter
dauerte eine Kurzpartie nur 20 Züge und viele seiner Beispiele zeigen
lediglich, wie die schwächere Seite nach groben Fehlern einfachen taktischen
Tricks zum Opfer fällt.
Winning Quickly at Chess Quickly ist die
Neuversion des 1999 erschienenen Nunn-Buches 101 Brilliant Chess
Miniatures. Nunn hat die Analysen überarbeitet, das Layout freundlicher
gestaltet und 24 zwischen 1999 und 2007 gespielte Partien hinzugefügt. Die
grundsätzliche Frage hat sich jedoch nicht geändert. Nunn will wissen, warum
auch starke Spieler Opfer einer schnellen Niederlage werden. Wie er in der
Einleitung erklärt, sind es vor allem sieben schachliche und psychologische
Sünden, die immer wieder für ein rasches Ende sorgen:
1. Unkluger Bauernraub
2. Vernachlässigung der Entwicklung
3. Den König zu lange im Zentrum lassen
4. Eine wichtige Verteidigungsfigur vom König wegziehen
5. Auf eine Überraschung in der Eröffnung schlecht
reagieren
6. Unangemessenes Spiel, weil die Stellung nicht
objektiv bewertet wird
7. Eine zweischneidige Eröffnung spielen ohne sich
auszukennen
Diese Sünden und ihre Bestrafung illustriert Nunn
anhand von 125 gründlich analysierten Partien. Dabei zeigt er, warum er zu
Recht einer der besten und beliebtesten Schachautoren der Welt ist. Kaum ein
anderer Autor verbindet präzise Analysen so gekonnt mit verständlichen
Erklärungen, die gelegentlich mit trockenem Humor und immer mit angenehmer
Objektivität gewürzt sind. Nunn widersteht der Versuchung, die Kurzpartien
einseitig zu erklären, sondern weist immer wieder auf bessere Möglichkeiten
der Verteidiger hin.
Wie man sich den 125 Partien nähert, bleibt natürlich
dem Leser überlassen. Man kann das Buch von vorne bis hinten lesen und eine
Partie nach der anderen nachspielen, die Partien nach Eröffnungen auswählen
oder man schaut sich an, was die schachlichen Idole Gutes und Schlechtes
getrieben haben. Dabei stellt man fest, dass Kasparov seinen Kollegen auch
hier wieder einmal um mindestens eine Nasenlänge voraus ist. Acht
Kasparov-Partien hat Nunn in seine Sammlung aufgenommen, acht Mal kann man
genießen, wie der Meister seine Gegner schwungvoll zertrümmert.
Oder man blättert das Buch auf der Such nach bestimmten
Motiven durch. Zum Beispiel nach überraschenden oder ungewöhnlichen
Turmmanövern. Gewöhnlich beweisen die Türme ja zu Beginn einer Partie
vornehme Zurückhaltung und zeigen ihre Stärke erst in Mittel- und Endspiel.
Umso reizvoller ist es deshalb, wenn sie früh und entscheidend ins Geschehen
eingreifen. Hier als Appetithappen sechs Beispiele aus Nunns Buch.
Rudolf Maric – Svetozar Gligoric
Belgrad 1962
Eigentlich scheint diese Partie nicht zum Thema zu
passen. Erstens stammt sie aus dem Jahre 1962 – alle 125 Partien im
Hauptteil des Buches wurden zwischen 1970 und 2007 gespielt – und zweitens
versündigt sich Schwarz hier gegen die Prinzipien soliden Eröffnungsspiels.
Er geht bereits in der Eröffnung auf Bauernraub und hat damit
skandalöserweise Erfolg. Doch wie Nunn in der Einleitung erklärt, zeigt
diese Partie, warum riskante Eröffnungen, mit denen man manchmal schnellen
Schiffbruch erleidet, so attraktiv sind. Spielt man Russisch, verliert man
selten in 25 Zügen, doch dafür sind auch solche Siege rar. Oder wie der
Volksmund weiß: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4
cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 Db6 8.Dd2 Dxb2 9.Tb1 Da3 10.Lxf6 gxf6
11.Le2 Sc6 12.Sxc6 bxc6 13.0–0 Da5 14.Kh1 Le7 15.f5 exf5 16.exf5 Lxf5 17.Lf3
0–0 18.Lxc6
Jetzt startet der Turm a8
eine Blitzkarriere:
18...Tac8 19.Lb7Txc3
20.Txf5 Tb3 0–1
Reizvoll ist auch
folgendes Schwerfigurengeplänkel:
Mikhail Tal - Fridik
Olafsson
Las Palmas 1975
Der letzte weiße Zug war 21.T1c2. Der half aber nicht, denn nach
21...Lxd2 22.Dxd2 Df4 23.Te7 Tf8 24.Da5 Td1+ 25.Se1 Dg5 0–1 war die
Partie vorbei.
Yasser Seirawan prägte den Satz „You have to invite everyone to the party“,
um zu betonen, wie wichtig es ist, dass alle Figuren mitspielen, auch und
gerade, wenn der Angriff am heftigsten tobt. Beim Euwe-Gedenkturnier 1992
zeigte Nigel Short, wie viel er von seinem Gegner gelernt hat:
Yasser Seirawan – Nigel Short
Amsterdam 1992
Hier spielte Seirawan 16.Lxf6, wonach die erste Überraschung kam:
16...Sb4. Weiß hat gerade eine Figur geschlagen, der Läufer auf e6 und
der Springer auf c6 stehen in einer Gabel, was liegt da näher, als noch eine
Figur zu opfern und eine weitere ungedeckt zu lassen? Weiß antwortete
vorsichtig 17.De4 und wurde ein zweites Mal überrascht: 17...Tac8
Der weiße Läufer auf f6 kann genommen werden, der weiße Springer b3 hängt,
genau wie die schwarzen Läufer auf e6 und e7. Dem Springer b4 geht es nicht
besser, und zusätzlich muss er noch die Last einer Fesselung tragen – nicht
zu vergessen, dass sich die weiße und die schwarze Dame gegenüber stehen und
beide ungedeckt sind. Was liegt angesichts dieser gespannten Lage näher als
ein ruhiger Turmzug? 18.axb4 Lxb4+ 19.Ke2 Dxb3 20.Lxe5 Tc4 21.Td4 Txd4
22.Dxd4 Lxd5 0–1
Eine weitere Partie mit ähnlichem Motiv.
Ilya Smirin – Boris Alterman
Haifa 1995
1.e4 e5 2.Sf3 Sf6 3.d4 Sxe4 4.dxe5 d5 5.Sbd2 Le7
6.Lb5+ c6 7.Ld3 Sc5 8.Le2 Lg4 9.Sd4 Lxe2 10.Dxe2 Sbd7 11.0–0 Se6 12.Sxe6
fxe6 13.Dg4 Sxe5 14.Dxg7 Sg6 15.Sf3 Kd7 16.c4 Dg8 17.Dd4 Tf8 18.Dxa7 Txf3
19.Dxb7+ Kd6 20.Te1 e5 21.b3 Td3 22.La3+ c5 23.Lxc5+ Kxc5
24.Tac1 dxc4 25.Txc4+ 1–0
Manchmal feiern die Türme jedoch bereits von Beginn an
kräftig mit. In der folgenden Partie zeigt Alexei Shirov, wie das geht.
Alexei Fedorov – Alexei Shirov
Polanica Zdroj 2000
1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 g5 4.h4 g4 5.Se5 d6 6.Sxg4
Sf6 7.Sf2 Tg8 Schon im siebten Zug ist der Turm im Spiel und bis zum
Schluss bereitet er Weiß Kummer. 8.d4 Lh6 9.Sc3 Sc6 10.Sd5 Sxd5 11.exd5
De7+ 12.Le2 Sb4 13.c4 Lf5 14.Da4+ Kf8 15.Dxb4 Te8 16.Dd2 Txg2 17.Kf1 Tg3
18.Dd1 Le4 19.Th2 f5 20.Sxe4 fxe4 21.Lg4 e3 22.Lf3 Dg7 23.Th1
23...Tg2 0–1
Auf Fotos wirkt Vassily Ivanchuk oft gedankenverloren
und verträumt, so als wisse er gar nicht so recht, wo er im Augenblick
eigentlich ist. Auf dem Schachbrett kann er sich jedoch bestens orientieren.
Vassily Ivanchuk – Francisco Vallejo Pons
Morelia/Linares 2006
Natürlich zieht Weiß nicht feige den Springer weg,
sondern bringt seinen Turm ins Spiel: 19.Tc1 Der erste von sechs
Zügen mit diesem Turm. Nach dem sechsten gab Schwarz auf: 20.Txc4 Lc5
21.Txc5 Sd7 22.Th5 Sf6 23.Te5 Dd6 24.Txe6 1–0
Wer ausführliche Analysen dieser Partien und noch mehr
taktisches Feuerwerk möchte, der sollte sich Nunns Buch besorgen.
Viel Spaß beim Lesen!
John Nunn, Winning Quickly at Chess, Gambit
2007, 255 S., kartoniert, 19,95€.