Kramnik verklagt Navara

von André Schulz
30.06.2025 – Seit geraumer Zeit klagt Vladimir Kramnik über vermeintlich unzählige Betrügereien von Schachspielern bei den Online-Turnieren von chess.com und hat dabei schon zahlreiche Großmeister-Kollegen durch Veröffentlichung seiner Statistiken - indirekt - unter Betrugsverdacht gestellt. David Navara wehrte sich mit einem Offenen Brief und wird nun von Kramnik verklagt. Die FIDE hat inzwischen mit einem Statement reagiert.

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Kürzlich feierte der am 25. Juni in Tuapse geborene Vladimir Kramnik seinen 50sten Geburtstag. 25 Jahre zuvor hatte Kramnik Garry Kasparov in einem Wettkampf um die Weltmeisterschaft in London besiegt und wurde der 14 Schachweltmeister in der Tradition der Schachweltmeisterschaften, die 1886 mit Wilhelm Steinitz begonnen hatte. Die Bezeichnung kling deshalb etwas kompliziert, weil es zu dieser Zeit einen zweiten Weltmeister gab, den Weltmeister des Weltschachbundes FIDE. Nachdem Nigel Short und Garry Kasparov ihren Weltmeisterschaftskampf 1993 ohne die FIDE durchgeführt hatten, führte die FIDE Konkurrenz-Weltmeisterschaften durch, erst noch im klassischen Format, dann unter der Führung des neuen FIDE-Weltmeisters Kirsan Ilyumzhinov in einem fast jährlichen K.o.-Turnier, das aber bei den Topspielern und vielen Schachfreunde keine große Akzeptanz fand.

Mit dem neuen "klassischen" Weltmeister Vladimir Kramnik und dem FIDE-Weltmeister von 2004 Veselin Topalov kam es 2006 zu einem Wiedervereinigungs-Wettkampf, der allerdings als skandalträchtiges "Toiletgate" in die Schachgeschichte einging. Kramnik gewann den Vergleich und hatte so einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass die Schachwelt nach einer Zeit des Streits geeint wurde. 2008 verlor Kramnik seinen Titel an Viswanathan Anand. Der 14. Weltmeister bleib noch eine Weile im Turnierschach aktiv und versuchte 2018 im Kandidatenturnier in Berlin ein letztes Mal, sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Nach dem Turnier in Wijk aan Zee trat er im Januar 2019 vom Turnierschach zurück.

Mit Beginn der Pandemie Anfang 2020 änderte sich die Turnierschachszene erheblich. Schon vorher hatte es Schachserver gegeben, auf denen man Online-Schach spielen konnte, zumeist mit freien Partien und auch einigen Online-Turnier. Da man mit Pandemie-beginn und dem Lockdown in den meistern Ländern keine Turniere am Brett mehr durchführen konnte, wurden nun auf verschieden Plattformen eine Vielzahl von Internet-Turnieren durchgeführt, und auch mit stattlichen Preisgeldern ausgestattet. Besonders das US-Unternehmen Chess.com war hier erfolgreich.

Die neue Online-Turnierwelt lockte viele Spieler an, vor allem auch junge begabte Talente, die man vorher vielleicht gar nicht kannte. Sie erspielten sich auf den Schachservern hohe Elozahlen und belegten gute Plätze. 

Auch Kramnik, dem nach eigener Aussage die Energie fehlte, um als fast 50-Jähriger mit den jungen Leuten im Turnierschach am Brett mitzuhalten, hatte sich seinen Spaß am Schach bewahrt und nahm an solchen Turnieren teil. Die Partien gegen zumeist unsichtbare Internet-Gegner und die Ergebnisse blieben aber offenbar hinter Kramniks Erwartungen zurück. Kramnik witterte wegen des merkwürdigen Verlaufs einiger Partien, wegen der überraschenden Spielstärke der ihm oft nicht bekannten Gegner und wegen der Ergebnisse Betrug.

Der mutmaßliche Betrug bei Internet-Partien, "etwas verniedlichend "Cheating" genannt, ist ein immerwährendes Thema, seit die Schach-Engines so stark und inzwischen unbesiegbar geworden sind. Es gibt einige nachgewiesene Fälle von Betrug mit Computerhilfe beim Schach am Brett. Beim Online-Schach ist der Nachweis des Computer-Betrugs allerdings nicht leicht zu führen, wenn der Cheater sich einigermaßen geschickt anstellt, wobei Chess.com tatsächlich laut eigener Aussage jeden Tag unzählige Accounts von Cheatern sperrt. Wenn um Geld gespielt, wird so wie bei den Turnieren bei Chess.com, wird zudem aus dem "Kavaliersdelikt" auch echter Betrug.

Kramnik machte es sich zur Aufgabe, gegen den Online-Betrug und gegen die Online-Betrüger auf Chess.com vorzugehen und versuchte unter anderem mit Hilfe von speziellen Statistiken den Nachweis zu führen. Er beschuldigte die Spieler nicht implizit, veröffentlichte aber auf seinen Social Media Accounts seine statistischen Untersuchungen, Listen mit Namen von Spielern und stellte rhetorische Fragen.

In seiner Vendetta gegen die Platfform Chess.com und die von ihm verdächtigten Betrüger schoss Kramnik allerdings nach Meinung vieler Schachfreunde weit über das Ziel hinaus. Viele seiner Bewunderer und Freunde konnten ihm bald nicht mehr folgen, da auf Kramniks Listen und in seinen Statistiken auch renommierte und über jeden Verdacht erhaben Spieler zu finden waren.

Auf einer der Statistik-Listen fand sich schließlich auch David Navara mit seinem Namen wieder. Navara betrachtete sich als "verdächtigt" und antwortete mit einem Offenen Brief bei Chess.com, in dem er die Verdächtigung zurückwies, den Schaden beschrieb, den Kramnik mit siener Veröffentlichung anrichtete und eine Entschuldigung von Kramnik verlangte. 

Auf diesen Brief reagierte Kramik nun mit einer Verleumdungsklage beim Zivilgericht an seinem Wohnort in Genf.

Zu Kramniks Freunden, die versuchten, den 14. Schachweltmeister zu beruhigen, gehört auch Levon Aronian, der auf Kramniks Klage mit einem Tweet auf X reagierte.

Auch der Weltschachbund FIDE hat inzwischen mit einem Kommentar auf seiner Webseite reagiert:

Als Weltverband für Schach nimmt die FIDE das Thema Fairplay – sowohl im traditionellen Schach als auch im Online-Schach – sehr ernst, insbesondere angesichts der derzeitigen großen Beliebtheit von Online-Plattformen und deren Einfluss auf das Wachstum und die Entwicklung des Schachsports weltweit.

In diesem Zusammenhang verdienen die von GM Vladimir Kramnik öffentlich vorgeschlagenen Methoden eine sorgfältige Prüfung und Bewertung hinsichtlich ihrer praktischen Anwendbarkeit. Die FIDE wird eine spezielle Arbeitsgruppe einrichten, um diese Methoden zu bewerten, und lädt GM Kramnik ein, die Details seines Ansatzes und statistische Daten für eine offizielle Bewertung durch die FIDE vorzulegen.

Gleichzeitig sind wir sehr besorgt darüber, dass die Art und Weise, wie Herr Kramnik seine Argumente vorbringt, der Schachgemeinschaft großen Schaden zufügt. Herr Kramnik muss erkennen, dass es sich nicht nur um seine Meinung oder Fragen handelt – es ist eine sehr klare Darstellung, und da sie vom ehemaligen Weltmeister stammt, könnte sie für die Karriere und das Wohlergehen bestimmter Spieler ruinös sein.

Die aktuelle Debatte hat einen so angesehenen Vertreter der Schachgemeinschaft wie GM David Navara erheblich beeinträchtigt und nun dazu geführt, dass GM Kramnik eine Verleumdungsklage gegen GM Navara eingereicht hat.

Wir möchten noch einmal betonen, dass GM Navara sich während seiner gesamten Schachkarriere einen unbestreitbaren Ruf als Vorbild für Fairplay erworben hat. Die Schachgemeinschaft ist sich bewusst, dass David ein Mensch von großer Sensibilität und Integrität ist, der besonders anfällig für jede Andeutung von unfairen Spielpraktiken ist.

Ohne auf rechtliche oder stilistische Analysen der gemachten Aussagen einzugehen, sind wir der Meinung, dass vor allem gegenseitiger Respekt und Empathie unter Kollegen Vorrang haben müssen. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Klage gegen GM Navara im Interesse der gesamten Schachgemeinschaft so schnell wie möglich zurückgezogen werden sollte. Wir hoffen aufrichtig, dass GM Kramnik diesen moralisch gerechtfertigten Schritt unternimmt, der unserer Meinung nach von der gesamten Schachwelt begrüßt werden wird.

FIDE-Vorstand

FIDE-Statement im Original...


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.
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