Karpow erstmals in Kuba
Am 19. Februar 2004 hatte der Präsident des
nationalen kubanischen Sportinstituts, Humberto Rodriguez, bekannt gegeben, dass
der russische Ex-Weltmeister Anatoli Karpow im Rahmen der 2. Sportolympiade
Kubas (18.-30. April) an dem Rekord-Simultan zu Ehren von Ernesto 'Ché' Guevara
teilnehmen werde. Damit sollte einerseits ein Zeichen für die
kubanisch-russische Zusammenarbeit gesetzt werden, andererseits im Blick auf die
Olympischen Sommerspiele 2012 demonstriert werden, dass Kuba in der Lage ist,
Olympische Spiele zu organisieren.
Die Planungen für das Schach-Spektakel, das ins Guinessbuch der Rekorde eingehen
soll, waren recht detailliert. Eine Kommission setzte das Planziel fest: 12.500
Bretter auf dem Ernesto Ché Guevara-Platz in Santa Clara, einem 250 km
südöstlich der Millionenmetropole Havanna gelegenen Städtchen mit rund 200.000
Einwohnern. 8.000 Teilnehmer sollten aus Santa Clara selbst kommen, der Rest aus
12 Gemeinden in der Umgebung. Ende März waren die Vorbereitungen so weit
gediehen, dass das nationale Sportinstitut Kubas cirka 13.000 Bretter für
realistisch hielt.
Anfang April besprach eine kubanische Delegation in Moskau das Event mit dem
Leiter der russischen Sportbehörde Wjatscheslaw Fetisow und dem Präsidenten des
Russischen Olympischen Komitees. Dabei wurde bekannt, dass die georgische
Großmeisterin
Nana Ioseliani
Karpow nach Kuba begleiten sollte. Wegen der Probleme mit der Durchführung der
Frauen-WM
konnte Nana Ioseliani dann aber doch nicht nach Kuba reisen und sagte
kurz vor
Beginn der Veranstaltung ab.
Am 18. April war es soweit: Fidel Castro eröffnete die 2. Sportolympiade Kubas
mit einer kurzen Ansprache. Angesetzt waren 39 Sportdisziplinen (darunter
Schach).
Die exakten Teilnehmerzahlen:
Zu 2.884 einheimischen Sportlern gesellten sich außerdem 1.051 ausländische
Sportler aus 33 Ländern.
Karpow traf am 26. April zu seinem ersten (!) Kuba-Besuch in Havanna ein. Nach
der Begrüßung am Flughafen durch den Präsidenten des kubanischen Sportinstituts
Rodriguez, den Botschafter Russlands in Kuba, Andrei V. Dmitriew, und durch den
Präsidenten der kubanischen Schachföderation, GM Silvino Garcia, sagte Karpow
mit einer artigen Verbeugung vor seinen Gastgebern: "Ich bin eigentlich ein
lateinamerikanischer Großmeister, weil ich hier meine GM-Norm erfüllt habe, in
Caracas 1970, um genau zu sein."
Anatoli Karpow ist laut kubanischer Zählung nach Wilhelm Steinitz (1889),
Emanuel Lasker, Alexander Aljechin, Max Euwe, Robert James ("Bobby") Fischer,
Boris Spassky, Michail Tal, Tigran Petrosjan, Wassili Smyslow und
Frauen-Weltmeisterin Maja Tschiburdanidse (1984) der zehnte Weltmeister, der
Kuba besucht. Von den Vorgängern Karpows als Schachweltmeister war, abgesehen
von dem kubanischen Weltmeister José Raúl Capablanca (1888-1942), Michail
Botwinnik der einzige, der nie in Kuba war.
Karpow
erklärte, obwohl er sich erst jetzt erstmals in Kuba befinde, sei ihm die
karibische Insel als Heimat seines Idols Capablanca stets sehr nahe gewesen.
"Mein erstes Schachbuch war ein Capablanca-Werk - Letzte Schachlektionen.
Am meisten habe ich seine positionelle Intuition bewundert. Es ist schwierig,
Talent zu beurteilen, aber ich denke, Capablanca war der Schachspieler mit dem
größten Talent der Schachgeschichte."
In einem Gespräch mit dem Präsidenten des kubanischen Sportinstituts Humberto
Rodriguez schilderte Anatoli Karpow seine Aktivitäten zur Förderung des
Schachspiels. Hierzu gehören Schachschulen in Russland, Skandinavien, in
Deutschland und in der Schweiz, in Istanbul, Beirut und Bagdad. Karpow fügte
hinzu, dass er sich auch an Schachförderprogrammen in Brasilien, Chile und
Argentinien beteilige. Er habe letztes Jahr sogar in den Vereinigten Staaten
eine Schachschule eröffnet, in Lindsborg (Kansas): "Wir haben 108 Studenten -
eine exzellente Zahl für Amerika." Humberto Rodriguez wiederum stellte die
kubanischen Programme zur Förderung des Schachs vor. Über das Simultan am 29.
April sagte Karpow: "Das ist ein großes Ereignis, nicht nur für das kubanische
Schach, sondern für die gesamte Schachwelt."
Am
Tag vor dem Simultan in Santa Clara hielt Anatoli Karpow in der großen Aula der
Universität Havanna vor mehreren hundert Studenten einen Vortrag über sein
Leben, seine Pläne und die
Geschichte des Schachs.
Sein Motto sei: "Schach ist mein Leben, aber mein Leben besteht nicht nur aus
Schach." Obwohl er nun schon seit über 40 Jahren an Schachwettbewerben
teilnehme, sei er nicht schachmüde, doch er sei nun in einer anderen Situation:
"Ich bin jetzt älter als fast alle meine Gegner, die ihre Zeit vollständig mit
Schach verbringen. Ich kann das nicht, denn dann müsste ich mit all dem Anderen
aufhören." All das Andere - das ist die Tätigkeit als UNICEF-Botschafter, das
ist ferner die Leitung von Organisationen wie die Internationale Vereinigung der
Friedensstiftungen und eine Tschernobyl-Stiftung, das sind die
Karpow-Schachschulen, das ist ferner die Pflege einer renommierten
Briefmarken-Sammlung...
Eine ergreifende Station von Karpows Aufenthalt in Havanna war der Besuch von
Kindern, die an den Spätfolgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl (25. April
1986) leiden. In einem humanitären Programm Kubas, das am 29. März 1990
gestartet wurde, wurden bisher mehr als 17.500 junge Tschernobyl-Opfer in
Spezialkliniken Havannas betreut.
Am 29. April besuchte Anatoli Karpow das Ché Guevara-Denkmal in Santa Clara. Im
Besucher-Buch bezeichnete Karpow den Revolutionär und leidenschaftlichen
Schachspieler als einen unsterblichen Helden:
"Deseo reconocer a un héroe que nunca ha muerto."
1939, während der Schacholympiade in Buenos Aires, hatte der junge Ernesto
erstmals von Capablanca gehört. Nach der Revolution in Kuba soll es Ernesto Ché
Guevara gewesen sein, der die Tradition der Capablanca-Gedenkturniere
begründete.
Nach den letzten Siegerehrungen eröffnete Anatoli Karpow gegen 19 Uhr Ortszeit
die Simultanveranstaltung mit dem ersten Zug gegen den kubanischen
Vizepräsidenten Carlos Lage. Eigentlich hätte Karpow an 15 Brettern spielen
sollen, es waren dann aber (vielleicht weil es schon so spät war) nur 11 -
Prominente aus Politik und Sport. Insgesamt jedoch sollen es mehr als 13.000
Teilnehmer gewesen sein. Die genaue Zahl wird man vielleicht erst in der
nächsten Ausgabe des Guiness-Buches zu bemerkenswerten Rekorden erfahren. Außer
Ex-Weltmeister Karpow beteiligten sich mehrere Internationale Großmeister und
Meister sowie weitere starke Spieler an dem Simultan (insgesamt über 860
Experten), sodass mit durchschnittlich 15 Gegnern die Aufgabe nicht übermäßig
schwer war.
Die
Idee zu der Simultanveranstaltung soll Ché Guevaras älteste Tochter Aleida
gehabt haben. Sie zählte zu den Besuchern der Veranstaltung, wie auch eine
Delegation ausländischer Diplomaten und eine Reihe weltberühmter kubanischer
Sportler - zum Beispiel Doppel-Olympiasieger
Alberto Juantorena,
der sich selbst als recht guten Schachspieler bezeichnete.
Auf dem Platz war auf der einen Seite ein riesiges Ché Guevara-Poster
aufgehängt, auf der anderen Seite hing ein riesiges Bild des kubanischen
Präsidenten
Fidel Castro.
Castro hatte man unter den Simultan-Teilnehmern erwartet, weil er als Schachfan
gilt und bei dem Rekord am 7.12.2002 in Havanna am Brett saß. Vielleicht war
Castro nicht da, weil man mit seinem Erscheinen rechnete (es gab schon mehrere
Attentate auf den obersten Führer Kubas), vielleicht war es ihm zu anstrengend
(er ist immerhin schon 77 Jahre alt), vielleicht sollte die Aufmerksamkeit auf
die Erinnerung an Ché und auf Anatoli Karpow fokussiert werden... wie auch immer
- Fidel Castro hatte zwar am 18. April die Veranstaltung eröffnet, überließ die
Abschlussfeier indessen seinem Vizepräsidenten.
Am Abend des 29. April wurde Anatoli Karpow vom kubanischen Vizepräsidenten
Carlos Lage in Santa Clara mit dem höchsten Sport-Orden Kubas geehrt.
Am 1. Mai beendete Karpow seinen Aufenthalt in Kuba. Er war sehr zufrieden und
versprach, vielleicht schon im November dieses Jahres erneut nach Südamerika zu
kommen. Weitere Termine warteten auf ihn - in Frankreich und Belgien.
Gerald Schendel / 03.05.2004