Mit Anish Giri zum individuellen Eröffnungsrepertoire
Sich ein praxistaugliches Eröffnungsrepertoire aufzubauen, gehört wohl mit zu den anspruchsvollsten Aufgaben eines Schachspielers. In den letzten Wochen haben wir viele neue ChessBase-Produkte wie das Eröffnungslexikon , das Eröffnungs-Ebook sowie die „üblichen“ speziellen Eröffnungsvideos vorgestellt. Ergänzt wurde das durch wertvolle Praxistipps zum Erlernen der ersten Partiephase von Weltklassetrainern wie Ivan Sokolov oder Dorian Rogozenco.
Einordnung
Der ChessBase-India-Chef Sagar Shah besuchte Anish Giri zuhause, um von der früheren Nummer 3 der Weltrangliste (2015/16) eine detaillierte Einordnung aller Eröffnungen zu bekommen. Im ersten Teil des Kurses behandeln die beiden Eröffnungen nach 1.e4, im zweiten Teil Abspiele nach 1.d4, 1.c4 und seltenere Anfangszüge. Neben einem bislang in diesem Umfang nicht dagewesenen Überblick in die aktuelle Bedeutung der Varianten, wird diese niederländisch-indische Koproduktion auch immer wieder zu einer faszinierenden Reise in die Geschichte des königlichen Spiels.
In keiner Phase der Kurse bleibt verborgen, mit welcher Begeisterung sich Giri während seiner Karriere um das Eröffnungsstudium bemüht hat. Er zeigt auf, welche Bedeutung ein gutes Repertoire für die Topspieler hat und vor allem auch, dass es glücklicherweise überraschend einfach ist, sich als Amateur ein turniertaugliches Repertoire aufzubauen.
Beeindruckend, wie Giri bei der Gelegenheit erklärt, worauf viele heutige Erkenntnisse zurückgehen: Denn laut dem nur knapp an der Qualifikation zum Kandidatenturnier in Toronto gescheiterten Super-GM mit russisch-nepalesischen Wurzeln bahnte Wladimir Kramnik mit seinen Entdeckungen den Weg für die moderne Eröffnungstheorie. „Er setzte sich nach seiner letzten Idee mit den weißen Startzügen d4 Sf3 c3 zur Ruhe, weil es für ihn nichts Sinnvolles mehr zu entdecken gab“, so der 29-jährige in St. Petersburg geborene passionierte Shogi-Spieler. Demnach nutzen viele der heutigen Topspieler Kramniks Vorarbeit, um engineunterstützt neue Details zu finden: „We are recycling Kramniks ideas!“
Giris Ansatz
Im bereits mehrfach erprobten Erfolgsformat spielen sich IM Shah und GM Giri die Bälle zu. Letzterer zeigt seine Lieblingspartien in den jeweiligen Eröffnungen. Dabei geht er auf die historischen Hintergründe ebenso ein, wie auf die aktuellen Entwicklungen. Der Zuschauer erfährt, wie die Eröffnungen nach dem neuesten Stand einzuschätzen sind und welchen Stellenwert sie im Turnierschach bis hin zur Weltelite einnehmen.
Mit jeweils rund 3,5 Stunden Videospielzeit stellt das Paket eine umfassende Informationsquelle dar. Mit dem Zugang zur ChessBase-App kann fleißig trainiert werden und schließlich liefert die Datenbank eröffnungsspezifisch ausgewählte Partien. Abgerundet wird das Ganze durch den Zugriff auf das mitgelieferte Ebook mit all seinen praktischen Funktionen und Partienübersichten.
Also stelle ich das Material doch gleich mal auf die Probe: Bei der Vorstellung des Eröffnungs-Ebooks #01 Offene Spiele hatte ich mir zum Test die Wiener Partie „rausgepickt“. Dieses Mal möchte ich aus schwarzer Sicht rangehen – mal sehen, was Giri und Shah auf dem Gebiet „meines“ Wolga-Gambits zu bieten haben …
Testeröffnung Wolga
Ich klicke mich im zweiten Teil des Videokurses zum Abschnitt „Benoni/Benko“. Ich finde es schon mal gut, dass die beiden Eröffnungen zusammen behandelt werden – denn wie oft bin ich über Zugumstellung schon in Benoni-Stellungen gelandet, mit denen ich nichts anfangen konnte. Dass Sagar Shah gleich von zwei dubiosen Eröffnungen spricht, gefällt mir ebenfalls – also los: Das Video hat eine Länge von 18 Minuten und 41 Sekunden. Giri erklärt, wie sich die nicht vorhandene Symmetrie des Schachbretts (Damen- vs. Königsflügel) auf Eröffnungen wie Benoni/Wolga auf der einen oder Holländisch bzw. Budapester Gambit auswirkt. Diese Ausführungen sind typisch für den Kurs und allein deshalb lohnt es sich schon, immer wieder auch bei Eröffnungen „reinzuschauen“, die man bislang nicht kennt.
Zurück zum Video: Als nächstes werden die typischen Bauernstrukturen und Pläne für die Figuren erklärt und markiert. Es wird herausgestellt, dass es beim Gambit um eine langfristige Initiative geht, was die Eröffnung interessant macht. Zwischendurch geht Giri auf geschickte Zugumstellungen und Übergänge zwischen den beiden Eröffnungen ein. Erhellend, wie sich manch unangenehme Variante einfach ausschließen lässt, wenn man offen für gute Alternativen ist.
Schließlich gibt Giri noch Hinweise auf große Vorkämpfer der Eröffnungen an. Benkos und Tals Partien sollte man demnach unbedingt anschauen, um ein Gefühl für Benoni zu bekommen. Zum Lieferumfang gehören Spiele von Carlsen, Chepiranov, Jobava und Vidit. Insbesondere im Bereich Benoni fühle ich mich spontan deutlich besser aufgestellt. Als Nächstes schaue ich dann noch ins Eröffnungslexikon, das Eröffnungs-Ebook und mal sehen, vielleicht lasse ich auch noch den Blick auf weitere ChessBase-Produkte zum Thema Benoni /Benko schweifen.
Fazit
Immer mehr verfestigt sich, was auch in den obengenannten Kursen und Interviews zur Sprache kommt: Eröffnung lernen heißt Partien anschauen – so bekommt man das Gefühl für typische Mittelspiele und Endspiele. Und es macht mehr Spaß als Varianten zu büffeln. Die von Giri zusammengestellten stilprägenden Partien zeigen, wie man die Eröffnungsvorteile in den folgenden Partiephasen gewinnbringend umsetzt.
Shah spricht Giri auf zwei mögliche Ansätze für die Repertoirebildung an: Sollte man einige wenige Eröffnungen perfektionieren oder sich breit aufstellen und ein vielseitiger Spieler werden? Giri philosophiert über diese Frage und nennt prominente Beispiele für beide Ansätze – lässt aber offen, wofür man sich entscheiden sollte …
Es lohnt sich auf jeden Fall, nicht nur die „eigenen“ Eröffnungen, sondern möglichst viele Videos anzuschauen. Denn Giri gibt immer wieder wertvolle und interessante Lehrsätze zum Besten:
„Du musst von Anfang an energetisch spielen, z.B. auch nicht vor Zügen wie g4 in der Eröffnung zurückschrecken. […] Ein Tempovorsprung in der Entwicklung fühlt sich für viele so an, als hätten sie einen Vorteil für das ganze Spiel – aber sie müssen den Vorteil in der Partie auch umsetzen können und sie müssen lernen, dass Zeit wichtig ist …“
Er selbst beherrscht dies so perfekt, dass er fast die magische 2800er-Elo-Marke gerissen hätte – von wem sollte man also besser lernen können? Mit den Videos des "A Supergrandmaster's Guide to Openings with Anish Giri" steht Lernenden erstklassig kommentiertes Material zur Verfügung, das eine zeitraubende Recherche auf unterhaltsame und lehrreiche Art und Weise überflüssig macht. So verfügt man schnell über eine gute Basis, um das eigene Eröffnungsrepertoire weiter zu verfeinern.