Von Dr. René Gralla
Wie
eine Rochadeburg im Großmaßstab sieht er aus, der Dubai Chess Club, mit
seinem Zentralgebäude, das dem Wehrturm eines mittelalterlichen Kastells
nachempfunden scheint. Ein architektonisches Konzept, das ein klares Signal
aussendet: Das Spiel der Spiele kehrt zurück in das Land seiner Herkunft.
Ein
selbstbewusster Anspruch, den spektakuläre Events und Großturniere
unterstreichen, von der 27. Schacholympiade 1986 in Dubai bis zu Wladimir
Kramniks Duell gegen den Supercomputer Deep Fritz in Bahrain 2002. Und jetzt
schon zum zwölften Mal messen sich vom 4. April bis zum 14. April 2010 in
den Vereinigten Arabischen Emiraten die Kandidaten beim diesjährigen Dubai
Open, um den Sheikh Rashed-bin-Hamdan-Cup zu holen plus einen netten Bonus
aus dem Preisfonds von 45.000 US-Dollar.
Chess
is coming home again. Schließlich ist die Version, die aktuell nach den
Vorschriften der FIDE ausgetragen wird, gar nicht das Original, sondern eine
relativ junge Variante der Mattjagd, deren Regeln sich erst vor gut 500
Jahren herauskristallisiert haben. Dagegen wird die klassische Version, das
"Shatranj", bereits zum ersten Mal erwähnt im persischen Buch "Karnamak-i
Artaxshir-i Papakan", das zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert verfasst worden
ist. Nach dem Sieg der islamischen Invasoren 642 bei Nehawand, südlich des
heutigen Hamadan im Iran, und dem Zusammenbruch des Sassanidenreiches
übernahmen die Eroberer von den Unterworfenen auch deren Shatranj. Bei den
Arabern wurde das strategische Spiel rasch ungeheuer populär, zumal ihm
sogar die strengen Korantheologen ein Unbedenklichkeitszertifikat
ausstellten.
Spieler beim
Shatranj
In der
Gegenwart schlägt vor allem das renommierte Dubai Open eine Brücke zu dieser
Goldenen Zeit des Shatranj. Und wenn in unseren Tagen wieder die Champs an
den Golf einfliegen - allein 40 GMs im Jahr 2009 - , folgen gerade auch sie
den Spuren ihrer stolzen Vorgänger. Schließlich ist es ein veritabler Kalif
namens al-Ma'mun gewesen, der im Jahr 819 zum ersten Mal die vier Besten am
Brett in den Rang von "Aliyat" erhoben hat. Das entsprach in etwa der
Leistungsstärke eines FIDE-Großmeisters, so dass der Titel GM offenbar viel
älter ist als bisher von den Experten unisono angenommen.
Kalif
al-Ma'mun, der 819 den Titel eines "Aliyat",
sprich: "Großmeister", in das klassische arabische Schach einführt
Westliche Fachleute, zuletzt Hartmut Metz im österreichischen Magazin
"Schach-Aktiv" (Ausgabe 4/2009, S. 228), wollen eigentlich dem ansonsten
glücklosen Zar Nikolaus II. das Verdienst zusprechen, eine Hierarchie im
zuvor unübersichtlichen Lager der Brettsportprofis eingeführt zu haben.
Schließlich seien die fünf Frontrunner des Turniers St. Petersburg 1914 vom
damals noch amtierenden russischen Kaiser, den vier Jahre später die
revolutionären Bolschewiki samt seiner Familie liquidieren sollten, zu
"Großmeistern" proklamiert
worden.
Aber abgesehen davon, dass die Internetbibliothek Wikipedia die
entsprechende Anekdote als "nicht belegt" einstuft, ist keineswegs der
letzte Romanow der Vater aller Großmeister, sondern in Wahrheit der Kalif
al-Ma'mun vor exakt 1191 Jahren, wie arabische Chronisten schreiben. Und das
schachbegeisterte Oberhaupt der Gläubigen etablierte neben
dem arabischen GM gleich noch einen "Mutaqaribat", den Vorläufer des IM.
Al-Ma'muns lebhaftes Interesse am Geschehen auf den 64 Feldern war familiär
bedingt.
Sein
berühmter Vater, der in die Märchenbücher eingegangene
Harun ar-Raschid, hatte ebenfalls Shatranj gezockt und einen 802 geführten
Briefwechsel mit dem byzantinischen
Kaiser Nikephoros I. zum Anlass genommen, nach dem Austausch diplomatischer
Floskeln von den Vorzügen einer jungen Dienerin zu schwärmen - weil das
Mädchen
nicht nur höchst attraktiv war, sondern überdies geschickt im
Shatranj.
Ein Set Shatranj, statt eines Brettes wird oft auch auf einem Plan aus Stoff
gespielt.
Das
Dubai Open 2010 ist folglich der passende Anlass, die Ursprünge
des Königlichen Spiels im Nahen Osten zu entdecken. Die Regeln des
Shatranj korrespondieren im Wesentlichen dem Kanon der FIDE, allerdings
müssen einige Abweichungen beachtet werden.
Anstelle einer resoluten
Dame begleitete den König ("Shah") ein gravitätischer Wesir ("Wazir", oft
auch als "Fers", "Ferz" oder "Firz" bezeichnet), der sich pro
Schlagwechsel einen sparsamen Schritt vorwärts oder rückwärts über die
Diagonalen bequemte. Die Plätze der Läufer nahmen
Elefanten ein. Der Minidickhäuter - arabisch: "Alfil" - verfügte über die
überraschend sportliche Fähigkeit, auf den ihm zugewiesenen Schrägen in das
zweite Feld vom konkreten Ausgangspunkt entweder ziehen oder nach Bedarf
hüpfen zu können. Interessanterweise hat sich der Terminus "alfil" für "Läufer" im
modernen Spanisch trotz unterschiedlicher Kapazität und Reichweite
erhalten.
Ferner
wichtig: Die rivalisierenden Könige mussten nicht zwingend von e1 und e8 aus
ins Gefecht ziehen, sondern durften alternativ die Ausgangsstellungen d1
respektive d8 einnehmen. Die Rochade und der einleitende Doppelschritt der
Bauern waren ausgeschlossen. Erreichte ein Infanterist die
feindliche Grundreihe, wurde er befördert zum Wesir. Neben dem Matt
galt auch das Patt als Niederlage. Die Felder auf dem Brett waren nicht
schwarz-weiß kariert, sondern einheitlich koloriert in einem hellen
Grundton.
Ein Flirt mit Shatranj kann der Beginn einer wunderbaren Liebesaffäre sein.
Die das Zeitfenster öffnet für eine virtuelle Reise zurück in eine
spannende Epoche, als Arabien
die Führungsmacht im Schach war. Stars der Mattkunst publizierten
Bücher über Strategie und Taktik und tüftelten trickreiche Probleme aus, die
Mansubat. Gefeierte Theoretiker und Autoren waren
al-Adli (um 800 – um 870), ar-Razi (ca. 825 – ca. 860) und as-Suli
(ungefähr 880 – 946). Sie analysierten Eröffnungen und fanden für die
einschlägigen "Tabiyas" poetische
Namen: die verlockend "reich Umkränzte", der
zu fürchtende "reißende Strom" oder
die ambitionierten "Steine des Pharao".
In
Anwesenheit der Herrscher wurden spektakuläre
Matches ausgefochten. Kalif al-Mutawakkil war Schiedsrichter
während der ersten WM der Schachgeschichte. 847 forderte der Newcomer
ar-Razi den alten Haudegen al-Adli heraus; der Nachwuchsmann entschied den
Wettkampf klar für sich und galt fortan als Bester der Welt. Vom
Meister Muhammed ben Sirin wird berichtet, dass er bis zu drei
Partien gleichzeitig blind spielen konnte. Und auch die Frauen mischten mit:
Historiker rühmen die Schwestern Safi’a, A’isha und ’Ubaida, die drei
Enkelinnen
eines gewissen
Hisham ben Urwa, die viele Männer das Fürchten lehrten.
Unvergessen ist die mysteriöse Dilaram, der im 10. Jahrhundert eine eigene
Mansuba
gewidmet wurde. Unklar
bleibt zwar, ob die sagenhafte Favoritin eines arabischen Offiziellen
mehr war als eine Symbolfigur, eher zweifelnd äußerten sich dazu die
ehemalige deutsche Vizemeisterin Regina Grünberg und Co-Autor Gerd Treppner
in ihrer 1991 veröffentlichten Studie "Frauen am Schachbrett". Trotzdem ist
das schlichte Faktum, dass ein "Matt der Dilaram" überhaupt komponiert
worden ist, ein starkes Indiz für den Respekt, den weibliche
Shatranj-Spielerinnen ihren männlichen Kollegen einst abgenötigt haben.
Ansonsten weiß Dilarams unsterbliche Mansuba neben dem Genderaspekt durch
charmante Brutalität zu gefallen.
Einleitend wird der erste weiße Turm geopfert:
1.Th4-h8+! ...
Der
schwarze Shah langt zu:
1. ...
Kg8xh8
Der
weiße Alfil vulgo Elefant (Abkürzung: A) gibt, indem er von h3 über den
Springer g4 hinwegsetzt und auf f5 landet, eine Kostprobe seiner
Sprungkraft. Turm h1 visiert den gegnerischen König an:
2.Ah3-f5+ ...
Todesmutig steuert der Kommandant des schwarzen Kampfwagens b2 sein Vehikel
in die Schussbahn und verzögert das Unvermeidliche:
2. ... Tb2-h2 3.Th1xh2+ ...
Der
schwarze Monarch flüchtet zurück nach g8, aber die zweite Angriffswelle
rollt:
3.... Kh8-g8 4.Th1-h8+!! Kg8xh8
Gestützt vom Kameraden auf f6 traut sich der Fußsoldat g6 nach g7 und
rempelt den feindlichen Feldherrn an:
5.g6-g7+ ...
Der
weiße Elefant auf f5 behält das potenzielle Fluchtfeld h7 unter Kontrolle,
Black King wird zurück getrieben nach g8:
5.... Kh8-g8.
Die
weiße Schwadron g4 exekutiert das Finale:
6.Sg4-h6# 1-0
Eine
lustige Kombination, die dazu einlädt, mental zigtausendfach abgelaufene und
ausgetretene Pfade zu verlassen. Das weitet den Blick, regt die
schöpferische Phantasie an und kommt am Ende dem frugalen Ligaalltag
gleichfalls zu Gute.
Last
not least ist Shatranj eine sympathische Offerte an Neueinsteiger, entspannt
das Terrain der 64 Felder zu erkunden, ohne unablässig Überfälle im
Schäferstil fürchten zu müssen. Das garantieren die Abwesenheit
der dominanten Dame und ihrer aggressiven Läufergesellen. Shatranj ist
menschenfreundliches Schach, selbst der Anfänger hält mit dem Meister
eine gewisse Zeit mit, bevor er sich in das Unvermeidliche fügt und
kapituliert.
Niemand
verliert sein Gesicht - vorausgesetzt, er hält die Augen auf und träumt
nicht zu heftig von der schönen Dilaram. Andernfalls droht
auch im übersichtlichen Shatranj ein böses Erwachen.
Wie
das? Selbst das arabische Schach kennt ein Narrenmatt in vier Zügen, das hat
der Autor dank diverser Wasserpfeifen in einem Shishalokal herausgefunden.
Nehmen
wir an, die konkurrierenden Herrscher wählen die Startpositionen d1 und d8.
Weiß experimentiert mit der Linksspringereröffnung:
1.Sb1-c3 ...
Schwarz
entscheidet sich für den Vormarsch eines Zentrumsbauern:
1. ... e7-e6.
Der
Schimmel des Anziehenden trabt nonchalant zur linken Flanke:
2.Sc3-a4?!? ...
Falls
der Kontrahent seinerseits daddelt und eine Art altindischen Aufbau bastelt,
verliert er - ausgerechnet - den nichtsahnenden Infanteristen auf b7 (!):
2. ... Sg8-e7? 3.Sa4-c5! ...
Warum
ist die B-Kompanie futsch? Der Elefant c8 ist bekanntlich kein Läufer, ergo
liegt b7 out of reach. Der Alfil c8 hat ausschließlich a6 und e6 auf dem
Schirm. Will der Nachziehende reflexartig die Einheit b7 aus der
Gefahrenzone bugsieren, ist alles aus:
3. ... b7-b6?? 4.Sc5-b7# 1-0
Das ist
das peinliche "Mat-al-Magnun", das bittere "Matt der dummen Leute". Und eine
reale Gefahr, die sich nicht auf das Shatranj beschränkt, in Dayton 1979 hat
ein verrücktes Replay nach modernen Schachregeln für reichlich Gelächter
gesorgt.
Weiß:
T.Mantia
Schwarz:
T.Trogdon
Dayton
1979
Englisch - Angloindische Verteidigung: Flohr-Mikenas-Carls-Variante (A18)
1.c4 Sf6 2.Sc3 e6 3.e4 Sc6 4.Sge2 b6 5.g3 Se5 6.d4?? Sf3# 0-1
Mit
vertauschten Farben eine Konstellation, die dem Mat-al-Magnun verblüffend
ähnelt: Hätte der übertölpelte Mantia das arabische Fool's Mate gekannt,
wäre ihm Hohn und Spott in Dayton sicher erspart geblieben.
Es kann
deswegen ziemlich nützlich sein, die klassischen Finten auch im ehrwürdigen
Shatranj zu studieren. Um niemals in eine Mat-al-Magnun-Falle zu rennen
- weder auf dem internationalen Parkett von Dubai noch zu Hause
im Hinterzimmer des Klubs.