Der berühmteste Prager Schachspieler ist Wilhelm Steinitz, der erste offizielle Weltmeister der Schachgeschichte. Er wurde am 14. Mai 1836 geboren, zu einer Zeit, als Prag noch zum österreichischen Kaiserreich gehörte. Das Geburtshaus des späteren Weltmeisters steht nicht mehr, denn Steinitz, das neunte Kind von Josef Salomon Steinitz und seiner Frau Anna, verbrachte seine Kindheit im jüdischen Ghetto in Prag, von dem heute nur noch Überreste erhalten geblieben sind. In einem lesenswerten und informativen Artikel über die zuvor wenig erforschte Kindheit und Jugend von Steinitz schreibt der österreichische Schachhistoriker Michael Ehn dazu:
1849 wurde der Zwangsaufenthalt der Juden im Ghetto aufgehoben. 1850 das Prager Ghetto als eines der letzten in Europa aufgelassen und unter dem Namen "Josefstadt" (Josefov) als fünfter Stadtteil Prag angegliedert. Die Juden des Ghettos konnten sich nun sowohl in Prag als auch in der ganzen Monarchie frei bewegen. ... Ab 1900 war der größte Teil des ehemaligen Ghettos verschwunden und um 1913 war kein Unterschied zur restlichen Stadt mehr erkennbar, da fast alle Gebäude umgebaut oder renoviert worden waren. (Michael Ehn, "Der junge Steinitz: Legenden und Wirklichkeiten", Karl 1/2012, S. 11)
Das Geburtshaus von Steinitz steht nicht mehr, aber eine Plakette am Gebäude der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität, das am Ufer der Moldau steht, erinnert an ihn.
Heute gehört die Gegend, wo sich früher das jüdische Ghetto befand, zu den teuersten Stadtteilen Prags, aber im damaligen Ghetto waren die Lebensumstände schwierig und beengt. Allerdings boten sie auch immer wieder Stoff für Legenden und inspirierten unter anderem den österreichischen Schriftsteller und Mystiker Gustav Meyrink zu seinem berühmten Roman Der Golem, der im 19. Jahrhundert im Prager Judenviertel spielt und als Klassiker der phantastischen Literatur gilt. Er erschien zunächst von Dezember 1913 bis August 1914 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die Weißen Blätter und wurde dann 1915 in Buchform veröffentlicht.
Eine wichtige Figur im Roman ist der Medizinstudent und Schachspieler Innozenz Charousek, mit dem Meyrink an Rudolf Charousek erinnert. Charousek wurde am 19. September 1873 in Prag geboren und gehörte auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu den damals zehn besten Spielern der Welt. Er galt als möglicher Herausforderer des Weltmeisters Emanuel Lasker, den er im Nürnberger Turnier von 1896 besiegen konnte.
Aber zu einem Weltmeisterschaftskampf gegen Lasker kam es nicht, denn Charousek, der Zeit seines Lebens unter großer Armut litt, starb am 18. April 1900 in Budapest im Alter von nur 26 Jahren an Tuberkulose.
Rudolf Charousek
Meyrink kannte Charousek vermutlich persönlich, denn der Schriftsteller war auch leidenschaftlicher Schachspieler und lebte von 1883 bis 1903 in Prag, wo er sein Abitur gemacht hat, als Bankier arbeitete, sich mit Mystik beschäftigte, erste literarische Schritte unternahm und 1893 Hedwig Aloysia Certl, seine erste Frau, heiratete. Nach weiteren Stationen in Wien und München ließ sich Meyrink 1920 in Starnberg in Bayern nieder, wo er am 4. Dezember 1932 starb. Dem Schach blieb Meyrink bis an sein Lebensende treu und in seiner Zeit in Starnberg wurde er drei Mal Vereinsmeister des Starnberger Schachvereins.
Gustav Meyrink | Foto: Wikipedia
Steinitz, der sich mit seinem Vater zerstritten hatte und sich schon als 15-jähriger alleine durchs Leben schlagen musste, verließ Prag 1858, um zusammen mit dem späteren Schriftsteller und Sozialreformer Josef Popper, mit dem Steinitz eine lebenslange Freundschaft unterhielt, nach Wien zu gehen, wo er am Polytechnischen Institut studieren wollte. Allerdings brach Steinitz sein Studium bereits im Sommersemester 1859 ab, vermutlich, weil er seine Zeit lieber in den Schachcafés der Stadt als im Hörsaal oder in der Bibliothek der Universität verbrachte und irgendwann den Entschluss fasste, ganz vom Schach zu leben.
Wie eine kurze Notiz in den Erinnerungen des Bankiers und Unternehmers Alfred Schwalb verrät, ging Steinitz, als er noch in Prag lebte, auch schon regelmäßig ins Café Wien, um dort Schach zu spielen. (Vgl. Ehn, S.11). Im heutigen Prag gibt es viele und schöne Cafés, aber ein klassisches Schachcafé sucht man vergeblich.
Früher trafen sich die Schachspieler gerne im Café Louvre, das unweit vom Wenzelsplatz in der Národní 116/20 liegt. 1902 eröffnet und 1992 wiedereröffnet war das Café früher ein beliebter Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle wie Franz Kafka und Max Brod. So notierte Brod nach einem Besuch des Cafés einmal in seinem Tagebuch: "Mit K. im Cafe Louvre, wir lesen Laforgue. Schöne, sanfte Stunden, in denen ich mich ganz gesichert fühle." (Quelle: PragToGo) Heute erinnern im Café Louvre nur noch alte Fotos an die Vergangenheit als Schachcafé.
Bild im Café Louvre, das an Schachcafé-Zeiten erinnert
Unweit vom Café Louvre liegt das U Novákú, ein anderes, früher berühmtes Schachcafé. Dort fand vom 12. bis zum 26. Juli 1931 die 4. Schacholympiade statt, die einzige Schacholympiade, die in einem Schachcafé gespielt wurde. Zahlreiche Schachlegenden waren nach Prag gekommen und am Ende der stark und ausgeglichen besetzten Olympiade ging die Goldmedaille an die Mannschaft der USA , die knapp vor Polen und der Tschechoslowakei landete.
An Brett 1 für die USA spielte Isaac Kashdan, Polen trat mit Akiba Rubinstein und Savielly Tartakower an den ersten beiden Brettern an und Salo Flohr vertrat die Tschechoslowakei am Spitzenbrett. Das beste Ergebnis am ersten Brett erzielte jedoch der damalige Weltmeister Alexander Aljechin, der für Frankreich spielte und 13,5 Punkte aus 18 Partien holte (+10, =7, -1).
Master Class Band 3: Alexander Aljechin
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Efim Boguljubow, Deutschlands Brett 1, gewann mit 12,5 aus 17 die Silbermedaille am ersten Brett.
Das U Novákú existiert heute noch, aber Schach wird dort nicht mehr gespielt.
U Novákú heute | Foto: Claudia Mätzold
Ein andere Sehenswürdigkeit, die das Flair der Vergangenheit Prags lebendig werden lässt, ist die Lucerna Passage in der Vodickova 704/36, ebenfalls nahe des Wenzelplatzes. Die Passage wurde zwischen 1907 und 1921 erbaut und gilt als Musterbeispiel für die Architektur der frühen Moderne. Im sogenannten "Velký Sal", dem "Großen Saal" der Lucerna Passage, spielte Mihail Tal 1961 ein Simultan, das in der Erinnerung vieler Prager Schachspieler noch heute lebendig ist.
Mihail Tal beim Simultan in Prag | Foto: Archiv Pavel Matocha
Der Eingang zum Velký Sal | Foto: Claudia Mätzold
Auch auf dem Dach des Gebäudes, in dem sich die Lucerna Passage befindet, wurde schon Schach gespielt. Pavel Matocha, der Veranstalter zahlreicher origineller Schachevents, hat dort einmal ein Simultan organisiert. Matocha versteht es, die Sehenswürdigkeiten und Attraktionen Prags mit Schach in Verbindung zu bringen. Seit 2003 organisiert er im Rahmen der CEZ-Trophy regelmäßig Wettkämpfe, in denen tschechische Spitzenspieler gegen internationale Spitzenspieler antreten. Im ersten dieser Wettkämpfe traf der damals bereits 72 Jahre alte Viktor Kortschnoi auf den 18-jährigen David Navara. Navara gewann den Wettkampf, der über zwei Partien ging, mit 1,5-0,5.
Mittlerweile haben diese Wettkämpfe eine lange Tradition und 20 Jahre später, im Juni 2023, trat Alexei Shirov gegen den jungen Tschechen Thai Dan Van Nguyen in einem Schnellschachwettkampf über acht Partien an. Nach spannendem Verlauf gewann Shirov mit 5-3.
Gespielt wurde im geschichtsträchtigen Grégr-Saal des Gemeindehauses in Prag, wo 1918 die Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakei unterzeichnet wurde. Nach seinem Wettkampf gegen Nguyen spielte Shirov dort noch ein Simultan und meinte anschließend, er hätte noch nie in einem so schönen Raum ein Simultan gespielt.
Die Spuren der Schachgeschichte in der Lucerna Passage sind unauffällig, ganz anders als die große Statue im Gebäude, die einen Reiter auf einem Pferd zeigt, das mit dem Kopf nach unten von der Decke hängt.
"Der heilige Wenzel auf dem toten Pferd" von David Černý | Foto: Claudia Mätzold
Die Skulptur stammt vom Prager Künstler David Černý und parodiert die berühmte Statue von Kaiser Wenzel, die sich auf dem Wenzelsplatz in Prag befindet und täglich Hunderte von Touristen anlockt.
Černý hat zahlreiche Aufsehen erregende Werke geschaffen. Zum Beispiel das "Ausreisedenkmal", der an der Deutschen Botschaft in Prag steht, einen Trabi mit vier Rädern, der an das Jahr 1989 erinnert, als viele Ostdeutsche im Sommer vor dem Mauerfall am 9. November versuchten, über die Tschechoslowakei in den Westen zu kommen.
"Ausreisedenkmal" | Foto: Jürgen Regel, Marian... | Wikipedia
Auch die riesigen Plastiken der Kinder, die den Prager Fernsehturm hoch und hinunter krabbeln, stammen von Černý.
Foto: Wayne Noffsinger, Wikipedia
Der Fernsehturm ist mit seinen 134 Metern Höhe ein Wahrzeichen der Stadt und leuchtet nachts in Rot, Blau und Weiß, den Farben der tschechischen Flagge.
Unweit des ehemaligen Schachcafés U Novákú, direkt über der Metrostation Národní, steht seit November 2014 das vielleicht bekannteste Werk Černýs: Eine elf Meter hohe und 39 Tonnen schwere Skulptur des Kopfes von Franz Kafka, der sich durch 42 bewegliche Strukturen permanent in Bewegung befindet.
Foto: Claudia Mätzold
In dieser fortwährenden Bewegung kann man eine Anspielung auf die Erzählung "Die Verwandlung" sehen, eine der bekanntesten Geschichten Kafkas. Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren und starb kurz vor seinem 41. Geburtstag am 3. Juni 1924 im Sanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg in Österreich an Tuberkulose.
Begraben liegt der berühmte Schriftsteller jedoch auf dem neuen jüdischen Friedhof im Prager Stadtteil Žižkov, direkt gegenüber vom Hotel Giovanni, seit 2019 Austragungsort des Prager Schachfestivals. Die 6. Ausgabe des Schachfestivals findet vom 26. Februar bis zum 7. Februar 2024 statt und lädt wieder dazu ein, in Prag Schach zu spielen und die vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besuchen.
Webseite des Prager Schachfestivals...