Praggnanandhaa in Wijk aan Zee: Eine Analyse

von Thorsten Cmiel
02.02.2022 – Beim Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee werden stets viel versprechende Talente eingeladen. Praggnanandhaa Rameshbabu gab sein Debüt im Masters. Talentbeaobachter Thorsten Cmiel analysiert die Partien und den Turnierverlauf des | Fotos: Lennart Ootes, Jurriaan Hoefsmit (Tata Steel Chess Tournament 2022)

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Wijk aan Zee 2022. Praggnanandhaa. Pragg.

Erstmals ein Turnier wie das Masters im Traditionsturnier in Wijk aan Zee mitzuspielen, dürfte für jeden Großmeister etwas Besonderes sein. Für Pragg (2005 geboren) war die 84te Ausgabe nicht das erste Turnier in Wijk: 2019 hatte der Inder zusammen mit Vincent Keymer (2004) und Andrey Esipenko (2002) in der B-Gruppe gespielt. Der Youngster ist erst inzwischen erst 16 Jahre alt.

2022 reiste Pragg mit seinem langjährigen Coach Ramesh in die Niederlande. Der übernahm vor allem die Eröffnungsvorbereitung. Die beiden Inder teilten, wie in größeren indischen Reisegruppen üblich, ein Hotelzimmer. Der Schock war groß als zur dritten Runde Ramesh ein positives Testergebnis erhielt. Bei Ramesh zeigten sich typische Symptome, die Organisatoren reagierten sofort und besorgten Pragg ein eigenes Zimmer. Er wurde ebenfalls täglich getestet, zum Glück fielen seine PCR-Tests sämtlich negativ aus. Pragg entschied sich während sämtlicher Runden mit Maske zu spielen. Am Tag der neunten Runde kam dann Entwarnung, sein Coach bekam ein negatives Testergebnis und nahm später sogar noch an der Siegerehrung teil. Man sollte die Umstände des Turniers nicht unterschätzen, ob sie Praggs Spiel wesentlich beeinträchtigt war, kann man von außen nicht gut beurteilen. In jedem Fall folgte nach Runde 4 für Pragg eine ziemlich durstige Phase, in der er nur einen halben Punkt aus fünf Partien holte. Betrachtet man die Partien im Detail, dann wird deutlich, es war viel mehr drin.

Turnierverlauf

Das Turnier begann mit für den Inder mit zwei recht unspektakulären Partien gegen Anish Giri und Jan-Krzystof Duda. In der dritten Runde spielte Pragg gegen den Titelverteidiger Jorden van Foreest. Dieser setzte seinem Gegner bereits im dritten Zug eine eher seltene Fortsetzung vor. Pragg reagierte ausgezeichnet bis zu diesem Zeitpunkt.

 

Momentaufnahme 1 (Stellung vor 13….Le6)

Bis hierhin hatte Weiß recht zügig einen Bauern gegeben und besitzt als Kompensation dafür eine halboffene f-Linie und übt mittelbar Druck gegen den Bauern f7 aus. Allerdings ist nicht erkennbar, dass der Bauer f7 jemals gut zu schlagen wäre. Ein verständlicher schwarzer Zug könnte hier 13...Kh8 sein, um auf 14.Lg5 einfach den Springer nach g8 zurück zu beordern. Schlägt Weiß dann auf f7, folgt die Entwicklung des Läufers nach e6 und Weiß muss die Dame geben. Die Maschine will, statt den Läufer nach g5 zu entwickeln, den Läufer nach d2 stellen. Dann könnte Schwarz seine Königsstellung auf h8 nutzen und mit 14…e4!? den Bauern zurück geben. Nach 15.Sxe4 folgt der Zwischenzug 15...Lg4 und danach schlägt Schwarz auf e4 und bringt den a-Turm über e8 ins Spiel. Angemerkt sei, dass dieses Manöver mit einem König auf g8 an Sxf6+ gescheitert wäre.

Der gespielte Zug war ein Schock vermutlich nicht nur für Zuschauer, sondern auch seinen Coach: Der junge Inder konnte das ihm gestellte Problem offenkundig nicht lösen und zog seinen Läufer in der Diagrammstellung nach e6, um nach Abtausch vier isolierte Bauern zu besitzen. In der Folge revanchierte sich der Niederländer zunächst und Pragg war dem Ausgleich nahe. Stattdessen opferte er einen Bauern und stand schnell auf verlorenem Posten. Eine missglückte Partie an einem unglücklichen Tag.

In der nächsten Runde trat Pragg gegen den Schweden Nils Grandelius an. Der Inder spielte die Eröffnung aggressiv und öffnete die h-Linie. Nils Grandelius kam nicht gut zurecht mit der gegnerischen Spielweise und stand auf beiden Seiten des Brettes auf verlorenem Posten: auf der einen Seite positionell wegen der weißen Felder und auf der anderen Seite war die a-Linie ganz in indischer Hand. Im 40. Zug wurde es kurz dramatisch und es schien als könne der Schwede noch etwas Gegenspiel generieren. Nachdem sich der Rauch jedoch verzogen hatte und beide Spieler wieder eine Stunde für die nächsten zwanzig Züge dazu bekamen, fand Pragg zügig eine überzeugende Lösung.

 

Momentaufnahme 2 (vor dem Zug 42.Txc7)

In der Diagrammstellung folgte 42.Txc7, wonach die schwarze Stellung schnell in sich zusammenbrach.

In der fünften Runde folgte, mit bis dahin zwei Punkten aus vier Partien, die Schlüsselpartie für den weiteren Verlauf. In Wijk ist das Turnier weitgehend zeitlich entzerrt. Nach den Runden vier und acht sowie nach Runde zehn sind Ruhetage vorgesehen. In jedem Fall war Pragg wie zuvor bestens präpariert und er war in der folgenden Diagrammstellung am Zug.

 

Momentaufnahme 3 (vor dem Zug 14….Kf8)

Hier konnte Schwarz sein mutiges bisheriges Eröffnungsspiel mit dem einengenden Zug 14...e4 krönen. Weiß muss danach irgendwie seine Entwicklung vollenden und es ist nicht leicht zu erkennen wie er das bewerkstelligen will. Seine Dame auf g3 ist nur scheinbar ein gefährliche Figur, vor allem behindert sie die Entwicklung des eigenen Königsflügels. Anzumerken ist vielleicht noch, dass Lg5-h6 wegen der Riposte Sh5 keine ernsthafte Drohung darstellt. In der Diagrammstellung zog Pragg den geheimnisvollen Zug 14….Kf8. Man kann über die Gründe für diesen Zug nur spekulieren. Der Zug scheint etwas zu prophylaktisch gedacht zu sein. Pragg will zudem den gegnerischen Läufer mit seinem h-Bauern attackieren und den Gegner zu einer Entscheidung (den Springer auf f6 schlagen oder nicht) zwingen. Aber Weiß hatte eine gute Antwort:

Richard Rapport konnte nach der Ungenauigkeit seines Gegners die konkrete Situation nutzen und selbst 15.e4 spielen. So hatte es Klaus Bischoff bei seinen Live-Kommentaren vorgeschlagen. Stattdessen zog der Ungar seine Dame nach b3. Mit zwei Zügen Verspätung setzte Pragg also doch noch durch. In der nächsten Diagrammstellung stand der Inder vor einer weiteren wichtigen Entscheidung.

 

Momentaufnahme 4 (vor 17….d3)

Die Stellung sollte er weiterhin dynamisch behandeln und seinen Springer hier nach e5 stellen. Die darauf folgenden Varianten sind gar nicht kompliziert zu berechnen. Daran dürfte es nicht gescheitert sein. Pragg hat seine Gedanken aber vermutlich an dieser Stelle falsch kanalisiert und zu sehr auf das Einengen der gegnerischen Stellung durch den Zug 17….d3 gesetzt. Schade. Das war die zweite Chance auf klar vorteilhafte Aussichten in dieser Partie.

Richard Rapport gelang es danach zunächst seine Stellung entscheidend zu konsolidieren und nach Erobern der a-Linie die Initiative an sich zu reißen. Dann allerdings fand der Ungar nicht den besten Weg, um die Stellung zu verwerten und Pragg hatte zuletzt in der nächsten Diagrammstellung seine letzte Chance in dieser Partie.

 

Momentaufnahme 5 (vor 31...Tf6)

Soll Pragg hier den Turm auf d2 tauschen und darauf vertrauen, dass Weiß danach nie mit beiden Figuren und zuletzt mit dem König auf e4 nehmen kann, da dann der Bauer d3 umwandelt? In einer praktischen Partie fühlt sich die Welt oft schwieriger an. Allerdings ist der alternativ gespielte Zug 31….Tf6 schon extrem hässlich und verlor in der Folge nach einigen genauen Zügen des Anziehenden.

In der sechsten Partie folgte ein wenig spektakuläres Remis gegen Sam Shankland in der Svechnikov-Variante. Pragg war erneut hervorragend präpariert.

Weiter ging es mit der ersten Partie gegen einen amtierenden Weltmeister mit klassischer Bedenkzeit. Magnus Carlsen stand nach der erneut guten Vorbereitung von Pragg anfangs mit Schwarz eher etwas schlechter. In der folgenden Partiestellung hatte der Inder einen freien Zug, um seine Stellung zu verstärken oder die richtigen Figuren zu tauschen.

 

Momentaufnahme 6 (vor 19.Dd2)

Ins Auge springt der spannende Zug 19.La8. Schwarz „drohte“ mit seinem b-Bauern den weißen Springer auf c3 zu befragen und Weiß benötigte dafür eine gute Antwort. Durch den Zug des Läufers nach a8 räumt Weiß das Feld d5. Pragg kam auf eine andere Idee und wollte stattdessen seine Dame etwas besser stellen und zwar nach f4. Das kostet hier jedoch wertvolle Zeit in einer dynamischen Stellung. Vielleicht träumte er von einem Schlagen auf f7. Und folgendem e4-e5. Es gab in der Folge für Pragg noch die Chance auf etwas mehr Gegenwehr, aber das änderte nichts mehr am Resultat.

In der nächsten Runde verlor Pragg gegen Shakhriyar Mamedyarov, der sich eine Nebenvariante zurecht gelegt hatte. Pragg entschied sich mit einer sehr aggressiven Spielweise dagegen zu halten, er geriet jedoch nach einem unvorsichtigen Zug früh in Entwicklungsrückstand und der Azeri zeigte wie stark zwei verbundene Bauern im Zentrum sind.

In der neunten Runde spielte Pragg eine aufwühlende Partie gegen Sergey Karjakin. Nach einigen guten Chancen und zuletzt einer nicht sehr guten Phase in welcher der Russe sein ganzes Können zeigte, um die Partie weiter auf Gewinn spielen zu können, musste Pragg unter erheblichem Zeitdruck genau im 40. Zug mit Weiß eine wichtige Entscheidung treffen.

 

Momentaufnahme 7 (vor 40.c6)

Eine Stellung mit Gretchenfrage. Wie hältst Du es mit 40.c6? Oder soll Weiß den anderen Bauern nach h6 ziehen? In beiden Fällen geht es darum, die Bauern schnellstmöglich nach vorne zu werfen, aber auch darum, den c-Bauern mit dem Springer zu unterstützen. Selbst ein Schnellrechner wie der junge Inder dürfte die Entscheidung hier nach Gefühl getroffen haben. Pragg spielte hier 40.c6 und nach 40….Kxf4 wäre die Partie sogar zugunsten des Weißspielers ausgegangen. Aber Karjakin fand stattdessen den bärenstarken Zug 40….e5!, um nach Schlagen auf e5 den Zwischenzug des Turmes nach c8 auszupacken. Danach kommt der Nachteil des letzten weißen Zuges zum Vorschein: Der Bauer c6 droht mit Schach geschlagen zu werden. Tragisch für Pragg war, dass nach dem anderen Bauernzug 40.h6 die Partie vermutlich Remis ausgegangen wäre.

Am indischen „Republic Day“ kam es zur Begegnungs mit seinem Landsmann Gujrathi Vidit, der bis dahin sehr erfolgreich zu Werke ging. Es kam zunächst zu einem kleinen Theorie-Duell, bei dem Pragg ein kleines Detail bei der Zugfolge nicht beachtete und in großen Nachteil geriet. Vidit revanchierte sich später und die  Partiebewertung ging in der Folge mehrfach hin und her. Letztlich gewann der jüngere Inder die Partie nach beidseits großem Kampf erneut in einer Wijker Seeschlange. Nach zuletzt einem halben Punkt aus fünf Partien war der Negativtrend für Pragg gestoppt und bei Vidit tragischerweise eine negative Serie eingeleitet. Der PCR-Test von Coach Ramesh fiel an diesem Tag erstmals wieder negativ aus. Es folgte der letzte Ruhetag. Am nächsten Spieltag wurde bekannt, dass Daniil Dubov, in dessen Umfeld es zuvor ebenfalls einen Corona-Fall gegeben hatte, jetzt selbst wegen eines positiven Tests aus dem Turnier aussteigen würde. Für Pragg standen also nur noch zwei Partien an. Nach bislang sechs Schwarzpartien in zehn Runden blieb ihm wenigstens ein ausgeglichenes Farbkonto.

Die Entscheidung in der Partie gegen Fabiano Caruana fiel in etwa der folgenden komplexen Diagrammstellung. Weiß hatte bisher sehr verpflichtend gespielt als er mit seinem Springer zuvor auf e5 den Tausch der Springer zugelassen hatte. Pragg entschied sich dafür jetzt den Gegner zu zwingen seinen Springer nach f8 zu ziehen. Dafür sind die Züge 21.Dc2 und 21.Dd3 geeignet. In jedem Fall folgt 21….Sf8.

 

Momentaufnahme 8

Auf d3 stünde die Dame besser, da Schwarz durch die fehlende taktische Gegenüberstellung (Dc2-Tc8) später in der Partie für Schwarz b6-b5 nicht einfach durchsetzen ist. Pragg fand zudem in den nächsten zwei Zügen kein gutes Figurenmanöver für seinen Springer und geriet ins Hintertreffen. Der US-Amerikaner gewann in der Folge überzeugend.

Nach einem weiteren Ruhetag überraschte Pragg vermutlich seinen Gegner mit der Eröffnungswahl der aggressiven Sämisch-Variante gegen den Nimzoinder von Esipenko. Diese Wahl erwies sich als ausgezeichnet und Pragg gewann die finale Partie nach einer kurzen technischen Orientierungsphase. Wie ging es hier für Weiß weiter? Es reicht einen Schlüsselzug zu finden.

 

Momentaufnahme 9 (Stellung vor 56. La4)


Partien

 

 

Fazit

Pragg erzielte viereinhalb Punkte aus den gespielten zwölf Partien. Er gewann drei Partien. Seine Performance brachte ihm ein Plus von knapp sieben Ratingpunkten. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass der Youngster mit Abstand der ratingschwächste Spieler im Feld war. Vor dem Turnier war Pragg daher sicherlich auf der schachlichen Speisekarte der anderen Protagonisten. Die Partien von Pragg waren ausreichend komplex, um äußerst interessante Stellungen und Chancen für einen ganzen Punkt zu schaffen. Sicherlich spielt eine Rolle, dass vermutlich jeder Gegner gegen Pragg gewinnen wollte. Anders als in seinen Turnieren zuvor war Zeitnot diesmal nur selten entscheidend. Der Inder war meist bestens vorbereitet und geriet dadurch selten bereits in der Eröffnungsphase unter zeitlichen Druck. Nicht unerwartet sind die Manövrierkünste des jungen Inders weniger ausgeprägt als bei seinen Gegnern der Weltklasse. In manchen Situationen wirkte das Spiel von Pragg zögerlich. Bewährt hat sich, dass Pragg vor allem mit Weiß eine gewisse Grundaggressivität mitbrachte.

Bei der Siegerehrung

Im Vergleich zu anderen Spielern der Leistungsklasse von Pragg hat er nach der Pandemie keinen Raketenstart hingelegt. Seine Rating stagniert daher schon etwas länger. Hoffentlich hilft ihm die Teilnahme als regulärer Spieler bei der „Meltwater Champions Chess Tour“ sich weiter an die Weltspitze heranzutasten. Diese startet Ende Februar 2022.

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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