IM ZEICHEN DES SCHACHBRETTS
Im Harzer Schachdorf Ströbeck dreht sich alles um das
Schachspiel- seit über tausend Jahren. Die nahegelegene Domstadt Halberstadt
bietet aber auch all jenen attraktive Ausflugsziele, die gelegentlich eine
Spielpause einlegen möchten
Von Peter Münder
Für Pokerspieler ist Las Vegas mit der WM in
Binion´s Horseshoe Casino das ultimative Dorado, Tennis-Fans träumen von
Wimbledon, aber Schachspieler? Manche Schach-Fans pilgern wohl nach Reyjkavik,
um in der Kongresshalle den legendären WM-Sieg von Bobby Fischer über den Russen
Boris Spasski irgendwie nachzuerleben, der ja zum erbitterten West-Ost Showdown
während des Kalten Krieges entartet war. Aber nur wenige haben sicher schon vom
spektakulären Lebendschach-Festival im Harzer Schachdorf Ströbeck gehört.
Mein Caissa-Schachfreund Günter hatte unsere touristischen Schach-Exkursionen
mit einem Trip ins brandenburgische Thyrow angekurbelt, wo der berühmte deutsche
Schachweltmeister Emanuel Lasker (1868-1941) sein Sommerhaus hatte. Von diesem
Refugium des am längsten amtierenden (27 Jahre!) ehemaligen Weltmeisters waren
zwar nur kümmerliche Rudimente geblieben, aber wir ließen uns dadurch nicht
entmutigen und wollten nun das romantische, acht Kilometer westlich von
Halberstadt liegende Schachdorf Ströbeck besuchen, in dem sich alles um das
Schachspiel dreht.

Schon die ersten Hausfassaden signalisieren mit ihren liebevoll an den Giebeln
montierten Schachbrettern: Hier steht alles im Bann des königlichen Spiels.

Bei der Suche nach unserem Quartier
passieren wir den Schachturm, gelangen dann an den „Platz zum Schachspiel“ und
halten direkt vor dem Schachmuseum, das wir später besichtigen.

Als wir uns im gegenüberliegenden
Schachladen der sympathischen Frau Krosch, der Ehefrau des Bürgermeisters Rudi
Krosch, melden, um unser Quartier zu beziehen, lautet ihre erste Frage:
„Brauchen Sie noch ein größeres Brett?!“


Sie meinte tatsächlich ein Schachbrett und
kein Bett! Dabei hatte sie schon ein mittelgroßes ausklappbares Schachbrett ins
Zimmer gestellt. Da geht natürlich jedem Schachspieler das Herz auf, vor allem,
wenn man dann noch im Schachladen all die herrlichen Schachbücher,
handgefertigten Holzbretter, Schoko-Schachfiguren, Taschen mit
Schachbrettmustern und die mit Schachfeldern dekorierten Gardinen erspäht.

Wir wunderten uns allerdings, als wir beim
kleinen Bäcker am Schachplatz Kaffee tranken und an der Theke Brötchen
erspähten, die tatsächlich keine Schachbrettmuster hatten. Waren wir hier etwa
unter abtrünnigen Skatspielern gelandet? Keineswegs: „Torten mit
Schachbrettmuster kann ich Ihnen natürlich anbieten“ beruhigte uns die nette
Bäckerin, „aber keine Brötchen. Ich bin ja selbst begeisterte Schachspielerin,
war früher auch in der Schulschachtruppe und weiß natürlich immer noch ganz gut,
wie man die Spanische Partie richtig behandelt“.
Ein Rundgang durch den heimeligen, über
tausend Jahre alten Ort mit genau 1183 Einwohnern belebte sofort unsere wegen
des Dauerregens leicht bedrückte Stimmung: Fachwerkhäuser wie aus dem
Bilderbuch, aus leeren Flaschen montierte Kronen und Körbe auf Häusersimsen, ein
„Gasthof zum Schachspiel“, schließlich ein „Gasthaus Prinz von Preußen“- das
alles wirkte wie ein Blick ins Postkartenalbum einer romantischen
Heile-Welt-Epoche. Wie kam es also zur allgemeinen Schachbegeisterung in
Ströbeck?
Um diese Hintergründe der allgemeinen
Schachbegeisterung zu eruieren, besuchten wir das schöne, im großen Stil
restaurierte Museum, in dem sogar ein Trauzimmer untergebracht ist. Im
Medienraum zeigte uns die freundliche Museumsangestellte Nancy Anglett einen
Film über Ströbeck und seine Geschichte,

... im ersten Stock gibt es historische
Photos, Namenslisten berühmter Teilnehmer an Simultanturnieren, Urkunden der
Lasker-Schachschule sowie ein dreidimensionales Schachspiel.





Und im Keller kann man Porträts der
berühmten Weltmeiser Capablanca, Aljechin u.a. bestaunen.






Etliche Bilder und Stiche verdeutlichen,
worauf die Schach-Manie der Ströbecker beruht und auf welche Legenden sie
zurückgeführt wird. Im Grunde illustriert sie nur die grenzenlose Dankbarkeit
der Einwohner, die sich dafür erkenntlich zeigten, dass ihnen ein um 1000 n. Chr.
im Turm eingesperrter Fürst, der von den Ströbeckern trotz allgemeiner
kriegerischer Auseinandersetzungen gut behandelt wurde, das Schachspielen
beibrachte.




Es gibt noch andere Versionen dieser
Legende- mit kirchlichen und anderen Würdenträgern als Hauptfiguren- aber es
geht immer um die Dankbarkeit der Ströbecker, denen die Gnade früher
Schachlektionen zuteil wurde, was sie seit eintausend Jahren mit dem
beeindruckenden Lebendschach und anderen Schachritualen zelebrieren.
Nur wenige Schritte entfernt, direkt neben
dem Schachturm, hat der seit 1883 existierende Schachklub sein Spiellokal. Wir
platzten am Spielabend in ein Gespräch über Fördermaßnahmen für das Jugendschach
und spürten so, dass das Engagement der Jugendlichen zu bröckeln beginnt, weil
es nach der Gebietsreform kein Gymnasium mehr in Ströbeck gibt und Schach als
Pflichtfach- seit Jahrzehnten in der DDR angeboten- nur noch in der 2.-4.
Grundschulklasse praktiziert wird. Am Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Halberstadt
wird Schach nun nur noch als Neigungsfach- allerdings von zwei sehr engagierten
Trainerinnen- angeboten.
Es war jedenfalls ein äußerst gemütlicher
Abend mit den gutgelaunten Schachfreunden. Nach einigen Blitzpartien plauderten
wir über die Vereins-Aktivitäten und erfuhren viel über das holländische
Partnerstädtchen Wijk aan Zee, wo ja regelmäßig zum Jahresanfang ein
internationales Großmeisterturnier stattfindet.


Die Ströbecker Spieler reisen schon seit
einiger Zeit dorthin und nehmen an einem Parallel-Turnier für „normale“
Club-Spieler statt. „Wir kommen dort immer privat unter und fühlen uns wie bei
Freunden zu Haus- es ist jedenfalls eine wunderbare, harmonische Atmosphäre und
die legendären Großmeister wie Anand, Topalov, Short oder das junge norwegische
Genie Carlsen kann man dort auch am Brett erleben, einfach wunderbar!“ schwärmt
Christian Harig, der für die Jugendarbeit zuständig ist. Auch die Holländer
sind regelmäßig zu Gast in Ströbeck- das ist ein ganz neuer, europäischer Geist,
der früher undenkbar war.
Wir Hamburger Caissa-Besucher erwärmten uns
jedenfalls schnell für die gesellige Ströbecker Club-Atmosphäre: Man schwatzt
munter über Neuigkeiten aus dem Dorf, greift sich aus den beiden Bierkästen
eine Flasche und spielt eher nebenher seine Partien.

Von verbissenem Kampf oder einer „Mutter aller Schlachten-Militanz“ war hier
jedenfalls nichts zu spüren. Ein Blick auf die mit Urkunden und Auszeichnungen
dekorierten Wände zeigte, dass man die DDR-Epoche keineswegs ausblendet, und das
ist auch gut so und ganz spannend. Warum sollte man auch ausgerechnet diesen
besonders erfolgreichen Schachsektor verdrängen? So entdeckte ich etwa eine aus
FDJ-Zeiten stammende Urkunde, die im Juli 1971 dem Schulklassenkollektiv der 5A
überreicht wurde „Für vorbildliche Arbeit bei der Erfüllung des
Pionierauftrags“, wie es hieß.

In dicken roten Lettern prangt darüber die
Losung: „An der Seite der Genossen- vollbringt hohe Leistungen zu Ehren der
DDR“. Diese vom Zentralrat der FDJ überreichte Ehrenurkunde war von Egon Krenz,
dem späteren prominenten, meist alkoholisierten Unglücksraben, unterzeichnet- da
spürt man schon den Hauch der Geschichte.
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Kleiner Exkurs nach Halberstadt: Tipps
für Besucher, die auch mal spielfrei haben wollen
Das acht Kilometer entfernte Halberstadt
hatte etliche Attraktionen abseits des Schachbretts zu bieten, die wir uns nicht
entgehen lassen wollten. Da die Zeit nicht mehr für die Besichtigung des
legendären Domschatzes reichte, besichtigten wir nur den beeindruckenden
gotischen Dom, der im Jahr 992 in Anwesenheit von König Otto III. geweiht wurde,
hörten mittags ein Orgelkonzert und besuchten das Gleimhaus direkt am Dom, das
zahlreiche literarische Raritäten enthält. Der aus Halberstadt stammende Dichter
und Domsekretär JWL Gleim (1719-1803) war ja Zeitgenosse Goethes und Schillers,
Mäzen etlicher verarmter Literaten (darunter auch Schachfan Wilhelm Heinse,
Autor von „Anastasia und das Schachspiel“) und stand in Kontakt mit fast allen
seiner bekannten literarischen Zeitgenossen. Eine umfassende Ausstellung zeigte
herrliche Porträts, seinen Stuhl, in den er sich zum Schreiben wie in einen
Betstuhl hineinkniete, Teile seiner Bibliothek und die Originalbriefe von und
an Ewald von Kleist- einfach spannend. Nur die Frage, ob Gleim auch
Schachspieler war, blieb leider ungeklärt. Jedenfalls ist ein Ausflug nach
Halberstadt sehr lohnend.
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Zum Abschluß führten wir im Schachladen ein
Gespräch mit Bürgermeister Rudi Krosch und seiner Ehefrau Renate, einer
ehemaligen Lehrerin. Das Lebendschach und dessen positive, den Tourismus
beflügelnden Faktoren kommen zur Sprache, dann aber auch die paneuropäische
Schach-Schiene.

Denn die zwölf Mitgliederdörfer im Verband
„Kulturelles Dorf Europas“ pflegen den regelmäßigen Austausch mit den anderen
Dörfern in England, Italien, Holland, Frankreich, Tschechien, Österreich, u.a.
So kommt es zu wechselseitigen Besuchen, sogar zum großen Besucheransturm wie
2006, als Ströbeck zum „Europäischen Kulturdorf“ ernannt wurde.

Renate Krosch war immer noch begeistert vom
letzten Besuch im italienischen Partnerdorf Pergine Valdarno , wo die
Ströbecker sehr herzlich aufgenommen wurden. Man machte auch einen Exkurs nach
Venetien, um in Marostica eine Lebendschach-Vorstellung zu erleben, die so
märchenhaft-pittoresk war, dass sich selbst die Ströbecker Schach-Routiniers
verblüfft die Augen rieben. Denn die Lebendschach-Partien wurden vor einem
malerischen riesigen Kastell mit herrlichen mittelalterlich kostümierten Figuren
und vier Pferden als Springerfiguren aufgeführt. „Ja, das sind wirklich
spannende, tolle Begegnungen, aber speziell dieses Treffen mit den
Lebendschach-Kollegen in Italien war absolut euphorisierend“, konstatiert der
sympathische Rudi Krosch, der schon zwanzig Jahre im Amt ist.
Als man vor einigen Jahren beschloß, Ströbeck die offizielle
Bezeichnung „Schachdorf“ zu verleihen, gab es einen Bürgerentscheid, der
sich mit 99,5 Prozent für dieses Vorhaben aussprach. „Das war ja ein so
überwältigendes, eindeutiges Resultat wie zu Volkskammerzeiten“, meint Rudi
Krosch schmunzelnd. „Aber hier stehen wirklich alle zu unserer
Schachtradition. Und das ist auch gut so.
Denn mit unseren Schachaktivitäten haben wir einen
vitalisierenden Dynamo, der für Schwung und belebende Perspektiven sorgt.
Ohne unsere Schachtradition wäre Ströbeck nur ein weiteres unbedeutendes,
zur Stagnation verdammtes Dorf, das niemand kennt“. Wir würden als
begeisterte Ströbeck-Fans, die überall so herzlich empfangen wurden, noch
hinzufügen: Ohne Schach wären die Ströbecker vielleicht auch nicht ganz so
gut drauf.
Info:
Das Schachdorf Ströbeck liegt zwischen Goslar und Halberstadt (8 km westl. von
Halberstadt)
Schachmuseum:
Platz am Schachspiel 97
38822 Schachdorf Ströbeck
(geöffnet Di. Mi. Fr. 10-12 u. 13-16 Uhr, Do 13-18 , Sa 14-17. So 10-12 Uhr
Tel. 039427 99850
Schachladen/ Schachverlag
Renate Krosch: Platz am Schachspiel 55, Tel. 039427 96173
www.schach-renate-krosch.de
Lebendschach-Turnier:
Vom 29.-31. Mai 2010
Halberstadt/Tourismus-Info:
Hinter dem Rathause 6, Tel. 03941- 551815
www.halberstadt.de
Domschatzverwaltung:
Domplatz 16a, 38820 Halberstadt, tel. 03941 24273
www.dom-und-domschatz.de
Gleimhaus:
Domplatz 31, Tel. 03941 68710
www.gleimhaus.de
Geöffnet Di-Fr 9-17 Uhr (Mai-Oktober), 9-16 Uhr (November-April), Sa/So:
10-16 Uhr (ganzjährig)