Russische Meisterschaft ohne
Karpow und Kramnik
Von Dagobert Kohlmeyer, Moskau
In Moskau beginnt am Montagnachmittag das Superfinale der russischen
Landesmeisterschaft. Es sollte das Schachereignis des Jahres in der russischen
Hauptstadt mit weltweiter Beachtung werden. Aber noch ehe das Turnier eröffnet
wurde, haben die Absagen zweier Weltmeister einen großen Schatten auf die lang
erwartete Veranstaltung geworfen. Nachdem Wladimir Kramnik (Foto)
schon in der vergangenen Woche
überraschend aus Krankheitsgründen seinen Verzicht erklärt hatte, setzte nun
Anatoli Karpow (Foto)
noch einen drauf und ließ
die Organisatoren buchstäblich einen Tag vor Eröffnung des Superfinales
ebenfalls im Regen stehen. Dabei hatte der 12. Weltmeister der Schachgeschichte
zur Auftaktpressekonferenz am Freitag noch unisono mit Garri Kasparow die große
Bedeutung des Turniers unterstrichen. Eine Landesmeisterschaft mit ähnlich
starker Besetzung gab es zuletzt 1988 in Moskau. „Damals hätte kein Spieler
abgesagt“, erklärte Kasparow im Brustton der Überzeugung vor den
Medienvertretern. Der Seitenhieb ging eindeutig in Richtung Kramnik, denn zu
diesem Zeitpunkt konnte Kasparow noch nicht ahnen, dass der neben ihm sitzende
Karpow wenige Stunden später dessen Beispiel folgen würde.
Nun, die letzte große Landesmeisterschaft in Moskau liegt 16 Jahre zurück. Es
waren sowjetische Zeiten, und kein Großmeister konnte es sich so einfach
erlauben, einen Rückzieher zu machen, ohne Schwierigkeiten mit den
Verbandsoberen zu bekommen. Doch nicht nur deshalb traten sie früher alle an.
Sie haben damals auch alle gern gespielt. Und heute? - Seither hat sich die
Situation drastisch verändert. Als langjähriger Beobachter der internationalen
Schachszene gewinnt man immer stärker den Eindruck, viele Spieler sind nicht
mehr verlässlich und handeln heute nur noch nach ihrem Gutdünken.
Bei Anatoli Karpow ist es nicht das erste Mal, dass er seine Anhänger und das
Schachpublikum in Moskau mit einem plötzlichen Sinneswandel überrascht. Im
Dezember 2001, als die FIDE-Weltmeisterschaft im K.-o.-System im Kreml
stattfand, wollten Karpow, Kasparow und Kramnik einige hundert Meter weiter im
berühmten Moskauer Säulensaal ein Dreiermatch austragen. Kurz vorher sagte
Karpow jedoch ab und spielte dafür bei der WM des Weltverbandes mit. Wie
seinerzeit zu hören war, für eine beträchtliche Summe, die ihm FIDE-Chef Kirsan
Iljumschinow zugesteckt haben soll. Kasparow und Kramnik trugen derweil ihr
Match für 500 000 Dollar allein aus.
Einen Ehrenkodex unter den Großmeistern gibt es längst nicht mehr. „Die Spieler
sind sehr egoistisch, brechen ohne Skrupel Verträge und verprellen damit
Veranstalter sowie Sponsoren“, erklärte ein empörter Schachfunktionär am
Sonntagabend beim Eröffnungsbankett der russischen Meisterschaft im Hotel „Rossija“.
In Falle des Moskauer Superturniers sind zwei große russische Banken und eine
Stahlfirma die Geldgeber. Sie werden sich über das Fehlen von Karpow und Kramnik
nicht gerade freuen. Der Preisfonds beträgt immerhin 130 000 Dollar, wobei es
für den Sieger 50 000 Dollar gibt.
Hier ein paar Fotoimpressionen von der Eröffnung, zu der beide russische
Nationalmannschaften für ihre Leistungen bei der Schacholympiade in Calvia
geehrt wurden.
Die Damen hatten Bronze, die Herren Silber geholt.
Ehrengäste des
Banketts waren u.a. Exweltmeister Wassili Smyslow und seine Gattin Nadjeshda
(Foto)
sowie Wartan Petrosjan, der Sohn
des früheren Weltmeisters Tigran Petrosjan. (Foto).
Nach eigener Aussage spielt der
heute 50-jährige Geschäftsmann aus Moskau kein Schach. Er verfolgt aber mit
Interesse das nationale und internationale Schachgeschehen und ist über alle
Entwicklungen informiert
Schachzar Garri Kasparow kam mit der ganzen Familie (3 Fotos): Mutter Klara,
Ehefrau Julia und Sohn Wadim verfolgten die Auslosung, die ergab, dass der
Turnierfavorit Nr. 1 in der ersten Runde am Montag gegen Jewgeni Barejew spielt.
Kasparow mit Familie
Julia und Wadim Kasparov
Kasparov mit Sohn Wadim
Zur Eröffnung erwähnte der Präsident des russischen Schachverbandes Alexander
Shukow (Foto)
nur mit einem Halbsatz den
Verzicht von Karpow und Kramnik. Die Landesmeisterschaft bleibe trotzdem eines
der stärksten Turniere weltweit.
Warum Karpow in letzter Minute noch absagte, wurde offiziell nicht mitgeteilt.
Offenbar schätzte der Exweltmeister seine Chancen zu gering ein, mit der starken
Konkurrenz im Lande noch Schritt zu halten. Hinzu kamen vielleicht auch
finanzielle Gründe. Das mag ja alles sein, aber warum Karpows Absage fünf
Minuten vor zwölf erfolgte, verstand keiner. Es häufen sich die Fälle, dass den
Schachstars heutzutage andere Interessen wichtiger sind als Turniergewinne und
Preisgelder, so dass sie ihre Zusage immer öfter zurücknehmen. Im Januar 2001
hatte auch Garri Kasparow kurzfristig einen Start abgesagt, und zwar beim
Turnier im ungeliebten Wijk aan Zee. Als Grund dafür wurde eine Virusinfektion
genannt. In diesem Sommer zog Supergroßmeister Alexander Morosewitsch aus
Russland wenige Tage vor der WM in Tripolis seine Teilnahme zurück, obwohl er
schon unterschrieben hatte. Diese wenigen Beispiele aus der jüngsten
Schachgeschichte sind unvollständig, zeigen aber einen Trend, wie sehr sich die
Zeiten und Sitten geändert haben.
Der Zufall wollte es, dass ich Karpows Ehefrau am heutigen Montag im Zentralen
Schachklub traf. Sie bestätigte, dass sich ihr Mann noch in Moskau befindet,
wollte aber ebenfalls keine Gruende für sein Fernbleiben vom Turnier nennen.
Was Wladimir Kramnik angeht, so war wegen seines WM-Kampfes gegen Peter Leko in
Brissago die Supermeisterschaft in Moskau extra von September auf November
verschoben worden. Noch vor zwei Wochen hatte der Weltmeister im klassischen
Schach in einem Interview mit der Moskauer Zeitung „Sport Express“ betont, er
werde bei der Supermeisterschaft auf jeden Fall spielen, schon dem neuen
Präsidenten des russischen Schachverbandes, Alexander Shukow, zuliebe. Der
Politiker ist nach Präsident Putin und Premierminister Fratkow quasi der dritte
Mann im Staat. Wenn selbst so hochrangige Politiker kein Schachgenie mehr an den
Spieltisch bekommen, scheint es um die Zukunft unseres ehrwürdigen Spiels nicht
gut bestellt zu sein.
Das endgültige Teilnehmerfeld der russischen Meisterschaft: Garri Kasparow,
Alexander Morosewitsch, Peter Swidler, Alexander Grischuk, Jewgeni Barejew,
Alexej Drejew, Vitali Zeschkowski, Wladimir Jepischin, Alexander Motyljow,
Artjom Timofejew, Alexej Korotyljew.
Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer