Sara Khadem - ein Portrait

von André Schulz
26.01.2023 – Mit Sara Kahdem hat das iranische Schach eine weitere Spitzenspielerin verloren. Die Schnellschach-und Blitz-Vizeweltmeisterin von 2018 ist mit ihrer Familie nach Spanien gezogen, will aber weiter unter iranischer Flagge spielen. Leontxo Garcia traf sie und veröffentlichte auf El Pais ein Portrait. | Foto: El Pais

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Der Vorläufer des Schachspiels wurde im 6. Jahrhundert in Indien erfunden. Persische Quellen berichten, dass der Gesandte eines indischen Rajs zu Zeiten des Sassanidenreiches (bis 642 n.Chr.) ein Schachspiel als Gastgeschenk an den persischen Königshof brachte, wonach das Spiel sich in Persien großer Beliebtheit erfreute. Es entstand eine reiche Schachliteratur. Die älteste aufgezeichnete Partie stammt aus dem 10. Jahrhundert. Die heutige Bezeichnung für das Spiel "Schach" geht auf das persische Wort "Schah" für König zurück. Im Laufe der Jahre verbreitete sich das Spiel auf verschiedenen Wegen in Asien und Europa. Seine Regeln veränderten sich dabei und in den verschiedenen Ländern entstanden ganz unterschiedliche Schachvarianten.

Nach der "Islamischen Revolution" von 1979 wurde Schach im Iran als "Glücksspiel" verboten, denn der Koran verbietet jedes Glücksspiel. Die damaligen iranischen Topschachspieler Sharif und Shirazi verließen das Land. Kurz vor seinem Tod 1989 hob Ayahtolla Khomeini das Glückspielverbot jedoch auf und im Iran kam es zu einem neuen Schachboom, der im Land viele Talente hervorbrachte.

Der Iranische Schachverband richtete große Turniere aus: 2000 wurde in Teheran das Finale der FIDE-Weltmeisterschaft zwischen Viswanathan Anand und Alexey Shirov gespielt. Zu Beginn der 2000er Jahre organisierte der Iranische Schachverband eine ganze Reihe von Asiatischen Jugendmeisterschaften. 2016 war Teheran Gastgeber eines Grand Prix-Turniers der Frauen und 2017 wurde hier sogar die K.o.-Weltmeisterschaft der Frauen durchgeführt. Die Teilnehmerinnen beider Turniere wurden allerdings gezwungen, sich für die Dauer des Turniers "der Landesitte anzupassen" und in der Öffentlichkeit eine Kopfbedeckung zu tragen. Die meisten Frauen verhielten sich "professionell" und folgten diesem Gebot. Einige Frauen verzichteten aber angesichts dieses Zwangs auf die Teilnahme an den Turnieren. Das Für und Wider wurde damals in der Schachwelt ausführlich diskutiert.

Im "Gottesstaat" des Irans überwacht ein allmächtige "Sittenpolizei" die Einhaltung der religiös begründeten Vorschriften und auch dieses Gebots mit brutaler Gewalt. Nachdem Mahsa Amini im September letzten Jahres im Gewahrsam der Sittenpolizei infolge von roher körperlicher Gewalt starb kam es im ganzen Land zu heftigen Protesten, die von den Herrschern des Landes rücksichtslos niedergeschlagen wurden. Obwohl der Iran weitgehend vom Rest der Welt abgeschottet wird, drangen Nachrichten über die unzähligen Todesopfer und über Hinrichtungen nach außen. Mehr als 18.000 Iraner sollen wegen der Proteste festgenommen worden sein.

Die jungen Schachtalente von einst sind inzwischen zu Spitzenspielern und Spitzenspielerinnen herangereift. Der bekannteste junge Schachgroßmeister aus dem Iran ist Alireza Firouzja, aber es gibt noch eine ganze Reihe anderer starker Spieler. Parham Maghsoodloo und M. Amin Tabatabaei spielen derzeit mit der Weltelite an den Tata Steel Turnieren in Wijk aan Zee.

Die Schachwelt trägt ihre Turniere und Wettkämpfe ungeachtet vieler politischer Konflikte zumeist friedlich und im sportlichen Wettstreit aus. Eine der ganz wenigen Ausnahmen wird durch den Iran verursacht. Wann immer ein iranischer Spieler in einem Turnier gegen einen Spieler aus Israel trifft, tritt er zur Partie nicht an und gibt sie lieber kampflos verloren. Die FIDE hatte vor einiger Zeit den Iranischen Schachverband aufgefordert, von dieser Praxis zu lassen, doch der Verband gab sich scheinheilig und behauptete gegen besseren Wissens, dies sei immer Entscheidung der Spieler und keine Anweisung "von oben". Das war gelogen. Die iranischen Spieler werden aus politischen Gründen gezwungen, sich so zu verhalten und wenn sie dem Gebot nicht Folge leisten, müssen sie mit Repressalien gegen sich oder ihre Familien rechnen. 

Bis zur "Islamischen Revolution" pflegten der Iran und Israel, die keine gemeinsame Grenze besitzen, freundschaftliche Beziehungen. Das änderte sich mit der Machtübernahme durch die Mullahs. Israel wurde neben den USA, dem "großen Satan" zum "kleinen Satan" erklärt. Die Ursprünge des neu entfachten Konfliktes gehen bis ins biblische Zeitalter zurück.

Als Ergebnis der Unterdrückung der Bevölkerung kann man im Iran seit Jahrzehnten einen Exodus der "Intelligenzia" beobachten, auch im Schach. Die guten Leute gehen weg, wenn sie es können.

Mit Alireza Firouzja hat das größte Schachtalent das Land zusammen mit seiner Familie schon vor ein paar Jahren verlassen. Er lebt jetzt in Frankreich und ist kosequenterweise auch in den Französischen Schachverband gewechselt. Auch andere Großmeister oder Großmeisterinnen suchten sich eine neue Heimat, in der sie nicht vom Staat permanent gegängelt werden.

Das jüngste Beispiel ist Sarasadat Khademalsharieh, oder kurz: Sara Khadem. Sie wurde 2014 mit erst 17 Jahren U20-Vizeweltmeisterin. In den Elolisten von 2017 wurde sie noch als drittbeste Spielerin U20 geführt. Ende 2018 gehörte Sara Khadem im klassischen Schach zu den Top 20 der Welt und wurde Vizemeisterin bei den Schnellschach- und Blitzschachmeisterschaften. Nachdem Alireza Firouzja den Iran verlassen hatte und dafür angefeindet wurde, drehte Sara Khadem ein Video zu seiner Unterstützung. Daraufhin erhielt sie keine Ausreiseerlaubnis für das Gibraltar-Turnier 2019.

Nachdem am 8. Januar 2020 ein ukrainisches Flugzeug nach dem Start aus Teheran "aus Versehen" abgeschossen wurde, mit 176 Toten, erklärte Sara Khadem aus Protest ihren Rücktritt aus der iranischen Nationalmannschaft und zog sich für eine Weile vom Schach zurück. Ihr Sohn wurde geboren und Sara Khadem legte eine Babypause ein. 

Bei der Schnellschach-und Blitzweltmeisterschaft 2022 in Almaty war Sara Khadem wieder dabei. Auch wenn sie mit ihrer hohen Elozahl und Setzlistennummer nicht ganz den Erwartungen entsprechen konnte, spielte Sara Khadem doch oben mit. Sie trat in Almaty unter iranischer Flagge an, spielte aber ohne Kopftuch, womit eigentlich klar war, dass sie ihr Heimatland verlassen will oder das schon getan hatte. Denn der iranische Gottesstaat möchte, dass seine Bürgerinnen auch im Ausland nach seinen Gesetzten lebt und verfolgt jeden Verstoß gegen die "heiligen" Gebote. Den Fall der Iranerin Shoyeh Bayat, die beim Weltmeisterschaftskampf zwischen Ju Wenjun und Aleksandra Goryachkina Anfang 2020 als Schiedsrichterin eingesetzt war, machte weltweit Schlagzeilen. Ihre Kopfbedeckung war verrutscht und sie wurde deshalb im Iran von einem Mullah öffentlich angegriffen. Aus Angst, verhaftet zu werden, kehrte sie nicht in ihr Heimatland zurück.

Mit ihrer Entscheidung, bei der Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaft ohne Kopftuch zu spielen, protestierte Sara Khadem gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran, die im Tod von Mahsa Amini nach der Festnahme durch die Sittenpolizei starb, einmal mehr ihren Ausdruck fand.

Tatsächlich ist Sara Khadem inzwischen mit ihrer Familie nach Spanien gezogen. Seit 2017 ist mit dem iranischen Filmemacher, Fernsehmoderator und Geschäftsmann Ardeshir Ahmadi (32) verheiratet, der auch noch eine kanadische Staatsangehörigkeit besitzt. Ihr gemeinsamer Sohn ist jetzt 10 Monate alt. Ardeshir Ahmadi hat persönliche Erfahrungen mit der staatlichen Gewalt im Iran. 2015 verbrachte er nach einem TV-Bericht über eine iranische Untergrund-Musikgruppe drei Monate im berüchtigten Evin-Gefängnis und wurde dort verhört.

Von Spanien aus will Sara Khadem ihre Schachkarriere weiterführen und will auch weiter unter iranischer Flagge spielen. Sie hoffte, dass sich die Verhältnisse in ihrem Heimatland ändern: "Der Iran wird bald ein besserer Ort sein."

Der bekannt spanische Journalist Leontxo Garcia traf Sara Khadem in Spanien an einem geheimen Ort und veröffentlichte ein Portrait der iranischen Spitzespielerin.

Zum Portrait in El Pais...


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.