23.06.2015 – Ein 30-stündiges Interview, eine siebenstündige Eisenbahnfahrt oder 24 Stunden Lachsfischen live im Fernsehen verfolgen? Das ist Slow TV und in Norwegen sehr beliebt. Genau wie Schachübertragungen. Magnus Carlsen macht es möglich. Thomas Robertson berichtet über Schach und Fernsehen in einem Land, das plötzlich vom Schachfieber gepackt wurde. Mehr...
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Schach in Norwegen
Von Thomas Robertsen
Die Norweger haben berühmte und hilfreiche Dinge wie den Käsehobel und die Büroklammer erfunden – wobei letzteres umstritten ist. Aber haben Sie je von Slow TV gehört? Beschreiben lässt sich die Variante des Fernsehens als extrem lange Sendung, bei der fast nichts passiert..
Es begann mit einer Live-Übertragung 2009, als man eine Kamera an einen Zug installierte, der von Oslo nach Bergen fuhr. Die Ausstrahlung der siebenstündigen Reise «Bergensbanen Minute für Minute» war ein enormer Erfolg. Für alle Interessierten ist hier die Übertragung in voller Länge:
Der Clip dauert insgesamt sieben Stunden und 14 Minuten. Ein reines Vergnügen.
In schneller Folge kamen dann 24 Stunden Lachsfischen im Gaula, zwölf Stunden Holzverbrennung, die so genannte «Nationale Woche der Holzverbrennung» (kein Scherz), und dann die Krönung, 132 Stunden Übertragung Küstenschifffahrt (Hurtigruten) von Bergen nach Kirkenes. Eine ganze Nation war in den Bann geschlagen.
Der typisch norwegische Sportheld ist jemand, der extremen Ausdauersport praktiziert, zum Beispiel Cross-Country Skifahren, Marathonlauf, Eisschnelllauf oder ähnliche Dinge. Je länger Wettbewerb und Strecke, desto größer der Held. In jüngster Zeit ist Radrennen dazu gekommen. Mit Sportlern wie Thor Hushovd und Alexander Kristoff feierten wir in einem neuen Ausdauersport plötzlich Erfolge. Wenig überraschend wurden Stunden und Tage der Übertragung der Tour de France sofort ein Erfolg.
Doch was das Schach in Norwegen betrifft, so ließ man sich hier Zeit. Vor 1980 spielte Schach von einigen Ausnahmen und einzelnen Partien abgesehen, keine Rolle. Zum Beispiel hat Ernst Rojahn (Bild rechts, ara.org) in der berühmten und dramatischen Olympiade in Buenos Aires 1939 gegen kein Geringeren als José Raoul Capablanca Remis gespielt. Erwähnung verdient auch seine Partie gegen den Griechen Angos bei der Schacholympiade in München 1958. Man erzählt sich, zumindest hier in Norwegen, dass sogar der spätere Weltmeister und «Schachzauberer» Mikhail Tal das Ende der Partie nickend und mit einem Lächeln im Gesicht verfolgt hat.
Dennoch waren norwegische Schacherfolge so selten wie der Halleysche Komet und Anfang der 80er gab es keinen einzigen norwegischen Großmeister und nur eine Handvoll Internationaler Meister.
Dann tauchte Simen Agdestein auf und verlieh dem Schach in Norwegen allmählich mehr Glanz.
Über Agdesteins bemerkenswerte Karriere im Schach und im Fußball wurde bereits viel geschrieben. 1985 wurde der 18-jährige Norwegens erster GM, der damals jüngste der Welt. In den Jahren darauf erzielte er im Schach eine Reihe bemerkenswerter Erfolge und war 1989 sogar die Nummer 16 der Welt. Zu seinen Opfern am Schachbrettern gehören große Spieler wie Spassky, Karpov, Shirov, Short, Ljubojevic und Polugaevsky.
Nur wenige haben so viel für die Verbreitung des Schachs in Norwegen getan wie Simen. Vor allem war er die treibende Kraft hinter der Idee, 1999 eine Schachfakultät an der Norwegischen Hochschule für Spitzensport (NTG) einzurichten. Dort unterrichtet er seit 16 Jahren junge Talente. Zwei seiner Schüler nehmen zur Zeit am Norway Chess Turnier in Stavanger teil. GM Jon Ludvig Hammer könnte der nächste norwegische Weltklassespieler werden. Aber vor allem kennt man Agdestein als Trainer von unserem Nationalheld und Wunderknaben Magnus Carlsen.
In einem ausführlichen Interview mit der holländischen Schachzeitschrift New in Chess (7/2004) wurde Garry Kasparov nach möglichen zukünftigen Weltmeistern gefragt. Seine Antwort:
Unter den Spielern, die ich kenne, hat Carlsen das größte Talent. ... Er hat eine gewisse innere Kraft, die verwandelt werden kann. Er braucht einen guten Trainer und eine gute Ausbildung. Er lebt in einem Land ohne Schachtradition.
Kasparov erwies sich als guter Prophet. Ende 2004 kam Kasparov anlässlich eines Schachturniers zum ersten Mal nach Norwegen. Er traf sich mit den Carlsens und man sagt, dass bei diesem Treffen die Grundlagen für die spätere Zusammenarbeit der beiden größten Champions aller Zeiten gelegt wurde. Seitdem hat die Schachlegende Kasparov Norwegen wahrscheinlich öfter besucht als der schwedische König und dabei viel für die Verbreitung des Schachs in Norwegen getan.
Aber in den letzten Jahren steht natürlich Magnus Carlsen im Zentrum des Interesses. Während er von Erfolg zu Erfolg eilte und die Schachwelt in Staunen versetzte, wurde Carlsen in Norwegen immer bekannter und beliebter. Er war bei allen großen Fernsehshows zu Gast. Er hat fast jeden nur denkbaren «Person-des-JahresWettbewerb» gewonnen und wurde sogar zum «Sportler des Jahres» ernannt, was umso bemerkenswerter, da Schach in Norwegen offiziell nicht als Sport gilt. Doch das war noch nicht alles.
Im Mai 2013 gab Hans Olav Lahlum (Bild), Politiker, Schachorganisator, Autor und Kultfigur dem Fernsehjournalisten Mads Andersen ein Interview auf web-tv. Über 30 Stunden, die nur von ganz kurzen, dringend notwendigen Pausen unterbrochen wurden, befragte Andersen Lahlum zu einer ganzen Reihe von Themen und stellte dabei einen neuen Weltrekord für das längste Interview aller Zeiten auf.
Überrascht wurden die Organisatoren durch die unglaublich hohen Zuschauerzahlen. Große Teile der Bevölkerung verfolgten das Interview, während es stattfand und waren von Lahlums phantastischem Wissen tief beeindruckt. Ein weiterer Erfolg für Slow TV und die Geburtsstunde eines neuen Fernsehstars, nämlich Lahlum.
Im Herbst 2013 beschloss der norwegische Fernsehsender NRK, den Weltmeisterschaftskampf zwischen Vishy Anand und Magnus Carlsen in Chennai in voller Länge zu übertragen. Jede einzelne Minute Weltklasseschach und Slow TV in einen neuen Format. Der Erfolg war überwältigend. Im Studio saßen Schachexperten, Fernsehstars, Politiker und andere Prominente, die für phantastische Shows mit hohen Zuschauerzahlen und großem Unterhaltungswert sorgten. Und natürlich gab es auch ein Happy End, zumindest aus norwegischer Sicht.
Nach Carlsens Krönung zum Weltmeister kam es zu einer unglaublichen Magnus-Mania. In den Läden gab es bald keine Schachspiele mehr und jede Menge neuer Talente tauchten auf. Die meisten spielten im Internet, aber dennoch. Jeder schien plötzlich am Schach und an Magnus Carlsen interessiert zu sein und plötzlich hatte man das Gefühl, Norwegen sei schon immer eine Schachnation gewesen.
Magnus war bei noch mehr Fernsehshows zu Gast. Er spielte Blitzpartien und schloss Freundschaft mit Leuten wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg (Bild oben) und Microsoft-Gründer Bill Gates. Er stellte seine eigene «Play Magnus app» vor und gewann weitere Auszeichnungen. Und trotz eines scheinbar unmenschlichen Zeitplan gewann er immer weiter Turniere. Dann endlich wollte TV 2, der größte Privatsender Norwegens, dabei sein. Sie übertrugen andere Turniere, in denen Magnus an den Start ging und die Leute schienen nach Schach im Fernsehen süchtig zu sein.
Letzten Sommer fand die Schacholympiade im norwegischen Tromsø statt. An Brett eins des norwegischen Teams spielte der Weltmeister. Noch vor ein paar Jahren wäre das eine wie das andere undenkbar gewesen. Jetzt schlenderten Spieler wie Kramnik, Ivanchuk und Shirov die Straßen von Tromsø entlang. Natürlich wurde die Olympiade im norwegischen Staatsfernsehen übertragen, genau wie das zweite WM-Match zwischen Carlsen und Anand in Sotschi im November. Beide Übertragungen waren große Erfolge. Und glauben Sie nicht, das Interesse an Carlsen oder Schach würde zurückgehen. Im Gegenteil: Schach ist überall. Am Arbeitsplatz in vielen unterschiedlichen Firmen und Betrieben, in Gefängnissen, in Schulen und Cafés.
Und schauen Sie, was beim Norway Chess Turnier in Stavanger passiert. In ganz kurzer Zeit hat sich das Turnier als eines der wichtigsten Schachereignisse des Jahres etabliert und gehört wie der Sinquefield Cup in St. Louis und die London Classics zur vor ein paar Monaten ins Leben gerufenen Grand Chess Tour.
Eine aufregende Neuerung beim Norway Chess Turnier ist der so genannte «Beichtstuhl». Ja, während der Partie können die Spieler, wenn sie Lust dazu haben, in eine schalldichte Kabine gehen und verraten, was sie über ihre laufende Partie denken. Einen Test damit gab es vor einem Monat beim EnterCard Qualifikationsturnier für das Norway Chess Turnier. Bei diesem Turnier, das natürlich bei TV 2 übertragen wurde, kommentierte der Weltmeister im Fernsehstudio und verriet, was er wusste und dachte. Ein gutes Beispiel, wie Magnus dazu beiträgt, Schach in Norwegen populärer zu machen.
TV 2 überträgt auch jede Minute und jeden Zug des Norway Chess Turniers. Ein erfahrener TV-Moderator und die besten nur denkbaren Kommentatoren, Simen Agdestein und Hans Olav Lahlum, sorgen für phantastische Unterhaltung. Das Interesse am Schach nimmt in Norwegen weiter zu. Die Nation scheint gebannt zu sein.
Viele Leute finden es merkwürdig, dass ein Land mit so wenig Schachtradition den Weltmeister stellt. Doch wenn ich daran denke, welche Sportarten und Unterhaltungsformate in Norwegen populär sind und welche Begeisterung und Kreativität Schach weckt, dann stelle ich mir eher die Frage: Warum hatten wir nicht schon früher einen Weltmeister?
Über den Autor
Thomas Robertsen ist leidenschaftlicher Schachfan, der die großen Spieler und Turniere mit großem Interesse verfolgt. Genauso leidenschaftlich interessiert er sich für Schachgeschichte und liest gerne über die Spieler und Turniere der Vergangenheit. In den letzten drei Jahren hat er sich als Vorstandsmitglied des Norwegischen Schachverbands vor allem um die administrativen Seiten des Schachs in Norwegen gekümmert. Thomas Robertson war ebenfalls Mitglied des Sportkomitees, das die Mitglieder der Norwegischen Nationalmannschaften bei der Olympiade im letzten Jahr nominiert hat. Im nächsten Sommer beendet er seine administrativen Aufgaben und hofft, dann mehr Zeit zu haben, um selber zu spielen. "Ich bin kein großartiger Schachspieler, aber kam vor ein paar Jahren immerhin auf ordentliche 2275 Elo. Ich hoffe, ich kann in Zukunft nicht nur mehr spielen, sondern auch noch mehr über Schach schreiben."
Thomas Robertson lebt in Tromsö und hat zwei Kinder, Sander (20) und Hannah (5). Er arbeitet als Pfleger mit Kindern und Jugendlichen in einer psychiatrischen Einrichtung.
ChessBaseDie ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.
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