Vermutlich hätten die Norweger ihren Spitzenspieler Magnus Carlsen in Batumi nicht ans Brett bekommen - der weltbeste Schachspieler ist gerade Vater geworden und mit seinen Gedanken im Moment wohl eher nicht beim Schach -, aber auch ohne Carlsen hätten die Norweger mit einer schlagkräftigen Truppe antreten können. Hinter Carlsen ist derzeit Johan-Sebastian Christiansen (Jg. 1998, Elo 2661) die Nummer zwei. Es folgen Aryan Tari, Jon Ludwig Hammer und der junge Elham Amar (Jg. 2005), Norwegens größtes Talent derzeit, vor dem unverwüstlichen Simen Agdestein und Frode Urkedal, ebenfalls gestandene Großmeister internationaler Klasse. Darüber hinaus besitzt der Norwegische Verband zehn weitere Großmeister und einige begabte Internationale Meister, die ebenfalls im Nationalteam spielen könnten.
Aryan Tari | Foto: FIDE
Aryan Tari drückte auf X sein Bedauern über das Fehlen einer norwegischen Mannschaft bei diesem Wettbewerb aus.
Sicher wird er nicht der einzige Spieler sein, der die Abwesenheit der norwegischen Mannschaft bei diesem großen Schachturnier mit den besten Spielern Europas bedauert.
Die Ursache für die Nichtteilnahme der Norweger liegt jedoch einfach darin, dass sich der Norwegische Verband den Ausflug seiner Spieler und Spielerinnen zur Europa-Mannschaftsmeisterschaft nicht leisten kann.
Zur Absage der Mannschaftseuropameisterschaft erklärte der Norwegische Verband auf seiner Seite:
Das oberste Schachkomitee verzichtet auf die Europameisterschaft und investiert stärker in die Olympischen Spiele.
Das Top Chess Committee verfügt vom norwegischen Schachverband über ein Jahresbudget von 200.000 norwegischen Kronen*. Diese Mittel flossen bisher in die Mannschafts-Europameisterschaft und die Olympischen Spiele.
Nach einer umfassenden Umfrage unter den norwegischen Spitzenspielern sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir die Mittel des Spitzenschachs nicht für die Teilnahme an der Mannschafts-Europameisterschaft 2025 verwenden möchten.
Unserer Einschätzung nach können die Mittel besser zugunsten des norwegischen Spitzenschachs eingesetzt werden.
Auf dieser Grundlage planen wir ein ehrgeiziges Engagement für die Olympischen Spiele 2026. Die Strategie sieht die Verpflichtung eines eigenen Nationaltrainers für die Frauen-Nationalmannschaft vor und bietet gleichzeitig den Spielern und Spielerinnen der offenen Klasse mehr Turnierunterstützung.
* 200.000 norwegische Kronen = ca. 17.000 Euro
Man sollte meinen, dass in einem Land, in dem ein so herausragender Spieler wie Magnus Carlsen groß geworden ist, die Sponsoren für Schachunternehmungen Schlange stehen, doch dem ist nicht so. Es trifft noch mit Abstrichen zu, wenn Magnus Carlsen selber mit im Boot ist, dann reißen sich auch die norwegischen Fernsehsender um die Übertragungsrechte und zeigen seine Partien live im TV-Programm, aber wenn der ehemalige Weltmeister bei Schachevents nicht persönlich dabei ist, sinkt das öffentliche Interesse in Norwegen am Schach doch ganz erheblich.
Hinzu kommt aber ein strukturelles und organisatorisches Problem, unter dem der Norwegische Schachverband zu leiden hat. Während in vielen anderen Ländern der Welt die Schachverbände in einem Sportdachverband organisiert sind, ist das in Norwegen nicht der Fall. Er ist keiner der Sportverbände im "Norges Idrettsforbund og Olympiske og Paralympiske Komite 2007" . Dort sind der Fußballverband (über 300.000 Mitglieder) und der Skiverband (über 160.000 Mitglieder) die größten Mitgliedsverbände. Auch der Verband der Betriebssportarten ist bedeutsam. Zu den Mitgliedverbänden gehören zudem die organisierten Frisbee-Spieler und die Hundeführer. Der kleinste Verband mit gut 700 Mitgliedern ist der Softball- und Baseballverband.
Der 1914 gegründete Norwegische Schachverband gehört jedoch nicht zum Kreis der hier organisierten Sportverbände. Das liegt daran, dass in Norwegen die Kindersportbestimmungen für Kinder bis 12 Jahren sehr eng gefasst sind. So dürfen Kinder beispielsweise nicht im Wettkampf gegen Erwachsene spielen. Im Schach sind die Bedingungen allerdings anders als in anderen Sportarten und Vergleiche zwischen Erwachsenen und Kindern in Bezug auf die Chancengleichheit durchaus sinnvoll. Um sich wegen der engen Kindersportbestimmungen nicht einschränken zu müssen, hat der Norwegische Schachverband auf einen Beitritt zum Sportverband verzichtet - was nicht bedeutet, dass Kinder nicht auch hier in den Kindersportbestimmungen besonderen Schutz erhalten.
Der Verzicht hat unmittelbare finanzielle Konsequenzen, denn aus diesem Grund profitiert der Schachverband auch nicht von der Sportförderung im Land.
Sehen Sie, welche Eröffnungen Carlsen wählt, um seinen Gegner im Mittelspiel strategisch zu überspielen oder ein vorteilhaftes Endspiel zu erhalten.
2019 hatte Magnus Carlsen versucht, mit Hilfe eines Werbevertrages mit dem Wettanbieter Kindred mehr Geld in das norwegische Schach zu bringen. Der Vorschlag wurde im Norwegischen Verband kontrovers diskutiert und dann nach einer Abstimmung abgelehnt. Carlsen hatte noch versucht, mit der Gründung seines Schachklubs Offerspill eine Mehrheit für seinen Vorschlag zu erzielen, doch vergeblich.
Offerspill gewinnt 2023 den European Club Cup | Foto: Niki Riga
Auf Anfrage erläuterte der Präsident des Norwegischen Verbandes IM Lasse Østebø Løvik die finanzielle Situation im norwegischen Schach.
Lasse Østebø Løvik | Foto: Sjakk.no
Es ist schade, dass Norwegen nicht an der diesjährigen EM für Nationalmannschaften teilnimmt. Alle möchten gerne die norwegische Mannschaft dort vertreten sehen. Der Hintergrund für diese Entscheidung liegt in finanziellen Prioritäten, die auf einer Mitgliederbefragung unter unseren Spitzensportlern basieren. Es wurde beschlossen, die Mittel für andere Maßnahmen zu verwenden. Die Zurückstufung der Mannschafts-EM ist Teil einer größeren Initiative für die Schach-Olympiade 2026. Gleichzeitig gibt dies dem Verband die Möglichkeit, mehrere unserer Spitzenspieler bei anderen internationalen Meisterschaften zu unterstützen, darunter die Weltmeisterschaften im Blitz- und Schnellschach in der Weihnachtszeit.
Der norwegische Schachverband hat kürzlich sowohl eine neue Struktur als auch einen neuen Vorstand erhalten, und wir arbeiten aktiv daran, eine stabilere und nachhaltigere Wirtschaft für das norwegische Schach in der Zukunft zu gewährleisten. Wir verstehen, dass diese Entscheidung bei den Spitzenspielern Reaktionen hervorruft, aber wir müssen gleichzeitig die gesamte Organisation im Blick behalten. Der Großteil der Mitglieder sind Hobbyspieler, und ein erheblicher Teil der Mittel des Verbandes fließt bereits in den Spitzensport. Leider ist dies eine Situation, die viele ähnliche Organisationen kennen dürften.
Wir hoffen, dass das norwegische Schach finanziell gestärkt aus der neuen Struktur und den laufenden Arbeiten hervorgehen wird. Dann werden wir solche schwierigen Priorisierungen in Zukunft weitgehend vermeiden können.
Norwegischer Schachverband...
