Rückkehr in die Vergangenheit: ein Schachclub im Herzen des
“alten” London
von Frank Mayer
1828 The Grand Cigar Divan
– das Zuhause des Schachs |
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Ein romantischer und geschichtlich interessierter Schachfreund
muss einfach hin und wieder einmal in die vergangenen Zeiten “eintauchen”. Weder
möchte sich der heutige Besucher als Überlebender des verlorenen Paradieses
präsentieren noch als visionärer Zeuge des goldenen Schachzeitalters, das sich
über die Zeiten den Mythos und das ureigene Bild der Figuren “unseres” Spieles
verewigt hat. Aber die echte und unverfälschte Erinnerung, die man im Geist
behält, bricht einfach durch und gipfelt in der Freude, dass man einen Ort wie
diesen besuchen darf, sei es auch nur für eine kurze Weile:
Im Jahre 1828 eröffnete Samuel Reiss den “Grand Cigar Divan”, der sich bald als
Modekaffee entwickelt, wo die feinen Herren, auf lockeren Divanen sitzend, ihre
Zigarren rauchten, während sie Kaffee trinkend die Tageszeitungen lasen, lange
Diskussionen über die aktuelle Politik entfachten und Schach spielten.
Die abonnierten Gäste zahlten jährlich eine Guinea mit dem Anrecht, Kaffee zu
trinken und die hauseigenen Einrichtungen zu benutzen. Der tägliche Eintritt
kostete 2,5 Pennys bzw. 9 Pennys einschließlich Kaffee und Zigarre. Schon bald
wurde das Lokal ein bevorzugter Treffpunkt fuer die Londoner Schachfreunde.
Darüber hinaus wurden sogar Partien zwischen verschiedenen Kaffeehäusern der
Stadt vereinbart.
Die beauftragten Boten liefen gehetzt von Ort zu Ort hin- und her, um immer
wieder die Nachricht des neuesten Zuges zu überbringen. Im Jahre 1848 nahm
Inhaber Samual Reiss Mr.John Simpson, einen Lieferanten für Speisen und
Getränke, als Teilhaber auf, wodurch dann das Geschäftslokal in “Simpon’s Grand
Divan Tavern” umbenannt wurde.
Das Restaurant entwickelte sich schnell in eines der Topadressen von London, in
dem ausgezeichnete Köstlichkeiten kulinarischer Art angeboten wurden. Darüber
hinaus wurde es zum Ort der Begegnung berühmter Persönlichkeiten wie
Schriftsteller und Politiker (Charles Dickens, William Gladstone, Benjamin
Disraeli u.a.).
Im Laufe der folgenden Jahre bedeutete Simpson’s in der Schachwelt das, was
Wimbledon für Tennis oder Lord’s Home für Kricket war. Fast alle der Topspieler
19. Jahrhunderts traten dort mehr oder weniger oft in Erscheinung: Wilhelm
Steinitz, Paul Morphy, Emanuel Lasker, Johannes Zuckertort (der während einer
Partie einen Gehirnschlag erlitt) und Siegbert Tarrasch, um nur einige von ihnen
zu nennen.
1810 – 1874 Howard Staunton
Aber während all dieser Jahre war es eigentlich Howard Staunton, der beste
englische Schachspieler der Geschichte, der als wahrhaftiger und unermüdlicher
Förderer die meisten Partien, Turniere und sonstige Schachereignisse
veranstaltete. Ihm ist auch die Vereinigung der Kriterien innerhalb der Regeln
und Vorschriften, einschliesslich der Zeitbegrenzung bei den Partien,
zuzuschreiben und zu verdanken.
Howard Staunton war:
- inoffizieller Schachweltmeister von 1843-1851
- seine beste historische Elozahl betrug 2.706*, die er im November 1846
erzielte.
Courtesy Howard Staunton Society
Eine kleine Biographie: Howard Staunton wurde im April 1810 in Westmoreland
(England) geboren. 1836 kam er nach London und 1838 schrieb er sich in den Old
Westminster Chess Club ein. 1840 gewann er ein Match gegen den deutschen Meister
H.W. Popert. Von Maerz bis Dezember desselben Jahres übernahm er die
Schachspalte in der “New Court Gazette”.
Im Jahre 1841 gründete und gibt er die erste englische Schachzeitschrift “The
Chess Player Chronicle” heraus, dessen Einfluss sich äusserst positiv auf das
britische Schach und Turnierschach im allgemeinen auswirkte.
Im Jahre 1843 verlor er in London eine Serie von Partien mit dem Ergebnis +2 =1
- 3 gegen Saint-Amant, der seinerzeit als der beste französische Schachspieler
angesehen wurde. Im November des gleichen Jahres reiste Staunton nach Paris und
gewann dieses Mal +11 =4 -6, wobei er ein Preisgeld von 100 engl. Pfund
entgegennehmen konnte. Erstmalig durften Sekundanten wie Wilson, Evans und
Worrell den Spielern zur Verfügung stehen.
Staunton stellte bei dieser Gelegenheit “seine” englische Eroeffung (1.c4) vor,
die er später dann systematisch anwendete. Außerdem entwickelte er sich
als ein Revolutionär des Fianchettos und des Spieles auf der Basis der großen
Diagonalen. Eine Variante der holländischen Verteidigung trägt ebenfalls seinen
Namen: “das Staunton Gambit”.
Die Veröffentlichung des Schachlehrbuches“ The Chess-Player’s Handbook” erfolgte
im Jahre 1847, dessen Abbildung nachstehend gezeigt wird:
1851 Internationales Turnier
Eines der von Staunton erreichten herausragenden Ziele war die Organisation des
ersten Internationalen Schachturnieres im Jahre 1851, anlässlich der
Weltausstellung für Kunst und Industrie in London durchgefüht. Dank der Spenden
seiner Schachfreunde in England und den Kolonien konnte Staunton dieses Turnier
finanzieren. Dem Organisationskomitee gehörten die wichtigsten Persönlichkeiten
der Londoner Gesellschaft an.
Der vermögende Schachklub St. George übernahm die Einladung der besten
europäischen Spieler. Schließlich wurden 16 Spieler für das Turnier benannt,
worunter sich auch der deutsche Meister Adolf Anderssen und der französische
Meister Lionel Kieseritzky befanden. Staunton, als Favorit ins Rennen ging,
verlor gegen Anderssen. Dieser gewann dann überraschend das Turnier gewann,
während Staunton nur den 4. Platz erreichte. Während dieses Turniers war es
übrigens üblich, dass die Partien über 12 bis 16 Stunden andauerten, da ohne Uhr
und ohne Zeitbegrenzung gespielt wurde. Alle Partien des Turniers wurden
“Simpson’s” gespielt.
Fotos:
Rosenbaum’s “Chess-picture” 1880
andere namhafte Spieler des 19. Jahrhunderts
Das wohl berühmteste Schachbrett der damaligen Zeit
Eine der unvergesslichen Partien der Schachgeschichte
“Die unsterbliche Partie” wurde während dieses Turniers ebenfalls dort
gespielt:
Nachstehend die Aufzeichnung:
Anderssen,Adolf - Kieseritzky,Lionel [C33]
London 'Immortal game' London, 1851
1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Lc4 Dh4+ 4.Kf1 b5 5.Lxb5 Sf6 6.Sf3 Dh6 7.d3 Sh5 8.Sh4 Dg5
9.Sf5 c6 10.g4 Sf6 11.Tg1 cxb5 12.h4 Dg6 13.h5 Dg5 14.Df3 Sg8 15.Lxf4 Df6 16.Sc3
Lc5 17.Sd5 Dxb2 18.Ld6 Lxg1 19.e5 Dxa1+ 20.Ke2 Sa6 21.Sxg7+ Kd8 22.Df6+ Sxf6
23.Le7# 1–0
Die darauf folgenden Jahre
Letztendlich verlor Staunton auch noch ein Match gegen Lasa, +4, -5, =3. Laut
den Chroniken verbot es ihm seine Eitelkeit, weiter an internationalen Turnieren
teilzunehmen. Im Jahre 1858 wurde er von Paul Morphy herausgefordert, aber
Staunton vermied auch diese Begegnung und widmete sich der Veröffentlichung
mehrerer Werke über Shakespeare. Erstaunlich war, dass er dann 1860 ein
Schachbuch mit einigen von ihm kommentierten Partien über Paul Morphy
veröffentlichte. Staunton sind auch die Schachfiguren zu verdanken, die seinen
Namen tragen:
Schliesslich starb er am 22 Juni 1874 an einem Herzanfall in London.
Foto: Howard Staunton Society
Natürlich dürfen wir auch nicht vergessen, dass bei “Simpson’s” später die
großen Turniere von 1883 und 1899 und das erste internationale Frauenturnier
stattfanden.
1903 – Strukturwechsel des Unternehmens
Mit der voranschreitenden Industrialisierung, insbesondere des Automobiles, trat
“Simpson’s” in eine Phase der Umorganisation, die eine zeitweilige Schließung
zur Folge hatte. Die Savoy-Gruppe erwarb das Local 1904, um es wieder unter dem
neuen Namen “Simpson’s-in-the-Strand” zu eröffnen. Leider waren die
Schachspieler dort nun nicht mehr willkommen. Dies war einer der Gründe, warum
London seine Rolle als eines der führenden Schachzentren an Wien und Berlin
abgab.
Ein gewisser Trost
Allerdings wurde im Jahre 2003 wieder
ein kleineres Turnier ausgetragen
anlässlich des 175. Jahrestages des Lokales als Schachzentrum.
Dieses Turnier wurde in Erinnerung an den inoffiziellen Schachweltmeister Howard
Staunton mit “The Staunton Memorial” benannt.
Der
Spielsaal
Die Teilnehmer waren:
- GM Jon Spielmann, Halbfinalist der Weltmeisterschaft 1989
- GM Luke Mcshane, Mitglied der englischen Olympiamannschaft
- GM John Emms, Kapitän der englischen Olympiamannschaft
- David Howell, 12 Jahre alt und der “Grossmeister-Killer”
Jon Speelman wurde Sieger mit 4,5 Punkten.
Diese Tradition des “Memorials” wird nun jedes Jahr wieder bei “Simpson’s”
fortgesetzt. Als eine erfreuliche Überraschung war festzustellen, dass das
Restaurant “Simpson’s”, eines der besten und teuersten der Stadt, dem Wunsch der
Gäste nachkommt, wenn man eine Schachpartie ‘vor Ort’ spielen möchte, und antike
und historische Figuren mit Schachtisch zur Verfügung stellt.
Wir wurden äußerst freundlich und aufmerksam von der Archivarin der
Savoy-Gruppe, Mrs. Susann Scott, betreut. Am Ende des Besuches sprachen wir
unseren ganz besonderen Dank aus, ebenso schon vorab im Namen der Internetseiten
für Schachnachrichten, die diesen Artikel veröffentlichen.
Schlussbetrachtung
Die Zeiten wandeln sich und die Schachwelt wird sich weiter entwickeln und
wachsen, aber sicher dank der durch die unvergessenen Meister geschaffenen
Fundamente im goldenen Zeitalter der vergangenen Jahrhunderte.
Beim Wiederauftauchen in die gegenwärtige Zeit, nach diesem kurzen Ausflug in
die Geschichte, spürte ich eine starke Wehmut mit einem Hang zur Melancholie.
Meine Gedanken sträubten sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren….
London, den 4. August 2006
Simpsons’s-in-the-Strand
100 Strand
London WC2R OEW
Telefon: 020 7836 9112 – Fax: 020 7836 1381
e-mail:
info@simpsons-in-the-strand.co.uk
Webseite:
www.simpsons-in-the-Strand.com
Quellen:
Wikipedia
Chessbase