Understanding Middlegame Strategies Vol.5 - Sicilian Rossolimo and Maroczy Structures
Teil 2 der Rezension von Harald Wagner (Zum 1. Teil...)
Die Maroczy-Zange - ein Klassiker unter den strategischen Druckmittel
Während im Rossolimo Sizilianer die Spielpläne breit daherkamen und mäanderten, ist das Flussbett in der Maroczy-Zange, einem weißen Bauernzentrum mit c4 und e4
gegen den Drachen Sizilianer, eher streng begradigt und überschaubar.
Sowohl der das englisch gebräuchliche „Maroczy-Bind“ als auch die deutsche Entsprechung Maroczy-Zange legen schon sprachlich etwas einengendes nahe: aus einer Zange kommst du so schnell nicht mehr raus, da musst du als Schwarzspieler lange zappeln , bis du dich befreit hast. Diese Vorstellung haftet der Maroczy-Zange bis heute an, teilweise aber nur ein Klischee ist: mit den Prüfmöglichkeiten moderner Engines erweisen sich erstaunlich viele Stellungen als strategisch gesund für Schwarz.
Und weil die Maroczy-Zange auch aus vielen anderen Eröffnungen entstehen kann wie symmetrisches Englisch, Königsindisch oder Benoni, kann man geradezu von einem universellen Stellungstyps sprechen. Von daher kann es nichts schaden, wenn auch Spieler ihn kennen, die mit Sizilianisch sonst nichts am Hut haben.
Ivan Sokolov spannt den Bogen von der Historie bis zur Moderne
Sokolov nutzt die sehr lange Tradition der Maroczy-Zange, indem er ihre Historie als didaktisches Stilmittel verwendet: Er zeigt an älteren Partien von damals absoluten Weltklassespielern, was zu ihrer Zeit State oft he Art war, aber aus heutiger Sicht gewisse Defizite aufwies. Es dauerte im Vor-Computer Zeitalter oft Jahre, manchmal Jahrzehnte, bevor sich der korrekte strategische Plan herauskristallisierte. Vor dieser Folie werden dann aber zeitgenössische Partien transparenter: warum hat ein Carlsen oder ein Navara an dieser Stelle gerade diesen und nicht diesen Zug gewählt?
Sokolov sagt noch einmal, worauf es ihm vor allem ankommt: er will kein Theoriewerk schaffen, aber die wichtigsten Theoriestellungen sollen schon verstanden werden.
Verstanden im Hinblick auf die typischen Manöver der Figuren: Bauernvorstoß XY ist gut, wenn die Figuren so und so stehen, aber wenn sie so und so stehen, ist er schlecht.
Und da werden wirklich alle Fragen behandelt: wann ist der Abtausch der schwarzfeldrigen Läufer gut, wann schlecht und warum, wann ist der Abtausch der Damen gut, wann schlecht und viele, viele mehr.
Insofern kategorisiert die Maroczy-Stellungen auch nicht streng methodisch.
Zwar referieren seine Beispiele den aktuellen Stand der Theorie, sodass auch in dieser Richtung nichts vermisst wird, aber konkrete Eröffnungstheorie gibt es nicht, nur an einer einzigen Stelle der DVD. Und Schwarz in einer Hauptvarianten-Schlüsselstellung, die man jahrzehntelang für vorteilhaft für Weiß hielt. Dank moderner Engines kann Schwarz jedoch einen Bauern fressen und alle weißen Drohungen abwehren. An dieser Stelle rasselt Sokolov die Varianten nur so runter und danach gönnt er sich erstmal einen Schluck aus der Kaffeetasse. Man sieht, da war ein Könner am Werk!
Die Pläne von Schwarz zielen auf Dominanz auf den dunklen Feldern
Sokolov geht davon aus, dass anfangs meist schon ein Springerpaar getauscht wird.
Danach lassen sich die Positionen aufgrund des verbleibenden schwarzen Springers erschließen: Steht er gut auf f6 oder e6 oder etwas schlechter auf c6 oder h6.
Dazu käme noch, wenn Weiß mit Sc2 einem Abtausch aus dem Wege geht.
Der Haupttrumpf für Schwarz in allen Stellungen ist das Spiel des Springers gegen den „schlechten“ weißen Königsläufer. Je größer und wirkungsvoller die schwarzfeldrige Blockade, umso „schlechter“ der weiße Königsläufer.
Und egal, ob der Springer auf e6 oder f6 steht, sein Ziel ist c5, entweder direkt dorthin oder von f6 über d7. Außerdem muss Schwarz den Springer auf c5 befestigen, entweder mit einem Bauern auf a5 oder durch Figurenspiel wie etwa die Dame nach a5 oder b6.
Gelingt das alles zufriedenstellend heißt das Follow-up Szenario Angriff und Hebel gegen das weiße Bauernzentrum mit b5, f5 oder d5. Gelingt das auch noch, hat Schwarz die Initiative übernommen.
Diesen Plan erläutert Sokolov in den ersten beiden Videos fast eine Stunde lang anhand einer einzigen Partie, nämlich dem Klassiker Keres-Petrosjan aus dem Kandidatenturnier 1959. Sokolov geht dabei auch ausführlich auf die Ungenauigkeiten beider Spieler ein. Nicht, um sie bloßzustellen, sondern um zu zeigen, wie sehr sich das Spielverständnis über das Schach generell bis heute weiterentwickelt hat.
Mit dem Hebel f5 hat Petrosjan hier die Initiative übernommen und gewann später mit einem wirklich spektakulären Matt, das Sokolov so toll findet, dass wir es deshalb auch noch zeigen:
Keres konnte hier seinen Läufer nach h5 ziehen und hat danach nur die leicht schlechtere Stellung. Stattdessen zog er seinen König nach f1, um auf das Grundreihenschach die Dame dazwischen zu ziehen. Petrosjan schlug aber den Bauern f4 mit Schach und Keres fiel aus allen Wolken!
Für Weiß heißt es, auf den schwarzen Feldern dagegenzuhalten
Gelingt es Weiß, einen potentiellen Springer auf c5 mit b4 zu vertreiben oder mit rechtzeitigem b4 erst gar nicht nach c5 zu lassen, hat er seinen Raumvorteil vergrößert und droht mit den Hebeln c5, e5 oder f4,f5. Für dieses Worstcase-Szenario für Schwarz benutzt Sokolov den einprägsamen Ausdruck „Sitting Duck“.
Weiß hatte hier in der Partie Carlsen-Lie b4 systematisch vorbereitet und nach b4 und Sd5 entsteht die „Sitting Duck“. Wichtig zu wissen, dass erst dann Weiß mit f4 zu direktem Angriff übergeht. Carlsen gewann die Partie in seiner unnachahmlichen Art in wenigen Zügen.
Zusätzlich droht Weiß ganz modern mit Bauernsturm am Königsflügel
Eine Entwicklung der letzten Jahre ist die Entdeckung einer zusätzlichen strategischen Option für Weiß: die kurze Rochade wird hinausgezögert und eine „normal Dragon Attack“ gestartet, also ein Bauernsturm g4, h4. Die Wichtigkeit dieser Entdeckung unterstreicht Sokolov, indem er, der sonst immer ganz ruhig agiert, mehrfach dozierend seinen Zeigefinger hebt.
Als Referenz dient hier eine Partie von Fabio Caruana gegen niemand Geringeren als Magnus Carlsen vom Sinquefield Cup 2014.
Normalerweise würde man hier die kurze Rochade erwarten. Caruana zog aber h4 und danach auch noch g4 und drohte mit Mattangriff.
In der Folge erlangte er Gewinnstellung, auch wenn Carlsen dank seiner taktischen Fähigkeiten ins Remis entkommen konnte.
Später wurde dieser Plan auch gegen die Variante mit der Dame auf a5 erfolgreich angewandt, was Sokolov zum dem Fazit veranlasst, dass die gängigen Hauptabspiele für Schwarz nicht nur traditionell, sondern auch unter modernen Gesichtspunkten durchaus kritisch zu werten sind, gewissermaßen - wieder - in der Krise, um es mal salopp zu formulieren.
Eine Hommage an Bent Larsen
Diese Stellung stammt aus einer Partie Short-Larsen Brüssel 1987. Der letzte Zug von Larsen war hier g5. Schwarz lässt h5,h4 folgen und spielt die Dame nach e5 mit totaler Blockade auf den dunklen Feldern. Während Sokolov sonst Variantennamen meidet, spricht er hier ausdrücklich von Larsen-Variante, weil er Larsen als den modernen Pionier des Maroczy Systems betrachtet.
Und wenn er sonst keine Empfehlung für Schwarz abgibt, sagt er hier: die schwarze Stellung ist strategisch gesund, ruhig mal ausprobieren.
So verwundert es auch nicht, dass er die DVD mit einer Partie Larsen-Petrosjan abschließt:
Petrosjan griff mit Läufer nach g7 die schwarze Dame an und wurde durch Dame schlägt g6 eiskalt erwischt!
Und wie die DVD mit einem Damenopfer von Petrosjan begann, so endet sie auch mit einem Damenopfer, bei dem Petrosjan der Leidtragende ist.
Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung, die nichts mit der DVD zu tun hat: Drachenspieler stehen ja in dem Ruf, eine besonders blutrünstige Spezies zu sein, die hauptsächlich auf Hauen und Stechen mit wilden gegenseitigen Mattangriffen aus sind. Sie fürchten nicht die Verwicklungen und Gefahren des jugoslawischen Angriffs, sondern suchen sie geradezu. Jan Gustavsson hat irgendwo in seinem Youtube-Kanal darauf hingewiesen, dass deshalb die Variante ohne Bauernsturm, aber mit langer Rochade für den Drachenspieler die größte Spaßbremse ist. Schwarz ist mehr oder weniger zu d5 genötigt und es entstehen ruhige Stellungen, in denen Schwarz seine Bauerninseln verwalten muss, von Mattangriff keine Spur: acht Stunden Schreibstube statt Bolzplatz!
Da fällt mir dann doch die Empfehlung Sokolovs ein. Wenn ich schon als eingefleischter Drachenspieler zwischen zwei Übeln wählen muss, dann wähle ich doch das Übel mit dem größeren Adrenalin-Kick. Und der ist bei Maroczy a la Larsen garantiert. Langweilig wird es da mit Sicherheit nicht.
Also: ruhig mal ausprobieren!
Alle Bände auch einzeln und in anderen Bundles erhältlich.