Von GM Vlad Tkachiev
Fotos: Irina Stepaniuk, Übersetzung aus dem Englischen: Bastian Pielczyk
Politik
V.T.: Welche politischen Überzeugungen hast du?
V.K.: Oh, das ist eine äußerst komplizierte Frage.
V.T.: Grischuk hat beispielsweise eine heftige Aversion gegen das, was
in Russland passiert. Wie sieht das bei dir aus?
V.K.: Nein, ich habe keine Aversion. Ich habe festgestellt, dass es schwierig
ist, meine politischen Neigungen zu erklären, weil ich einen ganz anderen Blickwinkel
einnehme. Ich verstehe die Standpunkte anderer Leute nicht wirklich, und sie
meine vielleicht ebenso wenig. Ich habe eine rationale Sichtweise, was den gesunden
Menschenverstand und die realen Möglichkeiten angeht - was tatsächlich existiert
und was sein könnte. Aber viele Leute träumen nur. Sie finden alles in Russland
schlecht, ohne zu verstehen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht das Potential
haben wie Deutschland oder die Schweiz zu werden. Wenn ich heute anfinge, Tennis
zu spielen, würde ich nicht erwarten, beim nächsten Turnier in Wimbledon teilzunehmen.
Offensichtlich sind immer noch überhöhte Erwartungen aus Sowjetzeiten übrig
geblieben.
V.T.: Und hat Russland das Recht, Platz 135 auf der weltweiten Korruptionsliste
einzunehmen?
V.K.: Nein, natürlich nicht. Ich bin Anhänger des gesunden Menschenverstands
und der Theorie der kleinen Schritte. Man kann die Dinge nur schrittweise verbessern,
und nur eines nach dem anderen. Ich kann Nörgler nicht ausstehen. Wir haben
ja einige solche Bekannte (lacht). Die Lage in Russland ist alles andere als
ideal, aber es gab nun einmal das schreckliche 20. Jahrhundert, in dem wir als
Volk mehr gelitten haben als irgendein anderes. Deshalb haben wir heute nicht
das Potential, eine führende Nation mit wirklichem Einfluss in der Weltpolitik
zu werden. Selbstverständlich tun wir so, als ob wir schon so weit wären, aber
gegenwärtig sind wir nicht bereit für einen qualitativen Entwicklungssprung.
V.T.: Was du gesagt hast, läuft doch schon auf eine ziemlich genau abgesteckte
Position hinaus. Wenn das 20. Jahrhundert so schrecklich war, dann musst du
eine deutliche Abneigung gegen das kommunistische Projekt in Russland haben.
V.K.: Ja, absolut. Es gab sicherlich ein paar positive Dinge, aber welcher Preis
musste dafür gezahlt werden? Stalin war ein facettenreicher Mann, sogar talentiert,
aber wie intelligent kann man sein, wenn man Millionen Menschen inhaftiert und
sie zu harter körperlicher Arbeit zwingt, um ein Land wiederaufzubauen? Dieser
Verbrecher hat eine ganze Generation zerstört. Nach seinem Tod wurde das kommunistische
Regime etwas milder, es gab einige Errungenschaften, sie flogen in den Weltraum.
Aber, entschuldige bitte, ich habe diese Zeit noch miterlebt, und letzten Endes
war sie entsetzlich - die ganze Not, dieses fürchterlich graue Leben. Ich will
niemandem zu nahe treten, denn viele Leute verklären diese Zeit nostalgisch,
doch ich bin lieber arm, aber dafür frei.
Eines unserer heutigen Hauptprobleme ist das imperialistische Denken. Wir müssen
uns davon so schnell wie möglich befreien und vorankommen. Mich inspiriert die
Entwicklung Chinas. Sie waren betriebsam und auf der internationalen Bühne nicht
zu sehen. So war es für etwa 20 Jahre und auf einmal, ganz plötzlich, sind sie
eine Weltmacht. Jetzt beginnen sie, die Kontrolle über die Finanzmärkte zu übernehmen
und ihren Einfluss zu erhöhen, und das mit gutem Recht. Wir müssen uns jetzt
zusammenreißen und das Wohl der Menschen verbessern.
V.T.: Siehst du dich immer noch als Russe, obwohl du in Paris lebst und
mit einer Französin verheiratet bist?
V.K.: Natürlich, ich habe einen russischen Pass. Ich liebe Europa. Ich mag es,
wie die Menschen miteinander auskommen; etwas, was uns nicht ganz so gut gelingt.
Aber ich bin hier aufgewachsen, und selbst wenn ich jemals einen französischen
Pass erhalten sollte, werde ich immer Russe bleiben.
V.T.: Deine Frau arbeitet für "Le Figaro". Ist das eine rechts oder links
stehende Zeitung?
V.K.: Eher rechts. Momentan arbeitet sie allerdings nicht dort. Sie ist noch
nicht aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt.
V.T.: Bekanntermaßen ist Frankreich in ein linkes und ein rechtes Lager
gespalten. Auf welcher Seite siehst du dich?
V.K.: Genau das habe ich vorhin gemeint: diese Kategorien bedeuten mir überhaupt
nichts, da es auf den gesunden Menschenverstand ankommt. "Es ist nicht wichtig,
welche Farbe die Katze hat, sondern dass sie Mäuse fängt." Je ideologischer
ein Politiker ist, desto mehr stößt er mich ab. Der ideale Politiker ist prinzipienlos
(lacht). Gute Politik beruht auf gesundem Menschenverstand und einem feinen
Gespür für die jeweilige Situation, ohne dabei auf eine bestimmte Idee fixiert
zu sein. Ich bin Kommunisten und weit rechts stehenden Parteien gleichermaßen
abgeneigt, oder, um Amerika als Beispiel zu nehmen, den Republikanern, eben
weil sie zu ideologisch sind, während die Demokraten vernünftiger handeln. Deshalb
finde ich all diese Diskussionen in Frankreich absurd, insbesondere wenn man
betrachtet, was für ein Misserfolg die Entscheidungen der letzten 10-15 Jahre
für die westliche Welt gewesen sind.
V.T.: Denkst du dabei an die Finanzpolitik, oder die Einwanderungspolitik?
V.K.: An alles. Die Macht der westlichen Welt hat aufgrund dieser Entscheidungen
rapide abgenommen - falls es noch jemanden gibt, der das nicht begriffen hat.
Es wurden krude Fehler gemacht, Figuren links, rechts und im Zentrum eingestellt,
und jetzt kann die Partie nicht mehr gerettet werden. Zuerst waren es die Linken,
dann die Rechten. Was sie der Europäischen Union angetan haben, übertrifft die
schlimmsten Alpträume. Mittlerweile wird klar, dass das tatsächlich der Kollaps
Europas war.
V.T.: Du meinst die massenhafte Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten?
V.K.: Ja. Das hätte nach und nach geschehen sollen, ein Staat nach dem anderen,
und nur bei Einhaltung aller Kriterien. Stattdessen gibt es jetzt eine Anhäufung
von Staaten auf vollkommen unterschiedlichen Niveaus. Manche sind Geberländer,
während andere das Geld einfach aufsaugen und trotzdem nicht weniger Rechte
haben als die Geber. Es ist offensichtlich, dass solch ein System nicht funktioniert
und niemals funktionieren wird. Deutschland und Frankreich würden, glaube ich,
sofort die Zeit zurückdrehen, wenn sie könnten - aber das ist unmöglich. Das
gleiche lässt sich über die Einwanderungspolitik sagen. Ich bin nicht gegen
Immigration, da sie ein sehr wichtiger Bestandteil der Gesellschaft ist, aber
man hätte sie so regeln sollen wie in Amerika, wohin man nicht ganz so einfach
gelangen kann. Es gab eine Zeit, in der jeder, der wollte, nach Europa kam;
und das Ergebnis kannst du dir jetzt selbst ansehen.
Meines Erachtens hat sich gezeigt, dass sie eine intellektuell schwache Elite
hatten - so hart das jetzt auch klingen mag. Ich weiß, dass es komisch klingt,
aber in Russland wird Politik intelligenter betrieben. Ein guter Politiker benötigt
Geschichtskenntnis, da sich alles im Kreis dreht und schon einmal dagewesen
ist. Der Niedergang der Imperien folgte mehr oder weniger dem gleichen Muster.
Europäische Werte, wie sich die Menschen zueinander verhalten und Menschenrechte
sind mir sehr wichtig, und mit großem Bedauern beobachte ich, was gerade mit
der zivilisierten Welt geschieht. Es ist Selbstmord.
Kramnik über Kramnik
V.T.: In den 90ern hattest du den Ruf eines lockeren Typen. Stets warst
du von Leuten umgeben, die mit dir feiern und eine gute Zeit haben wollten.
Wann und warum hat sich das geändert?
V.K.: Mein Bekanntenkreis hat sich etwas verändert. Alles hat seine Zeit. Wenn
du 17 bist, ist das alles faszinierend und cool: Partys, Gesellschaft, Mädchen,
Alkohol… Aber mit der Zeit wird man dessen überdrüssig und seht sich nach etwas
anderem.
V.T.: Und wie ist es heute?
V.K.: Naja, maßvoller, ich habe schließlich eine Familie und ein Kind. Aber
mein Haus steht immer noch vielen Leuten offen, die häufig vorbeikommen, ohne
vorher anzurufen, oder bei mir übernachten.
V.T.: Hast du mehr französische oder russische Freunde?
V.K.: Das ist wahrscheinlich ausgeglichen. Ich bin immer noch ziemlich frei
und offen im Umgang mit Leuten, aber mein Bekanntenkreis hat sich natürlich
verändert. Ich blicke mit etwas Nostalgie auf die alten Zeiten und freue mich,
dass sie ein Teil meines Lebens waren, aber dieses Kapitel ist beendet und ich
habe kein Verlangen, es zu wiederholen. Letzten Endes ist meine Karriere erfolgreich
verlaufen und ich konnte zudem ein wenig feiern, ohne meine Gesundheit zu schädigen.
Viele, die ihre berufliche Karriere in jungen Jahren beginnen, überspringen
diese Phase und wollen sie nachholen, wenn sie um die 50 sind. Der Weltmeistertitel
führte zu einer großen Veränderung meiner Kontakte. Für manche wurde ich scheinbar
unerreichbar. Nicht einmal aufgrund von Neid oder Missgunst, sondern vielleicht
weil unerfüllte Ambitionen die Kontaktaufnahme verhinderten. Auf jeden Fall
veränderten sich die Beziehungen und wurden vielleicht etwas zurückhaltender.
Ich selbst pflege immer noch einen sehr unkomplizierten Umgang mit anderen Leuten.
Dieses Kapitel habe ich beendet.
Vladimir Kramnik mit seiner Tochter Daria
V.T.: Nachdem du nun über Kapitel deines Lebens gesprochen hast, lass
uns doch über Bücher reden. Verrat mir deine fünf Lieblingsbücher oder -Schriftsteller.
V.K.: Da ich zuletzt kaum Zeit zum Lesen hatte, kenne ich mich mit moderner
Literatur nicht gut aus. "Generation P" ist zweifellos ein herausragendes Buch,
weil es zur richtigen Zeit geschrieben wurde und den Nagel auf den Kopf traf.
Es gibt mittlerweile eine riesige Zahl von Nachahmern, aber er (Pelewin) war
der Pionier. Und dann ist da zweifellos Dostojewskij. Ich mag "Die Brüder Karamasow"
nicht besonders, aber das Kapitel "Der Großinquisitor" ist Ausdruck reinen Genies,
weil es zu exakt jenem Zeitpunkt geschrieben wurde und erklärt, wie die Welt
tatsächlich konstruiert ist. Und dann natürlich "Die Dämonen". Der Mann sah
50 Jahre in die Zukunft und hat alles genau beschrieben. Ich mag Orwell sehr:
"Die Farm der Tiere" und "1984", auch wenn er darin etwas plump vorgeht. Zu
"Krieg und Frieden" kann ich Botwinnik zitieren: "Ich kann nicht sagen, dass
ich Tolstoi wirklich mag, aber ‚Krieg und Frieden' ist absolut brilliant."
V.T.: Also bevorzugst du die Klassik und nicht die Gegenkultur?
V.K.: Ich habe versucht, Sorokin zu lesen, aber konnte mich irgendwie nicht
dafür begeistern. Vielleicht bin ich auf das falsche Buch gestoßen. Ich muss
es noch einmal versuchen. Und dann gibt es natürlich noch "Der Meister und Margarita"
(Bulgakow), selbst wenn es banal klingt, es zu erwähnen. Das ist vermutlich
mein absolutes Lieblingswerk.
V.T.: Und wie sieht es mit Musik aus?
V.K.: Auch in diesem Bereich habe ich momentan nur sehr wenig Zeit für Neues.
Ich habe begonnen, mich für klassische Musik zu interessieren. Ich bin kein
Kenner, aber finde langsam Gefallen daran. Aber derzeit… nun, einige intellektuelle
Dinge: Makarewitsch, Grebenschikow. Ich bedauere es sehr, nicht genug Zeit für
alle meine Freizeitbeschäftigungen zu haben.
V.T.: Welche Vorlieben hast du beim Essen und Trinken?
V.K.: Ich bin jetzt ein bourgeoiser Franzose geworden. Ich trinke etwas Wein,
aber kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal betrunken war. Früher
setzte ich mich hin und trank, um betrunken zu werden - warum sollte man sonst
trinken? So ist es nicht mehr. Ich mag auch guten Cognac, ich habe immer welchen
bei mir zu Hause. Am Abend genehmige ich mir gern ein Glas oder zwei.
V.T.: Französische Küche…
V.K.: Beim Essen bin ich offen für alles. Ich liebe viele Dinge, aber muss mich
einschränken, weil ich schnell zunehme. Ich mag beispielsweise die indische
Küche, aber wiege dann am nächsten Tag gleich ein Kilogramm mehr. Die französische
Küche halte ich tatsächlich für die unangefochtene Nummer 1 der Welt.
Hier beendeten wir den offiziellen Teil des Interviews und redeten noch
eine weitere Stunde angeregt miteinander - hauptsächlich über Schach. "Ich habe
schon lange die Funktion von Chubais" war einmal zu hören - ich hatte nicht
damit gerechnet, dass Kramnik sich so sehen würde (Kramnik sagte kürzlich, er
sehe sich selbst als Sündenbock des russischen und internationalen Schachs,
so wie es Anatoly Chubais in der russischen Politik ist). Obwohl es tatsächlich
üblich geworden ist, ihn die ganze Zeit wegen irgendetwas zu verdächtigen: früher
der Bedenklichkeit seines Anspruchs auf den Weltmeistertitel, heute des mangelnden
Patriotismus. Nun, wenn dem so ist, dann ist er ein sehr ungewöhnlicher Verdächtiger.
Man muss ihn nur zum Sprechen bringen und alle Zweifel verschwinden. Nur um
später wieder zurückzukehren.