Vor 50 Jahren: WM-Kampf Spassky gegen Fischer, Partie 1

von Johannes Fischer
11.07.2022 – Vor 50 Jahren, am 11. Juli 1972, um fünf Uhr Ortszeit in Reykjavik, machte Boris Spassky seinen ersten Zug im Weltmeisterschaftskampf gegen Bobby Fischer. Spassky hatte Weiß und spielte 1.d2-d4. Das war keine große Überraschung, aber dass dieser Wettkampf, der die Schachwelt nachhaltig verändert und zahllose Menschen für das Schach begeistert hat, überhaupt gespielt wurde, war ein kleines Wunder. | Foto: Isländischer Schachverband

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Eigentlich sollte die erste Partie schon am 2. Juli beginnen, einen Tag nach der offiziellen Eröffnungsfeier am 1. Juli. Aber da war Fischer noch in New York und drohte über seine Anwälte immer wieder, er würde nicht zum Wettkampf antreten. Das Preisgeld war ihm zu niedrig und er wollte, dass 30 Prozent der Nettoeinnahmen aus Filmrechten und Ticketverkauf an die Spieler gehen sollten. An Hauptschiedsrichter Lothar Schmid gefiel ihm nicht, dass der kein "inaktiver Spieler" war.

Fischer hatte sich durch sensationelle Siege im Interzonenturnier in Palma de Mallorca (er gewann mit 18,5/23, 3,5 Punkte vor Bent Larsen, Efim Geller und Robert Hübner, die mit je 15,0/23 auf den Plätzen zwei bis vier landeten) und bei den Kandidatenwettkämpfen gegen Mark Taimanov (6-0), Bent Larsen (6-0) und Tigran Petrosian (6,5-2,5) als Herausforderer von Weltmeister Boris Spassky qualifiziert. Fischer war die klare Nummer eins der Welt und lag in der Weltrangliste ganze 125 Punkte vor Spassky, aber vor dem WM-Kampf in Reykjavik hatte er noch keine einzige Partie gegen ihn gewonnen: In ihrer bisherigen Laufbahn hatten die beiden fünf Mal gegeneinander gespielt, drei dieser Partien entschied Spassky für sich, zwei endeten Unentschieden.

Fischers Erfolge, aber auch seine schillernde Persönlichkeit, seine Launen und Eskapaden bescherten dem WM-Kampf gegen Spassky Schlagzeilen in aller Welt. Dazu kam die politische Dimension. 1972 befanden sich die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg und so wurde der Wettkampf zwischen Spassky und Fischer zum Kampf der Systeme stilisiert. Schach war in der Sowjetunion Staatsangelegenheit und Erfolge im Schach wurden von sowjetischer Seite als Zeichen der Überlegenheit des sozialistischen Systems gewertet. Seit 1951 hatten alle Weltmeisterschaftskämpfe nach dem Krieg in Moskau stattgefunden und immer waren zwei Spieler aus der Sowjetunion gegeneinander angetreten, aber 1972 stellte Fischer die sowjetische Hegemonie im Schach ernsthaft in Frage.

Nachdem Fischer nicht zur Eröffnungsfeier erschienen war, verlangte die sowjetische Führung von Spassky, er sollte aus Reykjavik abreisen und den Wettkampf als kampflosen Sieg für sich reklamieren. Daraufhin bat Spassky Gudmundur Thorarinsson, den Hauptorganisator des Wettkampfs, auf "höherer Ebene" zu intervenieren.

Thorarinsson kontaktierte den isländischen Premierminister Olafur Johannesson mit der Bitte um Hilfe, was dazu führte, dass wenig später Henry Kissinger, der damalige Außenminister der USA, bei Bobby Fischer in New York anrief. Kissinger eröffnete das Gespräch mit den Worten "Hier spricht der schlechteste Schachspieler der Welt mit dem besten Schachspieler der Welt", und konnte Fischer davon überzeugen, wie wichtig es für die USA war, dass er gegen Spassky antritt. Aber Thorarinsson hatte Spassky falsch verstanden – Spassky hatte die "höheren Ebenen" sowjetischer Politik gemeint. Also kontaktierte Thorarinsson den isländischen Premierminister noch ein zweites Mal, um ihn zu bitten, dieses Mal mit der sowjetischen Führung Kontakt aufzunehmen. Auch diese Mission hatte Erfolg und Spassky durfte in Reykjavik bleiben und den Wettkampf spielen. (Vgl. Gudmundur Thorarinsson, The Match of All Time, New in Chess 2022, S. 120-123)

Auch das Preisgeld-Problem wurde unerwartet gelöst. Als der englische Bankier Jim Slater von den Forderungen Fischers hörte, verdoppelte er in einem spektakulären Marketing-Coup das Preisgeld kurzerhand und erklärte: "Fischer hat behauptet, Geld sei das Problem. Nun, hier ist es." Zugleich richtete er eine klare Botschaft an Fischer: "Jetzt komm und spiel, Angsthase."

Am 4. Juli kam Fischer dann tatsächlich nach Reykjavik und entschuldigte sich, wie von der sowjetischen Delegation verlangt, öffentlich und privat bei Spassky für sein Verhalten.

Bobby Fischer in Reykjavik | Foto: Isländischer Schachverband

Aber richtig zufrieden war der Herausforderer nicht. Wie Thorarinsson erzählt, erklärte Fischer am 10. Juli, am Vorabend der 1. Partie, dass "die Beleuchtung die beste sei, die er je gesehen hätte, aber er fügte hinzu, dass es immer noch etwas gab, was ihn störte. 'Ich weiß nur einfach nicht, was es ist.'"

Gudmundur Thorarinsson, The Match of All Time, New in Chess 2022, Coverfoto: Schachversand Niggemann

Trotzdem erschien Fischer am 11. Juli zur ersten Partie, wenn auch mit leichter Verspätung. Er und sein Sekundant William Lombardy hatten im Verkehr festgesteckt.

Eine damals gemachte Filmaufnahme hat den Beginn der ersten Partie festgehalten.

Nach all den Aufregungen im Vorfeld des Wettkampfs verlief die erste Partie sehr ruhig. Fischer verzichtete mit Schwarz auf Grünfeld-Indisch und Königsindisch, seine scharfen Lieblingseröffnungen, die er noch in den Wettkämpfen gegen Taimanov, Larsen und Petrosian erfolgreich angewandt hatte, und entschied sich stattdessen für eine ruhige Variante der Ragozin-Verteidigung. Bis zum 14. Zug folgten beide Seiten einer bei der UdSSR-Meisterschaft 1958 in Riga gespielten Partie zwischen Spassky und Nikolai Krogius, der in Reykjavik Sekundant von Spassky war, dann brachte Fischer mit 14…Ld7 eine Neuerung und wich von der Vorgängerpartie ab.

Spassky verpasste kurz darauf eine Gelegenheit, Fischer unter Druck zu setzen und nach 24 Zügen stand ein vollkommen ausgeglichenes Endspiel auf dem Brett.

Das Remis schien unausweichlich zu sein, doch dann sorgte Fischer im 29. Zug wieder für Aufregung. Er schlug nach kurzem Nachdenken mit 29…Lxh2 den ungedeckten weißen Bauern auf h2.

 

Fischer nimmt den Bauern auf h2...

...und drückt die Uhr.

Die Frage war: Hatte Spassky einen Bauern eingestellt oder hatte sich Fischer verrechnet? Wenige Züge später war die Antwort klar: Fischer hatte sich verrechnet, der schwarze Läufer ging verloren und Fischer, der für seinen Läufer nur zwei Bauern bekommen hatte, musste um das Remis kämpfen.

Der Zug 29…Lxh2? ist einer der bekanntesten Fehler der Schachgeschichte, und in dem Wunsch nach Dramatisierung wurde er gelegentlich als "Fehler des Jahrhunderts" bezeichnet. Das scheint übertrieben zu sein, denn vermutlich hat Fischer in seiner Vorausberechnung übersehen, dass Weiß in einer entscheidenden Variante dem schwarzen Läufer in der Variante nach 30.g3 h5 31.Ke2 h4 32.Kf3 h3 (in der Partie spielte Fischer 32...Ke7) 33.Kg4 Lg1 34.Kxh3 Lxf2 35.Ld2! den Weg abschneiden kann. Natürlich bleibt 29…Lxh2? ein Fehler, aber dennoch ist der Zug kein grobes Versehen oder ein Patzer, der einzügig eine Figur einstellt.

Welche Bedeutung diese Partie hatte und wie viel Emotionen sie geweckt hat, zeigt sich auch daran, dass wohl kein Endspiel der Schachgeschichte so ausführlich und gründlich analysiert wurde wie die Stellung nach 29…Lxh2. Die zahlreichen Bücher über den Wettkampf analysierten die Stellung mehr oder weniger gründlich, aber noch 40 Jahre später, 2012, veröffentlichte IM Herbert Bastian 2012 in der Zeitschrift Schach unter dem Titel "Es war remis! - Entdeckungen und Irrtümer in einem berühmten Endspiel". Schach, #8, S. 28-39 die Erkenntnisse, die er in jahrelangen Analysen der Partie gewonnen hatte. Die Analysen kamen zu dem Schluss, dass Schwarz mit präzisem Spiel hätte Remis halten können, aber in der Partie gelang Fischer das nicht und er gab nach 56 Zügen auf.

 

Aber die Frage bleibt, warum Fischer sich nach nur kurzem Nachdenken auf diese Variante eingelassen hat, anstatt mit irgendeinem beliebigen Zug ein problemloses Remis anzustreben. Fischer selbst meinte später, er wollte die Stellung verschärfen, um Gewinnchancen zu bekommen. Aber vielleicht war er dem enormen Druck, den er selbst vor der ersten Partie aufgebaut hatte, auch nicht gewachsen gewesen. Auf alle Fälle brachte Spasskys Sieg und Fischers Fehler den Wettkampf wieder in Gefahr. Denn Fischer behauptete nach der Partie, die Kameras, die hinter einer Scheibe in der Wand versteckt waren, hätten ihn irritiert und er hätte sich nicht konzentrieren können.

Aus Protest gegen die Kameras trat Fischer deshalb zur zweiten Partie nicht an und verlor kampflos. Der jugoslawische Großmeister Svetozar Gligoric, ein Freund von Fischer, der über den Wettkampf ein Buch geschrieben hat, das schnell zum Bestseller wurde, berichtete:

"Erinnerten die versteckten Fernsehkameras Fischer an menschliche Augen, die ihn ständig anstarrten und seine Aufmerksamkeit vom Schachbrett ablenkten? Was immer der Grund gewesen sein mochte, die Forderung Fischers 'Die Kameras oder ich!’ vom Vorabend des zweiten Spiels versetzten die isländischen Organisatoren und die amerikanische Firma des Mr. Chester Fox (die die gesamten Filmrechte gekauft hatte) in ungläubiges Mißtrauen.

Hatte der amerikanische Großmeister nicht monatelang hartnäckig um sein und Spasskijs Recht gekämpft, dreißig Prozent der Fernseheinnahmen zu erhalten? Wollte er das alles wieder in den Wind werfen ... und nicht nur das, sondern auch noch den stattlichen Anteil am ausgesetzten Preis von 250.000 Dollar aufgeben, wenn er den Wettkampf abbrach? Jeder vernünftige Mensch müßte sich sagen: 'Nein’. Kann einem eine 'Laune’ wichtiger sein als zweihunderttausend Dollar?

Die Kameras blieben im Saal. ... Und Bobby – er blieb in seinem Hotelzimmer. 25 Minuten, bevor das Spiel ... an Spasskij ging, ließ ... Mr. Fox telefonisch wissen, die Kameras würden entfernt, wenn nur Fischer bereit wäre, zu kommen und zu spielen. Da verlangte der Herausforderer auch noch, daß ihm die verlorenen 35 Minuten auf seiner Uhr zurückgestellt würden. Doch das ist nach den Spielregeln nicht möglich.

Fischer musste die Partie abgeben, weil [er] während der ersten Stunde nicht ... erschienen war. Tatsächlich ließ er sich den ganzen Tag nicht blicken, verbarrikadierte sich in seinem Zimmer und zog den Telefonstecker aus der Buchse." (Svetozar Gligoric, Fischer-Spasskij: Schachmatch des Jahrhunderts, Droemer Knaur 1972, S. 42)

Nach zwei Partien lag Fischer damit 0-2 zurück und der Wettkampf stand wieder kurz vor dem Abbruch. Doch Fischer konnte überredet werden, zur dritten Partie anzutreten – und gewann in einer stark gespielten Partie das erste Mal in seinem Leben gegen Spassky. Nach diesem Sieg lief Fischer zu großer Form auf: Nach einem glücklichen Remis in Partie vier gewann er die Partien fünf und sechs und lag nach seinem 0-2 Fehlstart nach sechs Partien plötzlich mit 3,5-2,5 in Führung.

Am Ende gewann Fischer den Wettkampf mit 12,5-8,5 (den kampflosen Sieg in der zweiten Partie mitgerechnet) und wurde zum 11. Weltmeister der Schachgeschichte. Fischers Sieg und der gesamte Wettkampf machten Fischer endgültig zur Legende und bescherten dem Schach einen beispiellosen Boom, der jedoch nur möglich war, weil Spassky, Thorarinsson, Slater, Schmid, Kissinger und zahllose andere Helfer es geschafft hatten, den widerstrebenden Fischer gegen alle Widerstände zu überzeugen, zur ersten Partie und zum Wettkampf überhaupt anzutreten.

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50 Jahre Fischer gegen Spassky


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".