Interview mit dem Spielehistoriker Wladyslaw Kowalski
Von Dr. René Gralla
Was tun, wenn Bioterroristen zuschlagen? Einfach in einem der
Handbücher von DR. WLADYSLAW JAN KOWALSKI nachschlagen. Der 54-jährige lebt
auf einer Farm im US-Bundestaat Michigan und gehört gleichzeitig dem
Vorstand eines New Yorker Unternehmens an, das sich auf die Dekontaminierung
von Hospitälern und Bürokomplexen spezialisiert hat. Nebenbei analysiert der
Verfasser einer Dissertation, die unter der Überschrift "Design and
Optimization of Ultraviolet Germicidal Irradiation (UVGI) Air Disinfection
Systems" erschienen ist, die Strategiespiele der Griechen und Römer.
Insbesondere das gut 3000 Jahre alte "Petteia": Auf einen virtuellen Trip
zurück in die Antike lässt sich der Autor DR. RENÉ GRALLA mitnehmen.
DR. RENÉ GRALLA:
Gebäude
entgiften und Denksportübungen der Hopliten und Legionäre wieder auferstehen
lassen: Wie passt das zusammen?
DR. WLADYSLAW JAN KOWALSKI: Die klassische Welt und
griechisch-römische Kunst und Kultur haben mich schon immer fasziniert. Alle
Bücher, die mir dazu in die Hände fielen, habe ich verschlungen. Bei der
Lektüre fand ich viele Hinweise auf Brettspiele, und ich begann mich zu
fragen, ob es möglich sei, die Regeln zu rekonstruieren. Das dürfte mir im
Wesentlichen gelungen sein, weil die Spiele mathematischen
Prinzipien folgten und gleichzeitig relativ einfach strukturiert waren.
DR. R.GRALLA:
Griechische Vasen zeigen nicht selten Achilles und Ajax, die sich über ein
Brett beugen. Was treiben dort die mythischen Terminatoren aus der Ilias?
DR. KOWALSKI: Sie messen sich aller Wahrscheinlichkeit nach im "Petteia".
Und sie sollen, das überliefert uns die
Sage, eines dramatischen Tages derart tief in ihre Partie versunken gewesen
sein, dass erst die Göttin Athene persönlich herbeieilen musste, um
die Frontmänner der Griechen vor einem Angriff der Trojaner zu warnen. Da
der reale Konflikt, der Homer vermutlich als Vorlage für seine Heldengesänge
gedient hat, auf das 13. oder 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung
datiert wird, dürfte in jener Epoche auch das Petteia entstanden sein. Zumal
auf dem Hügel Hissarlik im Nordwesten der heutigen Türkei, wo mehrheitlich
das historische Troja vermutet wird, tatsächlich das Fragment eines
Spielbrettes ausgegraben worden ist.
DR. R.GRALLA:
Wie funktioniert Petteia?
DR. KOWALSKI: Schwarz tritt gegen Weiß an und eröffnet die Partie.
Jeder der beiden Kontrahenten verfügt über acht gleichwertige Steine, daher
die Bezeichnung "Petteia", übersetzt "Kiesel" oder "Bauer". Die runden
Scheiben werden vor Beginn des Matches auf der ersten beziehungsweise achten
Reihe eines quadratischen 64-Felder-Plans nebeneinander platziert. Die
Steine ziehen wie Türme im modernen Schach, das heißt, senkrecht oder
waagerecht. Aber eben nicht diagonal, außerdem können die Einheiten von
eigenen oder fremden Truppen besetzte Punkte nicht überspringen. Ein
feindlicher Soldat wird ausgeschaltet, sobald er zwischen zwei Angreifer
gerät, die ihn entweder horizontal oder vertikal in die Zange nehmen ...
DR. R.GRALLA:
...
offenbar auf dem Brett eine quasi realistische Nachbildung des antiken
Hauens und Stechens. Dass nämlich dann, wenn das Opfer von links und rechts
beziehungsweise vorne und hinten in eine Sandwichposition gerät, der
Unglückliche unweigerlich zu Boden geht ...
DR. KOWALSKI: ... eine dramatische Interpretation des
Partiegeschehens. Der spezielle Modus, nach dem im "Petteia" - und übrigens
später auch in der weiter entwickelten römischen Variante "Latrunculi" -
geschlagen wird, ist praktisch erzwungen durch die spezifische Dynamik des
vorgegebenen sparsamen Materials. Alternativen sind eben kaum denkbar. Ein
Treffen im Petteia ist entschieden, sobald die Verbände des Kontrahenten
aufgerieben worden sind. Alternativ hat derjenige gewonnen, dem es gelingt,
die Armee seines Spielpartners vollständig zu blockieren, so dass der andere
keinen weiteren Zug mehr ausführen kann.
Petteia
DR. R.GRALLA:
Das wäre
folglich eine Art Patt. Das im Petteia, vergleichbar dem chinesischen Schach
"XiangQi", die Niederlage des bewegungsunfähig Eingekesselten besiegelt?
DR. KOWALSKI: Korrekt.
DR. R.GRALLA:
Unterschiedliche Figurentypen sind im Petteia unbekannt. Folglich dürfte das
Spiel doch wohl recht übersichtlich und der Ablauf geradlinig sein?
DR. KOWALSKI: Oh nein, ganz im Gegenteil! Möchte eine Seite die
Oberhand gewinnen, muss sie äußerst subtil operieren und ihre Steine
geduldig hin und her schieben. Allein schon einen Soldaten derart in die
Enge zu treiben, um den Mann auszuschalten, ist ziemlich schwer,
vorausgesetzt, dass Patzer unterbleiben.
DR. R.GRALLA:
Haben die
Griechen für ihr Petteia bereits eine Eröffnungstheorie entwickelt?
DR. KOWALSKI: Daran zweifele ich nicht, allerdings sind
entsprechende Quellen bisher noch nicht aufgespürt worden. Die Griechen
müssen aber grundlegende Auftaktmanöver gekannt haben, desgleichen effektive
Strategien, um zuerst eine überlegene Stellung und anschließend materiellen
Vorteil zu erobern. Da sollte es mit Sicherheit einschlägige Fachliteratur
gegeben haben. Die freilich der Entdeckung noch harrt.
DR. R.GRALLA:
Lässt
sich Petteia demnach als frühe Schachversion definieren?
DR. KOWALSKI: Wegen der flachen Struktur des Spiels - es fehlt eine
Leitfigur, an deren Schicksal der Ausgang der Partie hängt - könnte man
daran seine Zweifel haben. Andererseits ist aus dem griechischen Petteia das
römische "Latrunculi" hervorgegangen. Wurzel des Namens ist die
Verkleinerungsform des lateinischen "latro", ursprünglich "Söldner" und
"Soldat" und später beleidigend als "Bandit" verstanden. Latrunculi wurde
ausgefochten auf unterschiedlich großen Brettern von 8 mal 8 bis 11 mal 10
Feldern, am gebräuchlichsten war aber vermutlich das Format 12 mal 8. Das
Latrunculi setzt neben den Basissteinen des Petteia zusätzlich für Schwarz
und Weiß den "aquila" ein, auf deutsch "Adler", der Standartenträger einer
Legion en miniature. Diese Figur kann nicht eliminiert werden, indem sie
bloß horizontal oder vertikal flankiert wird, sondern sie muss total
immobilisiert werden. Wem das gelingt, der hat den vollen Punkt geholt.
Mithin kommt dem Standartenträger eine zentrale Rolle im Latrunculi
zu. Konsequenz: Den Denksport der Legionäre dürfen wir ohne Übertreibung in
die Kategorie Protoschach einordnen.
DR. R.GRALLA:
Offenbar
haben richtige Mattangriffe die Partien im Lantrunculi entschieden?
DR. KOWALSKI: Ganz eindeutig. Sogar ein einzelner Stein kann, wenn der
Gegner nicht aufpasst, durch einen entschlossenen Vorstoß den feindlichen
Standartenträger zernieren, falls dem Attackierten ansonsten die eigenen
Männer die Bewegungsfreiheit rauben. Damit verschiebt sich der Fokus des
Duells darauf, den gegnerischen Führer auszuschalten. Das eröffnet die
Dimension für vorausschauende Strategie und clevere taktische Schläge. Und
sogar eine personell bereits geschwächte Truppe am Rand der Katastrophe kann
plötzlich das Blatt wenden und auf der Walstatt triumphieren.
DR. R.GRALLA: Ist
das Fazit zulässig, dass, wenn wir Latrunculi als Protoschach klassifizieren
und wenn Latrunculi seinerseits in der Basisversion Petteia wurzelt,
besagtes Petteia im Ergebnis dann doch nichts anderes ist als schon eine Art
Proto-Protoschach, mithin die Urmutter des Spiels der Spiele?
DR. W.J.KOWALSKI: Falls Sie das griechische Petteia auf die Weise, die Sie
soeben dargestellt haben, in der Hierarchie der strategischen Spiele
verorten, denke ich, dass diese These nicht zu gewagt ist.
DR. R.GRALLA:
Wie lange
hat Petteia seine Fans gehabt?
DR. KOWALSKI: Das Spiel ist mit dem Fall von Westrom untergegangen,
während Latrunculi möglicherweise von den Persern adaptiert worden ist.
Die diesen Import später ausdifferenzierten und in die Form des Schachs, die
bereits wesentliche Features der modernen Ausgabe aufgewiesen hat,
transformierten.
DR. R.GRALLA:
In der
Gegenwart erlebt Petteia eine überraschende Renaissance: als Download für
den PC, als schneller schlauer Spaß zwischendurch.
DR. KOWALSKI: Wirklich? Das wusste ich wiederum nicht! Aber das
macht mir Mut, an meine Vision zu glauben: dass sich in nicht allzu ferner
Zukunft ein Sponsor findet, der alljährlich ein internationales Turnier im
Petteia und im Latrunculi ausrichtet. Das im Idealfall jährlich ausgetragen
wird und dessen Champions uns die erfolgreichen Strategien zeigen, mit denen
die Meister von einst in beiden Disziplinen brilliert haben.
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Weitere Infos zu Petteia:
www.aerobiologicalengineering.com/wxk116/Roman/BoardGames/petteia.html; weitere
Infos zu Latrunculi:
www.aerobiologicalengineering.com/wxk116/Roman/BoardGames/latruncu.html; Petteia
zum Downloaden:
www.pocketpcfreeware.mobi/download-petteia-1-0.html