Wer gewinnt das Kandidatenturnier?

von Jon Speelman
19.04.2021 – Heute, am Montag, den 19. April 2021, beginnt die zweite Hälfte des Kandidatenturniers 2020, das am 16. März 2020 im russischen Jekaterinburg begonnen hatte, aber am 26. März 2020 nach sieben von 14 Runden abgebrochen worden war, weil Russland als Reaktion auf die Coronapandemie angekündigt hatte, die Grenzen zu schließen. Nach über einem Jahr Pause geht es jetzt weiter - mit dem alten Tabellenstand. Maxime Vachier-Lagrave und Ian Nepomniachtchi führen mit 4,5/7, einen Punkt dahinter folgen Fabiano Caruana, Anish Giri, Alexander Grischuk und Wang Hao mit je 3,5/7. Aber wer gewinnt das Turnier und darf im November gegen Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft spielen? Der englische Großmeister Jon Speelman wagt eine Prognose. | Bild: FIDE

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Vorhersagen, Vorhersagen

Ab dem heutigen Montag richten sich die Augen der Schachwelt auf das Kandidatenturnier in Jekaterinburg. Und so ließ ich mich vom Leichtsinn zu dem Gedanken verleiten, dass auch ich im vielstimmigen Chor der Vorhersagen ein Wort mitreden könnte, auch auf die Gefahr hin, mich zu blamieren.

Die erste Hälfte des Kandidatenturniers wurde vor über einem Jahr gespielt und die zweite Hälfte ist eigentlich ein vollkommen neues Turnier, das wie ein Rennen mit einer ganzen Reihe gewichtiger Handicaps wirkt. Im ersten Teil des Turniers haben Ian Nepomniachtchi und Maxime Vachier-Lagrave am besten gepunktet und nach sieben von 14 Runden teilen sie sich mit je 4,5/7 die Plätze eins und zwei.

Stand nach sieben von 14 Runden

 

Für Nepo lief das vergangene Jahr bei Onlineturnieren ziemlich gut und außerdem war er im Dezember 2020 mit dem Gewinn der russischen Meisterschaft in Moskau auch direkt am Brett erfolgreich. Zuletzt ist er beim Magnus Carlsen Online Invitational eindrucksvoll in Erscheinung getreten, vor allem im Halbfinale gegen Carlsen, wo er mit Kampfgeist überzeugte, als ihm das Aus drohte, aber dann auch einen Gang zurückschalten konnte, um zu kontern, nachdem Carlsen sein Blatt überreizt hatte. Das weckte Erinnerungen an Anatoly Karpov zu seinen besten Zeiten und lässt für das Kandidatenturnier hoffen.

Ian Nepomniachtchi

Ian Nepomniachtchi | Foto: FIDE

Für MV-L verlief das Jahr hingegen weniger gut. Als er in Wijk aan Zee am Brett gespielt hat, landete er am Ende der Tabelle, vielleicht auch, weil er keine Eröffnungsgeheimnisse verraten wollte. Aber dennoch gerieten seine Lieblingseröffnungen in Wijk unter Druck, und er hat zwei Mal mit Schwarz mit der Bauernraubvariante im Najdorf-Sizilianer verloren — erst gegen Nils Grandelius und dann gegen Fabiano Caruana.

Natürlich hatte er viel Zeit, um sein Repertoire auf Vordermann zu bringen und/oder auf andere Eröffnungen auszuweichen. Aber wenn man mit seinen Varianten bei seinen Gegnern jahrelang für Angst und Schrecken gesorgt hat und sich dann auf einmal in den gleichen Varianten Sorgen machen muss, dann ist das nicht gut für Selbstvertrauen und Zuversicht.  

Von den vier Spielern, die einen Punkt hinter den beiden Spitzenreitern liegen, hat Caruana definitiv die besten Chancen. Seine Ergebnisse bei Online-Turnieren waren im letzten Jahr zwar nicht überragend, aber das ist nur bedingt relevant. Natürlich gibt es eine deutliche Korrelation zwischen der Spielstärke im klassischen Schach und den Fähigkeiten beim schnellen Spiel im Internet, aber diese Korrelation ist beim Blitz schon sehr viel geringer und verschwindet bei dem Videospiel, das die Schachspieler Bullet nennen, fast völlig.

Ich frage mich übrigens, ob den Lesern schon aufgefallen ist, dass die wirklichen Macho-Jungs mittlerweile dazu übergegangen sind, vermehrt 30-Sekunden-Partien zu spielen, und dass, wenig überraschend, Alireza Firouzja diese Disziplin phantastisch beherrscht.

Wichtiger in Bezug auf das Kandidatenturnier ist, dass sich Caruana in Wijk aan Zee in ziemlich guter Form gezeigt hat und auf dem geteilten dritten Platz gelandet ist. Wenn er in Fahrt kommt, dann spielt er furchterregend gut und in Topform ist er fast nicht zu stoppen.

Anish Giri kommt nach seinem Sieg im Finale des Magnus Carlsen Online Invitational und, sehr viel wichtiger noch, seinem geteilten ersten Platz in Wijk mit Rückenwind zum Kandidenturnier – obwohl er den Stichkampf um den Turniersieg in Wijk gegen Jorden Van Foreest verloren hat. Im vergangenen Jahr sich Giri in einen deutlich aggressiveren Spieler verwandelt und er hat mit Sicherheit gute Chancen, das Kandidatenturnier zu gewinnen, allerdings halte ich sie trotz allem nicht für so gut wie die von Caruana.

Anish Giri, Fabiano Caruana

Verfolger: Anish Giri und Fabiano Caruana | Foto: Lennart Ootes / FIDE 

Von den acht Spielern in Jekaterinburg spielt Alexander Grischuk vielleicht das rätselhafteste Schach, wobei er es liebt, den Gegner zu provozieren, was dem Stil entspricht, den ich vor Jahren selbst gepflegt habe. Grischuk wird in der zweiten Hälfte des Kandidatenturniers mit Sicherheit ein paar Partien gewinnen, aber wird wahrscheinlich auch ein paar verlieren, womit er wahrscheinlich aus dem Rennen um den ersten Platz sein wird. Im Gegensatz dazu schien sich Wang Hao im letzten Jahr erst finden zu müssen und das hat seinen Partien eine starke Tendenz zum Remis verliehen. Wenn er in diesem Stil weitermacht, dann holt er zu wenig Punkte, um Chancen auf Platz eins zu haben. 

Womit wir schließlich zu den letzten beiden Spielern kommen, die noch einen weiteren Punkt zurück liegen: Ding Liren und den Letzten der Setzliste, Kirill Alekseenko.

Alekseenkos Chancen bei dieser Ausgangslage das Turnier zu gewinnen, sind verschwindend gering. Ding allerdings hat noch eine kleine Chance, wenn er in der zweiten Hälfte einen phantastischen Start hinlegt und ein perfektes Turnier spielt. Seine schlechte Form in der ersten Hälfte des Turniers war mit Sicherheit zum Teil der Quarantäne geschuldet, die er letztes Jahr in Moskau hinter sich bringen musste, bevor er weiter nach Jekaterinburg reisen durfte, und vermutlich hat man die Dinge beim zweiten Anlauf deutlich vernünftiger geregelt. Ding ist ein phantastischer Spieler und seine miserable Form, die er im vergangenen Jahr beim Internetschach gezeigt hat, ist kaum von Bedeutung, wenn man weiß, dass er "lange Arbeitszeiten" hatte, da die Online-Turniere oft zu Zeiten gespielt wurden, in denen es in China bereits Mitternacht war.

Alles in allem glaube ich, dass Nepo die größten Chancen hat, der nächste Herausforderer von Carlsen zu werden. Danach kommen Caruana und MV-L; Giri; Grischuk; Ding und Wang Hao; und Alekseenko. Ich bin kein Zocker, aber wir können den Chancen der einzelnen Teilnehmer gerne auch prozentual bewerten, etwa 27; 20, 20; 15; 10; 4, 4; und “0” (die Wahrscheinlichkeit, dass Alekseenko gewinnt, ist mit Sicherheit geringer als 1/100). In wenigen Stunden wissen wir mehr und spätestens am 28. April steht der Sieger fest. Sollte ich vollkommen daneben liegen, bin ich auf Vorwürfe und Kritik von allen Seiten eingestellt.

Maxime Vachier-Lagrave

Maxime Vachier-Lagrave war bei der Pressekonferenz am Sonntag guter Dinge | Foto: Lennart Ootes / FIDE

Zum Abschluss noch drei eventuell relevante Partien, die letztes Jahr am Brett gespielt wurden:

 

Jon Speelman im Video

Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer

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Jonathan Speelman, Jahrgang 1956, entschied sich 1977 nach einem Studium der Mathematik für eine Karriere als Schachprofi. Er wurde drei Mal Britischer Meister und von 1980 bis 2006 war er Mitglied der englischen Olympiamannschaft. Zwei Mal qualifizierte er sich für die Kandidatenwettkämpfe und 1989 kam er dort bis ins Halbfinale. Speelman arbeitete auch als Sekundant für Nigel Short und Vishy Anand und ist Autor einer Reihe erfolgreicher Bücher.

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