Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
Weselin Materazzi und Zinedine Kramnik
Big Brother in Elista: Wie die Schach-Weltmeisterschaft ihren
Skandal bekam
Dreizehn Jahre lang hat die Schachwelt darauf gewartet,
wieder eins zu sein. Seit dem Ausstieg Kasparows aus dem Weltverband Fide 1993
soll endlich wieder nur ein Weltmeister gekürt werden - der wahre König. Doch
die Szene bleibt zerstritten wie eh und je.
Von Axel EGER
ELISTA/ERFURT. Das Spiel erinnerte an einen
Vorfall, der sich vor 34 Jahren in Reykjavik zugetragen hatte. Damals war Bobby
Fischer nicht zur zweiten Partie gegen Boris Spasski erschienen und verlor
kampflos – so wie Wladimir Kramnik am vergangenen Freitag in der fünften Runde
des WM-Matches gegen Weselin Topalow.
Doch während der exzentrische Amerikaner
einst mit maßlosen Forderungen seinen ganz privaten Feldzug gegen das
vermeintlich Böse antrat, wirkt der jüngste Skandal kollektiv inszeniert.
Dabei lag die Schachwelt ihren Göttern in
Schwarz und Weiß schon zu Füßen. Zwei Auftaktpartien voller Dynamit räumten alle
Vorurteile weg, hier könnten vielleicht nicht die besten Spieler des Planeten
sitzen. Mit Glück führte Kramnik 2:0. Doch der Champion des klassischen Schachs
brauchte dafür Glück und die ihm eigene sprichwörtliche Kühle. Kein anderer
versteht es, brisante Stellungen so zu entschärfen wie er.
Genauso gut aber hätte Weselin Topalow mit
1;5:0,5 vorn liegen können. Der Fide-Weltmeister, ein kämpfender Praktiker,
griff zweimal mutig an – und zweimal nur knapp daneben.
Doch hinter der Kulisse dieses
atemberaubenden Weltklasseschachs wurden die ersten Fäden einer Intrige gezogen.
Nachdem Fide-Präsident Kirsan Illyumshinov in seiner Eigenschaft als Staatschef
des Gastgeberlandes Kalmückien zum Treffen der südrussischen Präsidenten nach
Sotschi abgeflogen war, zog Topalows Manager Silvio Danailow einen giftigen
Pfeil aus dem Köcher. Gegenstand des plötzlichen Protestes: Kramnik habe während
der Partien zu oft das stille Örtchen aufgesucht. Die mehrminütigen
Aufzeichnungen einer Videokamera, die die Ruheräume der Spieler überwacht,
rechneten die Ankläger auf einen 50-fachen Toilettenbesuch Kramniks hoch. Der
Eindruck entstand, der Russe bediene sich auf nicht kontrolliertem Terrain
unlauterer Mittel.
Das Brisante daran: die Videobänder sollen
der Topalow-Seite vom Schiedsgericht zugespielt worden sein. In jenem sitzen mit
dem Griechen Georgios Makropoulos und dem Georgier Zurab Asmaiparaschwili zwei
Danailow sehr nahe stehende Personen. Zudem war der zwielichtige
Asmaiparaschwili in der Vergangenheit als Spieler mehrmals in regeltechnisch
sehr dubiose Affären involviert. Und nebenbei gab es in diesen Tagen politische
Spannungen zwischen Georgien und Russland, das fast alle seine Diplomaten aus
Tiflis zurückbeordert hat.
Kramnik erklärte, er sei nicht zu einer
Big-Brother-Show gekommen und forderte, wie bisher seine eigenen
Sanitäreinrichtungen nutzen zu dürfen. Weil die zugesperrt blieben, trat er zur
fünften Partie nicht an, Topalow gewann kampflos und verkürzte auf 2:3.
Inzwischen haben sich mit dem Amerikaner
Yasser Seirawan sowie den Engländern John Nunn und Nigel Short namhafte
Großmeister um Vermittlung bemüht. Sie alle beziehen klar Stellung für Kramnik.
So antwortete Short auf die Frage, ob er dem Russen einen Betrug zutraue: „Um es
mit einem Wort zu sagen - nein.“
Weder Kramnik noch Topalow waren bisher als
Streithähne abseits des Schachbrett aufgefallen. Um so grotesker wirkt die
bizarre Schlacht. In ihrem Wesen ähnelt sie einem anderen großen Drama des
diesjährigen Sommertheaters. Topalow schlüpfte in die Rolle des Italieners
Materazzi und provozierte mit unseriösen Enthüllungen sein Gegenüber, so dass
aus dem aristokratischen Feingeist vom Schwarzen Meer ein erboster Zinedine
Kramnik wurde, der die fünfte Partie einfach boykottierte.
Natürlich ist es nicht die Stänkerlust
allein, die das Topalow-Team treibt. Laut ausgehandeltem Regularium kann nur der
Sieger des Matches am WM-Turnier der Fide im kommenden Jahr in Mexiko
teilnehmen. Der Verlierer wäre erst einmal weg von allem Titelfenstern. Das
bedeutet weniger Geld und weniger Image. Auch für die Fide, die 2007 bei „ihrem“
Turnier sicher gern „ihren“ Kandidaten dabei hätte.
In Elista wird schon gemutmaßt, dass Topalow
nach dem jähen Rückstand nur einen Weg sucht, um aus dem Match zu kommen. Dann
wäre alles wie bisher. Kramnik bliebe Champion des klassischen Schachs, Topalow
als Fide-Weltmeister offen für weitere Events seines Verbandes und alles
zusammen in schönster Unordnung.
Aber stört das die Fide wirklich?