25.10.2019 – Sebastian Raedler hat in Cambridge und Harvard Philosophie und Politik studiert, in Köln über Kants Moralphilosophie promoviert und arbeitet als Finanzanalyst in London. Und er ist Schachenthusiast. In seinem vor kurzem erschienenen Buch "Schachfieber" macht er sich Gedanken über die "Liebe zu einem unmöglichen Spiel". Das ist anregend und interessant, aber lässt auch viele Fragen offen. | Foto: Sebastian Siebrecht
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Sebastian Raedler, Schachfieber: Von der Liebe zu einem unmöglichen Spiel - Rezension
Schachfieber versteht sich, wie Raedler in der Einleitung schreibt, als "eine Liebeserklärung an das Schachspiel. (...). Was ist dran an diesem Spiel, das seit Jahrhunderten den menschlichen Geist in seinem Bann hält?" (Sebastian Raedler, Schachfieber: Von der Liebe zu einem unmöglichen Spiel, mairisch Verlag, Hamburg 2019, S. 16). Die meisten Schachspieler packt der Schachvirus in der Jugend, Raedler hat sich erst als Erwachsener damit infiziert, "als ich für meine Arbeit viel zu reisen begann. Taxifahrten, Zugreisen und Flughafen-Lounges wurden zu einem festen Bestandteil meines Lebens und brachten eine Menge toter Zeit mit sich. (...) Also fing ich an, Schach zu spielen" (S. 11). Blitzschach im Internet – Raedler ist reiner Amateur, in der Elo-Rangliste sucht man seinen Namen vergeblich und ob er je in einem Open, bei einer Vereinsmeisterschaft oder einem Mannschaftskampf am Brett gesessen hat, verrät er nicht.
Aber dieser Anfängergeist, der Enthusiasmus und die Begeisterung des Amateurs, verleihen Raedlers Buch Charme. Denn in vier Kapiteln – "Schach als Krieg", "Schach als intellektuelle Herausforderung", "Schach als Kunst" und "Warum wir Schach spielen" versucht Raedler seiner plötzlichen und leidenschaftlichen Liebe zum Schach auf den Grund zu gehen.
Dabei philosophiert er über das Spiel und garniert seine Gedanken immer wieder mit hübschen Beispielen aus der Welt des Schachs: einem überraschend komplizierten Schachproblem, in dem Weiß einzügig Matt setzen soll, einer Studie, mit verblüffenden Wendungen oder einer Partie, die zeigt, warum Fehler, Pleiten, Pech und Pannen bitter sein können, aber zum Schach dazugehören.
Weiß zieht und setzt in einem Zug Matt
G. Garcia - B. Ivkov, Capablanca Memorial, Havanna 1965, Runde 20, Stellung nach 36.g4
In dieser Stellung steht Schwarz auf Gewinn und mit einem Zug wie z.B. 36...De1 hätte Ivkov die Partie und damit wohl auch das Turnier gewonnen. Aber stattdessen spielte er 36...d3?? und gab nach 37.Lc3 sofort auf.
Dieses Drama kommentiert Raedler mit philosophischer Gelassenheit:
"Und doch müssen wir das Unannehmbare akzeptieren: Verlieren ist Teil des Schachspielens. Er wäre lächerlich, ernsthaft das Ziel zu haben, niemals ein Spiel zu verlieren. (...) Unsere Aufgabe ist nicht, niemals zu verlieren, sondern vielmehr, uns nach jeder Pleite wieder aufzurappeln und das nächste Spiel zu wagen. Jeder Misserfolg im Schach ist eine Lehrstunde, die uns über die geheimnisvolle Kombinationskraft der Schachfiguren erteilt wird" (S. 36-37).
Allerdings sind nicht alle Ausführungen Raedlers über das Schach so überzeugend wie diese Ratschläge und Gedanken über den Umgang mit Niederlagen. So schreibt er mit Verweis auf den renommierten Psychologen Daniel Kahneman, der 2002 zusammen mit Vernon L. Smith den Nobelpreis für Wirtschaft, erhielt:
"Kahneman unterscheidet in seinem Buch Thinking. Fast and Slow zwei verschiedene Operationsweisen des menschlichen Geistes. Die erste, die er System 1 nennt, ist assoziatives Denken. Es ist automatisch, schnell, unbewusst und basiert auf Emotionen. (...) Die zweite Operationsweise, die er System 2 nennt, ist bewusstes, angestrengtes und logisches Denken. (...) Beim Schachspiel müssen wir (...) der Versuchung widerstehen, sofort loszuschlagen. Wir müssen unser Denken verlangsamen und uns fragen, wie unser geplanter Zug die Wechselbeziehungen zwischen den Figuren auf dem Brett beeinflusst, welche Schwachstellen er in unserer eigenen Struktur verursacht und mit welchen Zügen unser Gegner auf unsere Manöver antworten kann" (S. 62-64).
Diese Beschreibung entspricht dem klassischen Bild des Schachs, aber Schachspieler sehen das vielleicht anders. Zum Beispiel, wenn sie Magnus Carlsen beim Blitzen zuschauen. Denn auch mit nur drei Minuten – oder in manchen Partien auch nur mit einer Minute – Bedenkzeit spielt Carlsen oft strategisch besser als viele Internationale Meister und starke Amateure in langen Partien. Zwei Beispiele: im ersten besiegt Carlsen bei der Blitzweltmeisterschaft 2018 den russischen Großmeister Zhamsaran Tsydypov in einer beeindruckend gradlinigen Partie. Nach Abschluss der Eröffnung gruppiert Carlsen seine Figuren ein wenig um, um dann einen starken Angriff zu starten, der ihm mit Hilfe eines taktischen Tricks zu Materialgewinn verhilft, den er dann problemlos in einen Sieg verwandelt.
In der zweiten Partie besiegt Carlsen seinen langjährigen Rivalen und späteren Gegner im WM-Kampf, Sergey Karjakin, bei der Blitzweltmeisterschaft 2012 – und auch hier sieht man einen strategisch konsequent vorgetragenen Angriff.
Solche Blitzpartien werfen Fragen auf: Wieso können Weltklassespieler wie Carlsen & Co. fast ohne nachzudenken Züge machen, die andere Schachspieler mit sehr viel mehr Bedenkzeit nicht finden und vielleicht auch niemals finden werden? Liegt das am Talent, an Tausenden von Stunden Training, die diese Spitzenspieler absolviert haben oder an umfassender und gründlicher Eröffnungsvorbereitung? Oder verfügen Weltklassespieler über eine besondere Form von Intuition, die ihnen hilft, sofort zu erkennen, was in einer Stellung gemacht werden muss, wo die Figuren und die Bauern in der jeweiligen Konstellation hingehören?
Magnus Carlsen nach dem Gewinn des Norway Chess Turniers 2019 | Foto: Lennart Ootes
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Solche Fragen gehen über das Schach weit hinaus, denn sie berühren generelle Probleme von Expertenwissen und Entscheidungsfindungen in komplexen Situationen. Noch komplexer, reizvoller und interessanter werden diese Fragen, wenn man überlegt, wie und warum Computer mittlerweile besser Schach spielen als die Menschen und warum ein selbstlernendes Computerprogramm wie AlphaZero noch besser spielt als alle Computer und Menschen vor ihm und ob sich das, was man hier auf dem engen und klar definierten Gebiets des Schachs sieht, auch auf andere Bereiche des menschlichen Lebens übertragen lässt.
Kein Wunder also, dass sich zahlreiche Schachspieler und Autoren wie Adrian de Groot (Thought and choice in chess), Alexander Kotov (Denke wie ein Großmeister), Jonathan Tisdall (Improve Your Chess Now) oder Willy Hendricks (Erst ziehen, dann denken), um nur einige zu nennen, mit Fragen des schachlichen Denkens beschäftigt haben und dabei zu interessanten Erkenntnissen gekommen sind. Raedler allerdings belässt es bei dem Verweis auf Kahneman und dem doch recht hausbackenen Ratschlag, beim Schach gründlich, langsam und sorgfältig nachzudenken.
Ein ähnliches Muster lässt sich beobachten, wenn Raedler über Schönheit im Schach oder die Bedeutung der Theorien von Wilhelm Steinitz für die Geschichte des Schachs nachdenkt. Er macht interessante Beobachtungen und wirft interessante Fragen auf, aber wie bei der Analyse von Schachpartien kann man eigentlich fast immer noch tiefer gehen und nachfragen – was viele Autoren im Laufe der Schachgeschichte ja auch bereits gemacht haben.
Allerdings wollte Raedler eben keine tiefschürfende Abhandlung über die vielen Facetten des Schachs schreiben, sondern sein Buch soll eine "Liebeserklärung" an das Schach sein und damit auch eine Einladung, sich ausführlicher mit dem Schach zu beschäftigen. Und trotz einiger kleiner Ungenauigkeiten – der von Raedler als "Philosoph" zitierte Mike Tyson ("Jeder hat einen Plan, bis ihm jemand ins Gesicht schlägt", vgl. S. 30) ist den meisten Menschen eher als dann doch sehr robuster und mehrfach vorbestrafter Boxweltmeister bekannt, und den Begriff "Flow", bei dem Raedler suggeriert, er stamme von Kahneman, hat der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi geprägt – ist diese Einführung insgesamt anregend, unterhaltsam und gut zu lesen.
Hamburg, Mairisch Verlag 2019 ISBN 978-3-938539-57-6 12,00 €
Johannes FischerJohannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".
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