Schach in der Literatur und als Kulisse: "Gambit" von Rex Stout

von Johannes Fischer
19.10.2023 – Albins Gegengambit (1.d4 d5 2.c4 e5) war und ist ein seltener Gast bei Spitzenturnieren und in der Praxis der Weltmeister kommt es fast gar nicht vor. Die Variante gilt als theoretisch anrüchig und als allzu stürmischer Versuch, im soliden Damengambit Gegenspiel zu bekommen. Aber dafür fand die Eröffnung Eingang in die Literatur – im Roman "Gambit" des amerikanischen Krimiautors Rex Stout.

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

Rex Stout (1.12.1886 bis 7.10.1975) ist einer der bekanntesten amerikanischen Kriminalautoren und Schöpfer von Nero Wolfe, einem meist schlecht gelaunten New Yorker Privatdetektiv mit überaus scharfem Verstand, einer Leidenschaft für Orchideenzucht, gutes Essen und gute Bücher. Seine Wohnung verlässt Wolfe selten und nur ungern. Für Ermittlungen außer Haus hat er seinen Assistenten Archie Goodwin, der zugleich Ich-Erzähler der Nero-Wolfe-Romane ist.

Diese Konstellation erinnert an das Duo Sherlock Holmes und Dr. Watson, und Traian Suttles, der sich im Karl, der kulturellen Schachzeitschrift, mit Rex Stouts Gambit beschäftigt hat, kommt zu dem Befund,

"dass hier ein Fall von literarischer Trauerarbeit vorliegt: Im Juli 1930 war Arthur Conan Doyle gestorben, Erfinder des allseits geschätzten, ja verehrten Sherlock Holmes. ... Genau vier Jahrzehnte lang, von 1887 bis 1927, hatten Doyles Detektivgeschichten das Genre der Kriminalerzählung entscheidend geprägt. Als unwiderruflich feststand, dass es keine weiteren Storys um das Genie aus der Londoner Baker Street geben würde, fühlte sich der US-Amerikaner Stout offenbar berufen, den Holmes-Mythos mittels einer eigens zu diesem Zweck konzipierten Nachfolgefigur fortzuführen." (Traian Suttles, "Verlustreiches Gambit", Karl, 4/2022, S.52)

Es war eine produktive Trauerarbeit. Stouts erster Nero-Wolfe-Roman erschien 1934 unter dem Titel Fer-de-Lance und bis zu seinem Tod im Jahre 1975 schrieb Stout noch 32 weitere Nero-Wolfe-Romane, dazu 41 weitere Erzählungen mit dem Privatdetektiv. Wie seine Tagebücher belegen, brauchte Stout für einen dieser Romane in der Regel sechs Wochen, kürzere Erzählungen schaffte er in zwei Wochen.

Und es war eine erfolgreiche Trauerarbeit: 1959 wurde Stout von den Mystery Writers of America mit dem Grand Master Award ausgezeichnet und auf der Bouchercon XXXI, der weltgrößten Mystery-Convention, wurde sein Nero-Wolfe-Zyklus zur besten Mystery-Serie des Jahrhunderts und Stout zum besten Mystery-Autor des Jahrhunderts gewählt.

Rex Stout 1975 | Fotoquelle: Wikipedia

Um Schach geht es in Stouts Roman Gambit, der im Oktober 1962 erschien. Wolfe soll herausfinden, wer den Schachspieler Paul Jerin vergiftet hat, als der eine Blindsimultanvorstellung an zwölf Brettern gab. Für die Polizei steht der Mörder schnell fest: Sie hält Matthew Blount, reicher Geschäftsmann und Präsident des Schachvereins, in dem das Blindsimultan stattfand, für den Täter. Doch Blounts Tochter Sally glaubt an die Unschuld ihres Vaters und beauftragt Wolfe, den wirklichen Mörder zu finden. Wolfe erkennt schnell, dass der Mörder Jerin nur als Bauernopfer genutzt hat, um Blount als Täter dastehen zu lassen und so aus dem Weg zu räumen – das ist das im Titel erwähnte "Gambit".

Da der Mord in einem Schachklub geschah und das Opfer und die Hauptverdächtigen alle Schachspieler sind, geht es bei Wolfes und Goodwins Ermittlungen natürlich auch um Schach. So beschreibt Goodwin in Kapitel 3 die luxuriöse Einrichtung des Schachklubs:

"In einer Ecke befand sich ein Schachtisch mit einer Marmorplatte, die Felder waren aus gelbem und braunem Marmor, die Figuren standen über das Brett verteilt und nicht mehr auf ihren Ausgangsfeldern. Die Gazette hatte berichtet, die Figuren wären aus Elfenbein und Kokcha Lapislazuli und sie und der Tisch hätten Ludwig XIV. gehört, der mit ihnen gespielt haben soll, und dass die Figuren so aufgestellt wie nach dem neunten Zug in Paul Morphys berühmtester Partie, seinem Sieg gegen den Herzog von Braunschweig und den Grafen Isouard in Paris 1858." (Rex Stout, Gambit, William Collins Sons & Co Ltd, Glasgow 1975, Erstveröffentlichung 1963, S. 38, meine Übersetzung)

Ein Diagramm der Stellung nach dem neunten Zug oder gar die gesamte Partie fehlen in Gambit, aber hier ist diese berühmte Partie noch einmal zum Nachspielen.

Und während Goodwin eine Partie verfolgt, die im Schachklub gespielt wird, kommt er zu dem Schluss:

"Ein faszinierendes Spiel, wenn es einen fasziniert. Da ich nichts besseres zu tun hatte, blieb ich eine halbe Stunde dabei, und überlegte mir, welche Züge Weiß und Schwarz als Nächstes machen sollten und erzielte ein perfektes Ergebnis. Ich lag jedes Mal falsch. Als Schwarz einen Turm dahin zog, wo ihn ein Springer nehmen konnte, aber mit einem Abzugsschach durch einen Läufer, das ich nicht gesehen hatte, musste ich zugeben, dass ich niemals ein Botvinnik oder auch nur ein Paul Jerin sein würde..." (S. 40).

Albins Gegengambit kommt in einem der Verhöre, die Nero Wolfe mit den Hauptverdächtigen führt, zur Sprache. Victor Avery, der Arzt der Familie Blount, der am Blindsimultan teilgenommen hat, erklärt, warum er während der Vorstellung nichts Verdächtiges bemerkt hat: "Ich habe mich auf meine Partie konzentriert. Ich habe es mit Albins Gegengambit probiert. Houghteling hat so 1905 gegen Dodge gespielt und ihn im sechzehnten Zug Matt gesetzt." (Gambit, S. 100)

Auch diese Partie fehlt im Buch, aber auch sie ist sehenswert.

Ein weiterer Verdächtiger ist Morton Farrow, der Neffe von Matthew Blounts Frau Anna. Als Nero Wolfe ihn fragt, ob er Schach spielen kann, antwortet Farrow:

"Die ersten drei oder vier Züge kann ich mithalten, in jeder Eröffnung, von Spanisch bis Caro-Kann, aber dann verliere ich schnell den Überblick. Mein Onkel hat mich zum Schach gebracht, weil er glaubt, es fördert das Gehirn. Ich bin nicht so sicher. Schauen Sie sich Bobby Fischer an, den amerikanischen Meister. Hat er ein Gehirn? Wenn ich gut genug bin, um ein 100-Millionen-Dollar-Unternehmen zu führen, was ich jetzt seit zwei Wochen tue, dann glaube ich nicht, dass mir das Schachspielen dabei geholfen hat. Ich bin dafür gemacht, ein Topmanager zu sein, nicht dafür, mich eine halbe Stunde lang hinzusetzen und mich zu konzentrieren, um dann einen Bauern nach vorne zu rücken." (Gambit, S.87)

Die ersten der hier zitierten Schachpassagen wirken überzeugend, doch Schachspieler, die nicht weiterspielen wollen, weil der Gegner im Damengambit nicht 3.Sc3, sondern 3.Sf3 zieht, gibt es wohl kaum. So legt diese Passage die Vermutung nahe, dass Stout selbst kein Schachspieler war, aber als Vorbereitung für das Schreiben seines Romans Recherchen über das Schach und die Schachwelt angestellt hat.

Tatsächlich dient Schach in Gambit vor allem als Kulisse und für die Handlung des Romans und die Auflösung des Falls spielt Schach keine zentrale Rolle. Mit den entsprechenden Anpassungen hätte Gambit auch im Tennisklub, im Musikermilieu oder in der Welt der Banken spielen können und wäre dann unter Titeln wie "Doppelfehler", "Zweite Geige" oder "Schuldschein" veröffentlicht worden. Aber Nero Wolfe und Archie Goodwin behalten auch in der Welt des Schachs die Übersicht, sie lösen den Fall, beweisen die Unschuld von Matthew Blount und entlarven den wahren Täter.

Das Cover der englischen Ausgabe von Gambit

Rex Stout war zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Kriminalschriftsteller und seine Bücher werden auch heute noch aufgelegt. So begann der Klett Cotta Verlag vor wenigen Jahren mit einer Neuübersetzung etlicher Nero-Wolfe-Romane und bewarb diese Bücher mit der kühnen Aufforderung "Stellen Sie sich das uneheliche Kind von Miss Marple und Philip Marlowe vor und Sie haben Nero Wolfe", eine Anregung, die immer unsinniger und alberner wird, je mehr man sie befolgt. Und auch Gambit selbst kann heute nicht mehr in allen Punkten überzeugen, vor allem nicht bei dem Frauenbild, das der Roman zeichnet.

So wird als mögliches Motiv für den Mord an dem Blindspielvirtuosen Paul Jerin und den Versuch, diesen Mord James Blount anzuhängen, ernsthaft behauptet, der Mörder hätte mit diesem Manöver Anna, die Frau von Blount, die im Roman immer wieder als atemberaubend schön beschrieben wird, erobern wollen. Laut dieser Erklärung für das Mordmotiv hat der Täter Paul Jerin vergiftet, um Mr. Blount zu beseitigen, um dann irgendwann Mrs. Blount heiraten zu können – und Nero Wolfe, Archie Goodwin und leider auch Rex Stout scheinen diese Idee tatsächlich für ein ernsthaftes Motiv zu halten, so als ob Mrs. Blount bei der Wahl eines zukünftigen Gatten keine wirkliche Entscheidungsfreiheit besitzen würde.

Das Cover der deutschen Ausgabe von Gambit

Hingegen wird Sally, die Tochter der Blounts, die Nero Wolfe trotz des Widerwillens, den der schwergewichtige Detektiv gegen die Annahme des Falls zunächst zeigt, am Ende überzeugen kann, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, als ängstliche, zur Hysterie neigende junge Frau, die von Archie Goodwin beschützt werden muss, dargestellt.

Diese missglückte Zeichnung zweier wichtiger Charaktere, durch die auch das Motiv für den Mord an Paul Jerin wenig überzeugend wirkt, trübt den Genuss an diesem Roman erheblich, auch wenn es immer noch Spaß macht, Archie Goodwin beim Arbeiten und den wunderbar mürrischen Nero Wolfe beim Denken zu beobachten. Und auch wenn das Schach in Gambit nur als Kulisse dient, so inspiriert der Roman nicht zuletzt doch auch dazu, sich noch einmal zwei hübsche Klassiker der Schachgeschichte anzuschauen.

The Amazing Albin Counter-Gambit

Lawrence Trent stellt eine aggressive und unterschätzte Antwort auf das weiße Damengambit vor. Über 5 Stunden Laufzeit.

Mehr...

Links


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".