
Wir setzen unseren Bericht vom Match des Jahrhunderts mit den Ereignissen nach der dritten Partie fort. Fischer hatte die erste Partie nach einem sehr riskanten Zug (...Lxh2) verloren und war zur zweiten Partie nicht angetreten. Doch zur dritten Partie trat er wieder an und besiegte Spassky mit Schwarz mit inspiriertem Spiel.
Ein engagierter Zuschauer des Weltmeisterschaftskampfs 1972 war Lawrence Stevens, der kurz vor Beginn der zweiten Partie nach Reykjavik gekommen war und dann anfing, die Zeit aufzuschreiben, die Fischer und Spassky jeweils für ihre Züge brauchten. Wie er das gemacht hat, beschreibt er hier:
Bei der Schwarz-Weiß-Übertragung der Partien waren die Uhren der Spieler gelegentlich zu sehen. Die Partien wurden in der Lobby, in der Cafeteria und im Spielsaal gezeigt. Die Partien waren perfekt aufgestellt und gezeigt wurde stets die aktuelle Stellung. Dazu gab es noch weitere Kameras, die Spieler und Brett aus unterschiedlicher Perspektive zeigten. Manchmal konnte man die Uhren der Spieler sehen. Doch dann sah man auf dem Bildschirm schnell wieder die aktuelle Stellung. So konnte man den Zügen in der Lobby, in der Cafeteria und im Spielsaal jederzeit folgen, aber die Bedenkzeiten waren immer nur gelegentlich zu sehen.
Um die Bedenkzeit aufzuschreiben, habe ich ein kleines Partienheft benutzt, das ich in der Halle gekauft habe. Das kleine Heft wurde für 100 Island-Kronur verkauft, damals umgerechnet etwas mehr als ein US-Dollar.
Wenn die Uhr auf dem Bildschirm zu sehen war, konnte ich durch Addition der beiden Bedenkzeiten den Partiebeginn ausrechnen. Beim nächsten Zug eines Spielers musste ich nur auf meine Armbanduhr schauen, um die Gesamtbedenkzeit zu erfahren. Davon habe ich die Bedenkzeit des Gegners abgezogen und die Differenz war die Bedenkzeit des Spielers, der gerade gezogen hatte. Wenn dann der Gegner ein paar Minuten später einen Zug gemacht hat, dann konnte ich das Ganze wiederholen.
Wenn die Uhr dann das nächste Mal zu sehen war, konnte ich die Bedenkzeit für den Spieler, der nicht am Zug war, korrigieren. In der dritten Partie bemerkte ich bereits früh, dass irgendetwas mit den von notierten Bedenkzeiten nicht stimmte:
Nach Spasskys 8. Zug habe ich angefangen, die Bedenkzeit aufzuschreiben, denn da habe ich Spasskys Uhr das erste Mal bei der Übertragung gesehen. Nach Fischers 18. Zug zeigte die Übertragung einen Zeitverbrauch von 1:07 auf Fischers an. Die Zeit, die ich für Spassky notiert hatte, stimmte, aber irgendwie hatte ich neun Minuten zu wenig für Fischer eingetragen - ich hatte eine Bedenkzeit von 0:58 aufgeschrieben.
Ich konnte mir lange nicht erklären, wie mir dieser Irrtum unterlaufen war - bis ich am 31. Oktober 2008 den ausgezeichneten Bericht über das Match von Prof. Christian Hesse las. Er erklärte, dass der Schiedsrichter die Uhr tatsächlich pünktlich in Gang gesetzt und Spassky sofort 1.d4 gespielt hatte. Doch dann dauerte es noch neun Minuten, bis Fischer mit 1... Sf6 antwortete.
Mit Prof. Hesses Information kam ich zu dem Schluss, dass dies der Grund war, warum ich die Zeiten für die Züge 8-18 falsch aufgeschrieben hatte. Ich habe Fischers Bedenkzeit für diese Züge dann korrigiert.
Hier sind die Bedenkzeiten für die Partien drei bis fünf, so wie sie Lawrence Stevens in Reykjavik notiert hat:
Partie 3, 16. bis 17. Juli 1972
Spassky Fischer |
Partie 4, 18. Juli 1972
Fischer Spassky |
Partie 5, 20. Juli 1972
Spassky Fischer |
Die oben angegebenen Zeiten wurden auf der Webseite The Crack Team veröffentlicht, über die wir in der nächsten Folge noch berichten werden.
Doch jetzt zu den Partien. In ihrer September-Ausgabe veröffentlichte Chess Life & Review einen Bericht von GM Robert Byrne, der in Reykjavik vor Ort war und die Partien vier und fünf kommentiert hat (genau wie Partie eins und drei).
GM Robert Byrne (20. April 1928 – 12. April 2013) gewann die US-Meisterschaft 1972, war 1974 WM-Kandidat, neun Mal Mitglied der US-Olympiamannschaft, Universitätsprofessor und von 1972 bis 2006 Schachkolumnist der New York Times.
Robert war ein guter Freund, den ich (Frederic Friedel) immer mal wieder getroffen habe. Besonders gut erinnere ich mich an einen Besuch bei ihm zu Hause in Ossining, New York, wo wir gemeinsam zu Abend aßen und er dann, bei ein paar Gläsern Wein, stundenlang von seiner Reise nach Reykjavik 1972 erzählt hat. Er zeigte mir Partien und schilderte, wie er diese Partien damals erlebt hat. Er gab mir dann auch noch sein Buch über den Wettkampf, mit einer schönen Widmung. In der September-Ausgabe von Chess Life & Review hatte er geschrieben:
In der vierten Partie spielte Spassky einen Überraschungssizilianer, auf den ihn sein Analyseteam gut vorbereitet hatte. Ein brillantes Bauernopfer im 16. Zug gab im starken Angriff, aber dann konnte er doch keinen Weg finden, um die pointierte Verteidigung des Herausforderers zu überwinden. Die Partie wird hier immer noch diskutiert, doch zu einem klaren Ergebnis, wie es hätte ausgehen sollen, ist noch niemand gekommen. Nachdem sich die Spieler auf Remis geeinigt hatten, stand es 2½-1½ und Spassky war immer noch in Führung.
Die folgenden Anmerkungen von Robert Byrne wurden auf den Seiten 539-540 der Zeitschrift veröffentlicht (die Seiten von CL&R wurden über das ganze Jahr durchnummeriert).
Über die fünfte Partie schrieb Byrne (CL&R Sept. 1972, S. 537):
In der fünften Partie entschied sich Bobby wieder für den Nimzo-Inder, variierte dieses Mal aber mit Hübners 6...Lxc3+, was streng genommen beiden Seiten Chancen gibt. Doch wie in der dritten Partie durchkreuzte ein überraschender und ungewöhnlicher Springerzug von Fischer im 11. Zug Spasskys ehrgeizige Pläne, die Initiative an sich zu reißen. Spassky wurde allmählich in die Defensive gedrängt, aber ein sofortiger Gewinn war noch nicht zu sehen, als dem Weltmeister, der unter Druck stand, im 27. Zug ein schwerer Fehler unterlief. Fischer schlug sofort zu und glich das Match zum 2½-2½ aus.
Byrne schrieb:
Einen Zwei-Punkte-Rückstand in nur drei Partien aufzuholen, ist phantastisch. Aber Fischers Spiel ist zu scharf für Boris. Fischers Ein-Mann-Eröffnungsanalysen waren deutlich besser als das, was die gesamte Armee von Sowjetanalytikern Boris liefern konnten. Einmal, in der vierten Partie, lief die Eröffnung erfolgreich für den Russen, doch da verwehrte Fischers bemerkenswerte Verteidigung im Mittelspiel ihm den ganzen Punkt. Wenn Bobby in Fahrt ist, dann spielen die Farben keine Rolle. Spassky wird in dem Wettkampf nicht bestehen können, wenn er keine Antwort auf Fischers Verteidigungen findet. Trotz der beiden Minuspunkte in den ersten beiden Partien bleibe ich bei meiner Vorhersage, dass Fischer 12½-8½ gewinnt.
Zu dieser dramatischen Partie haben wir auch Anmerkungen von IM Sagar Shah, der uns geholfen hat, den Wettkampf zu dokumentieren. . Sie können seine Anmerkungen mit denen von Byrne oben vergleichen.
Und wenn Sie noch nicht genug vom Match des Jahrhunderts haben, dann können Sie die Partien auch gerne in der Mega Database suchen, wo sie alle ausführlich kommentiert sind.
Die Chess Life & Review Ausgabe vom Juni 1972 (ein Klick auf das Bild führt zu einer größeren Version) veröffentlichte auf ihrem Cover ein Cartoon von Bob Walker, in dem man sieht, wie sich Boris Spassky vor dem Wettkampf mit Leonid Brezhnev und Alexei Kosygin berät.
Vor 45 Jahren – Bobby Fischer in Island (1)
In der letzen Juniwoche 1972 war die Schachwelt im Aufruhr. Der Weltmeisterschaftskampf zwischen Titelverteidiger Boris Spassky und Herausforderer Bobby Fischer sollte am 1. Juli in Reykjavik beginnen. Aber von Fischer war in der isländischen Hauptstadt nichts zu sehen. Die Eröffnungsfeier fand ohne ihn statt und die 1. Partie, die am 2. Juli gespielt werden sollte, wurde verschoben. Doch in den frühen Morgenstunden des 4. Juli traf Fischer schließlich in Reykjavik ein. Frederic Friedel berichtet.
Vor 45 Jahren – Bobby Fischer in Island (2)
Das legendäre "Match des Jahrhunderts" zwischen Boris Spassky und Bobby Fischer wurde in der Laugardalshöllin in Reykjavik gespielt. Dies ist Islands größte Sportarena, 5.500 Zuschauer haben hier Platz. Auch Konzerte finden hier statt - Led Zeppelin, Leonard Cohen und David Bowie haben hier schon gespielt. 45 Jahre nach dem Spassky-Fischer Spektakel besuchte Frederic Friedel die Laugardalshöllin und hat ein paar Schätze entdeckt.
Vor 45 Jahren - Bobby Fischer in Island (3)
Am 11. Juli 1972 begann das legendäre "Match des Jahrhunderts" zwischen Boris Spassky und Bobby Fischer endlich. Doch Fischer kam zu spät zur ersten Partie, der Straßenverkehr hatte ihn aufgehalten. Fischer hatte in der ersten Partie Schwarz und spielte zur allgemeinen Überraschung nicht wie meist Grünfeld oder Königsindisch, sondern Nimzo-Indisch. Die Partie verlief in ruhigen Bahnen und die meisten Experten rechneten mit einem Remis. Doch dann, im 29. Zug, nahm Fischer einen vergifteten Bauern. "Ein Zug und wir machen in der ganzen Welt Schlagzeilen!", kommentierte einer der Organisatoren glücklich.
Vor 45 Jahren – Bobby Fischer in Island (4)
Bobby Fischer, Herausforderer und Favorit im WM-Kampf gegen Boris Spassky in Reykjavik 1972, verlor die erste Wettkampfpartie auf dramatische Weise. Fischer erklärte, ihn hätten die Kameras gestört. Zur zweiten Partie trat der Amerikaner aus Protest nicht an und verlor kampflos. Damit lag er im Wettkampf 0-2 zurück. Fischer hatte schon einen Rückflug nach New York gebucht, aber spielte die dritte Partie dann doch – in einem Raum hinter der Bühne!