Baden-Baden und die Erfindung des halben Punktes

von André Schulz
11.02.2015 – Baden-Baden ist praktisch der Geburtsort der internationalen deutschen Turniergeschichte. 1870 fand hier das erste große internationale Turnier auf deutschem Boden statt. Danach entwickelte sich eine große Schachtradition, in deren Verlauf die Weltmeister Steinitz, Aljechin, Karpov und Kasparov die Kurstadt besucht. Mit den Grenke Chess Classic und Magnus Carlsen findet die Tradition nun ihre Fortsetzung. Mehr...

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

Wie alles begann

Als Beginn des modernen Turnierschachs gilt das von Howard Staunton organisierte Turnier von 1851 (Sieger: Adolf Anderssen). Es fand dort im im Rahmen der Industriemesse "Great Exhibition", der ersten Weltausstellung statt. Auch bei den Weltausstellungen 1862 in London (Adolf Anderssen) und 1867 in Paris (Ignaz von Kolisch) gehörten Schachturniere mit den besten Spielern der Welt zum Programm. Bevor jedoch nach ersten großen Turnier 1851 ein solches Schachturnier auch auf deutschem Boden stattfand, dauerte es fast 20 Jahre. Erst im Jahr 1870 wurde hierzulande dann das erste große internationale Turnier organisiert - in Baden-Baden. Im Gegensatz zu den drei Vorgängern fand dieses Turnier jedoch hier nicht im Rahmenprogramm einer Weltausstellung statt, sondern begründete die Tradition von Schachturnieren in Bäder- und Erholungsorten.

Die langen Zeiträume, die zwischen zwei Turnieren vergingen, mag heutige Schachfreunde und -Spieler, die an einen dichten Turnierkalender gewöhnt sind, vielleicht verwundern. Magnus Carlsen reiste zu den Grenke Chess Classic in Baden-Baden aus Wijk aan Zee an, wo zwei Wochen zuvor das Tata Steel-Turnier gespielt wurde. Und einige der Teilnehmer, Anand, Caruana und Aronian werden nach Zürich weiterreisen, um dort im Anschluss bei den "Zurich Chess Challenge" teilzunehmen. (Im Zuge der Internationalisierung haben die Zürcher - schreiben Sie bloß kein "i" in den Namen, übrigens tatsächlich auf ihr ü verzichtet, doch das ist eine andere Geschichte.)

Schweizer Armeerad in der City von Baden-Baden

Heute reiht sich also ein Turnier an das andere. Natürlich gibt es weit mehr Topspieler als früher und so ist es möglich, an vielen Orten mit teils gleichen, teils aber auch anderen Spielern stark besetzte Turniere zu organisieren. Natürlich spielt dabei aber auch die viel bessere Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Wie war wohl der Breslauer Adolf Andersson Mitte des 19. Jahrhunderts von seiner Heimatstadt nach London gereist? Größtenteils vielleicht noch mit der der Kutsche. Oder hat er schon das dünne, aber immerhin schon existierende Eisenbahnnetz wenigstens zum Teil genutzt. Von Breslau gab es schon eine sogar lückenlose Strecke bis Ostende oder Dünkirchen. Im ICE-Tempo ist die Eisenbahn damals allerdings nicht gefahren, aber schneller als eine Kutsche wird sie schon gewesen sein. Zum Teil wurden in den Anfängen der Eisenbahn offene Wagen angeboten, damit man bei der Fahrt die Landschaft genießen konnte. Von Ostende oder Dünkirchen ging es weiter  mit dem Schiff. Kurz: Es war eine wohl mehrwöchige strapaziösen Reise.

Und 1851 musste man bei dieser Reise mindestens vier Länder durchqueren: das Königreich Preußen, das Königreich Hannover, das Königreich der Niederlande und das Königreich England. Nicht nur das Lebenstempo war anders, auch die politische Geografie.

Heute fliegt Carlsen von Oslo mal eben nach Amsterdam (Flugzeit 1:50h) spielt in Wijk aan Zee und fliegt dann weiter nach Frankfurt (Flugzeit 1:15h). Da hat man ihn vielleicht mit dem Auto abgeholt oder fuhr mit dem ICE. Keine große Sache.

Baden-Baden 1870 - die Erfindung des halben Punktes

Das erste große Turnier auf deutschem Boden wurde also vom 18. Juli bis 4. August in Baden-Baden gespielt. Das Programm sah so aus:

1. Revision und Feststellung der Schachspielregeln;

2. Großes internationales Schachturnier zwischen den stärksten Spielern der Gegenwart;

3. Handicapturnier zwischen Schachspielern von verschiedener Stärke;

4. Beratungspartien;

5. Bankett zu Ehren der Sieger

Im Zuge des ersten Programmpunktes führte man einige man einige nachhaltige Innovationen ein. So wurde festgelegt, dass bei einem Remis der Punkt geteilt werden sollte. Das war nicht ganz neu, wurde von nun ab aber zur Regel. In London 1851 hatte man  im K.o.-System so lange Partien gegeneinander gespielt, bis ein Sieger feststand. Remisen wurden nicht gewertet. Elf Jahre später spielte man schon im Modus Jeder-gegen-Jeden. Ein Remis zählt aber auch hier nicht, die Partie wurde in diesem Fall wiederholt. Im gleichen Modus spielte man auch 1867 in Paris, das die Teilnehmer übrigens noch ohne Eiffelturm kennen gelernt hatten. Eine weitere Neuheit waren spezielle Schachuhren. Bedenkzeitregelungen gab es auch schon bei den vorherigen Turnieren, doch dort hatte man diese noch mit Stundengläsern kontrolliert.

Zehn bedeutende Spieler wurden zum Turnier in Baden-Baden eingeladen:

Adolf Anderssen aus Breslau, das zu Preußen gehörte, inzwischen schon 52 Jahre alt.

Wilhelm Steinitz aus Österreich (34) - er wird später der erste "offizielle" Schachweltmeister werden.

Der in Gleiwitz geborene, lange in Berlin lebende und dann nach Paris gezogene Gustav Neumann (32) war Vierter beim Turnier in Paris 1867. Neumann litt seit 1869 an einer Nervenerkrankung, weshalb er in Frankreich in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. Er kehrte nach Deutschland zurück und spielte noch einige Turniere.  Neumann schlug nach dem Baden-Badener eine Remisregel nach dreimaliger Zugwiederholung vor, weil Steinitz ihn hier in ihrer 124 Züge langen und 12 Stunden dauernden Partie mehrmals mit Zugwiederholungen gequält hatte.

Aus England war der 29-jährige Joseph Blackburne angereist. Von Blackburne wiederum stammte die Idee zu einer Schachuhr, die beim Baden-Badener Turnier nun erstmals realisiert wurde.

Ebenfalls von der britischen Insel reiste der Schotte Cecil de Vere (24) an. Er hatte 1866 die erste britische Meisterschaft gewonnen. Im folgenden Jahr erkrankte er allerdings an Lungentuberkulose. De Vere hatte deshalb seinen Job bei Loyds gekündigt und lebte nun als Berufsschachspieler. Sein Hang zum Alkohol, infolge von Depressionen, verhinderte allerdings bessere Ergebnisse des talentierten Angriffspielers

Louis Paulsen (36) stammte aus dem Fürstentum Lippe und hatte zwei Brüder, Wilfried und Ernst, die ebenfalls Schach spielten. Sein Name ist in der Paulsen-Variante der Sizilianischen Verteidigung verewigt, aber in Wirklichkeit gehen viele der Ideen in der Sizilianischen Partie auf Paulsen zurück. Im Gegensatz zum Zeitgeist bevorzugte Paulsen das Defensivspiel.

Nach Szimon Winawer (32) wurde eine der Hauptvarianten der Französischen Verteidigung benannt. Winawer stammte aus Warschau und war polnischer Nationalist. Sein Heimatland war allerdings zwischen Preußen und Russland aufgeteilt und seine Heimatstadt Warschau gehört mit "Kongresspolen" zum Russischen Reich.

Auch Samuel Rosenthal (33) stammte eigentlich aus Polen, war aber 1864 nach Frankreich emigriert und betätigte sich als Berufsspieler gerne im Café de la Régence. In Frankreich gab er ein Schachmagazin heraus und schrieb mehrere Schachspalten.

Aus Leipzig stammte Johannes Minckwitz (37), der zwischen 1865 und 1886 mit einer Unterbrechung Herausgeber der Deutschen Schachzeitung war. Minckwitz hatte sich auch als Problemkomponist einen Namen gemacht.

Das Feld wurde durch den aus Grünstadt stammenden Adolf Stern (21) , den jüngsten der zehn Spieler, vervollständigt. Das Turnier in Baden-Baden konnte er jedoch nicht zu Ende spielen.

Als Sekretär des Organisationskomitees fungierte Ignaz von Kolisch, Präsident desselben war Prinz Mihail Sturdza von Moldawien. Vizepräsident war der bekannte russische Autor Iwan Turgenjew. Das Schiedsgericht bestand aus Ignaz von Kolisch und dem ungarischen Baron Maytény. Von Kolisch war die treibende Kraft hinter dem Baden-Badener Turnier. Der zu diesem Zeitpunkt 43-Jährige Österreicher, in Pressburg (heute: Bratislava) geboren, spielte zusammen mit Falkbeer in den Wiener Kaffeehäusern. Später ging er nach Paris und wurde bester Spieler des Café de la Régence. Mit Hilfe des Schachliebhabers Albert Rothschild kam er über Börsenspekulationen zu großem Reichtum, wurde Bankier und betätigte sich nun als Schachmäzen und Organisator. Für die Durchführung und den Preisfonds des Turniers stellte sie Stadt Baden-Baden 5000 Franken zur Verfügung. 

Denkmal des Ivan Turgenjew

Aus Aqua wird Baden

Baden-Baden, im Westen des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg am Ufer der Oos gelegen, war schon zu Römerzeiten als Kur- und Badeort bekannt. Auf dem ursprünglich von Kelten besiedelten Gebiet bauten 70. n. Chr. die Römer eine Siedlung und nannten sie "Aguae", später "Aquae Aureliae".  Im Jahr 260 wurde sie jedoch von den Alemannen, die die Segnungen des Bäderwesens noch nicht recht erkannten, vollständig zerstört. 1847 fand man in Baden-Baden bei Ausgrabungen die Reste römischer Thermen.

Hier war das alte Römerbad

Im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation nahmen dann die Markgrafen von Baden hier ihren Sitz. Eigentlich hieß der Ort "Baden" und gab dem Land darum herum den Namen. Zur besseren Unterscheidung mit anderen Orten gleichen Namens nannte man ihn später auch Baden in Baden, daraus wurde in den 1930er Jahren offiziell "Baden-Baden". Im Dreißigjährigen Krieg wurde der Ort 1643 von den Franzosen geplündert und und im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 wieder von den Franzosen niedergebrannt.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts fühlten sich viele Vertreter der Romantik durch die Landschaft um Baden-Baden angezogen und besuchten den Ort, darunter die Maler Eugène Delacroix, Gustave Courbet und Anselm Feuerbach und die Dichter Johann Peter Hebel, Ludwig Uhland, Nikolaus Lenau und Theodor Storm. Ende des 18. Jahrhundert wurde Baden-Baden als Kurort wiederentdeckt und als solcher sehr populär, nachdem die preußische Königin hier zu Beginn des 19. Jahrhundert ihre Leiden auskurierte.

Denkmal für Kaiserin Auguste

Nun entstanden zahlreiche Hotels für die immer zahlreicher werdenden Gäste, Badeanstalten, Casinos, ein Pferderennbahn und die Gartenanlagen an der Lichtentaler Allee. Die Haute-Volée Europas gab sich die Klinke in die Hand. 

Das Theaterhaus

Überall Hinweise auf Persönlichkeiten

Zu den berühmten Persönlichkeiten, die sich mehr oder weniger regelmäßig in Baden-Baden aufhielten, gehörten die Herrscher Wilhelm I., Napoleon III. und Queen Viktoria, die Musiker Johannes Brahms, Clara Schumann, Franz Liszt und Hector Berlioz oder die Schriftsteller Leo Tolstoi, dessen "Anna Karenina" in Baden-Baden spielt, Fjodor Dostojewski, der hier seinen Roman "Der Spieler" schrieb, als er regelmäßig seine Zeit in den örtlichen Casinos verbrachte oder Ivan Turgenjew, der wie schon beschrieben, Vize-Präsident des Organisationskomitees beim Schachturnier von Baden-Baden 1870 war und dessen Roman "Rauch" ebenfalls in Baden-Baden spielt. Turgenjew war tatsächlich auch ein sehr guter Schachspieler. Bei einem Turnier für die 60 stärksten Stammgäste des Café de la Régence 1862 wurde er Zweiter hinter dem französischen Meister Jules Arnous de Rivière. Turgenjew besaß eine große Schachbibliothek und war mit vielen Spielern persönlich bekannt.

Die russische Adeligen, die sich regelmäßig in Baden-Baden aufhielten, sammelten schließlich Geld und ließen Ende des 19. Jahrhunderts an der Lichtentaler Allee eine russisch-orthodoxe Kirche, die "Russische Kirche zur Verklärung des Herrn", errichten, die immer noch existiert.

Auch jetzt noch hat Baden-Baden in Russland einen guten Klang und viele nach dem Zerfall der Sowjetunion reich gewordenen Russen reisen hierher und gehen in den Boutiquen und Galerien shoppen. Wer durch die Innenstadt der Stadt, geht wird öfters einmal russische Worte hören. Allerdings hat sich der Rubelkurs zuletzt so sehr verschlechtert, dass bei den reichen Russen das Geld nicht mehr so locker sitzt.

Steve McQueen und Romy Schneider sind auch da

 

Die Baden-Badener Schachtradition

Das Turnier von 1870 stand unter keinem guten Stern, da einen Tag nach seinem Beginn, am 19. Juli 1870, Napoleon III. Preußen den Krieg erklärte. Einige Tage vor Turnierbeginn hatte Frankreich bereits die Mobilmachung verkündet. Minkwitz beantragte, das Turnier unter diesen Umständen abzubrechen, da es seltsam sein würde, Schach zu spielen, während in nicht allzu großer Entfernung gekämpft wurde, aber so weit wollten die Organisatoren nicht gehen. Allerdings verkürzten sie das Turnier von ursprünglich drei geplanten Umgängen auf zwei. Der junge Adolf Stern musste als bayrischer Reservist das Turnier nach einigen Runden abbrechen, da er eingezogen wurde.

Der Norddeutsche Bund und die drei süddeutschen Länder Bayern, Baden und Württemberg zogen nun gegen Frankreich in den Krieg. Als Folge des Krieges, von Bismarck mit Veröffentlichung der "Emser Depesche" provoziert und durch geschickte Diplomatie zur Isolierung Frankreichs vorbereitet, kam es dann nach der Kapitulation Frankreichs 1871 zur deutschen Reichsgründung.

 

Baden-Baden 1870

 

 

 

Partien von A. Stern

 

 

Adolf Anderssen erhielt für seinen Sieg den ersten Preis in Höhe von 3000 Franken. Steinitz gewann 600 Franken. Neumann und Blackburne nahmen jeder 200 Franken mit nach Hause.

Danach sollte es allerdings einige Zeit dauern, bis Baden-Baden wieder zum Schauplatz eines großen Schachwettbewerbes wurde. Als am 1. August 1914 das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärte, wurden die russischen Spieler, die gerade in Mannheim beim 19. DSB-Kongress teilnahmen interniert, darunter Bogoljubow und Aljechin. Eine der Stationen der Internierung war auch Baden-Baden. Die Russen spielten während ihres Aufenthaltes in Deutschland einige Turniere, Jefim Bogoljubow und Leontievwich Rabonovich trugen in Baden-Baden auch einen Wettkampf aus. Aljechin war wegen seiner Wehruntauglichkeit aus der Haft in die Schweiz entlassen worden und kehrte auf abenteuerlichem Weg nach Russland zurück. Bogoljubow heiratete eine Deutsche und blieb in Triberg.

Nach dem Ersten Weltkrieg, der das alte Europa zerstörte, war das Schachleben für einige Zeit zum Erliegen gekommen. Der alternde Lasker verlor schließlich 1921 in der Hitze von Havanna seinen Titel 1921 an Capablanca, zeigte den jungen Leuten aber 1924 in New York noch einmal, wo Bartels den Most holt. Das nächste große Turnier mit erstklassiger internationale Beteiligung in Baden-Baden fand 1925 statt.

Unter 21 Teilnehmern siegte Alexander Aljechin mit 16 Punkten.  Aljechin spielte hier gegen Reti seine berühmte Partie, die zu den besten Partien der Schachgeschichte gezählt wird.

Reti-Aljechin, 1925

 

 

Vor diesem Turnier, 1922, wurde der Ooser Schachklub gegründet. Von diesem Club wird man noch hören.

Am Karsamstag 1934 wurde im Große Kursaal zu Baden-Baden der zweite WM-Kampf zwischen Alexander Aljechin und Jefim Bogoljubow eröffnet. Auch die ersten drei Partien wurden in Baden-Baden gespielt. Danach dauerte es jedoch sehr lange, bis die Kurstadt wieder Gastgeber einer Schachveranstaltung mit internationales Bedeutung wurde. Und die politischen Ereignisse in der Zwischenzeit waren noch um ein Vielfaches einschneidender, als jene zwischen 1870 und 1925. Unter den Nationalsozialisten hatte sich das Deutsche Reich in eine Schreckensdiktatur verwandelt und der Zweite Weltkrieg hatte Deutschland und seine Städte buchstäblich verwüstet. Bei einem Luftangriff wurde auch ein Drittel des Ortteils Oos zerstört, doch alles in allem blieb Baden- Baden von Luftangriffen weitgehend verschont, weil die Franzosen die Stadt schon für die kommende Besatzung als ihr Hauptquartier auserkoren hatten. In Ruinen wollten sie nicht leben.

Die Baden-Badener Innenstadt

In der Mitte das Bismarck-Denkmal

Kleine Gassen am Rathausplatz

Die Stiftskirche

Unter der französischen Besatzung wurde die Bäderkultur in Baden-Baden wiederbelebt, erreichte aber auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der späteren Wiedervereinigung der beiden deutschen Landesteile nicht mehr den Status, den sie einmal in der Vergangenheit besessen hatte, auch wenn man versuchte, mit dem Umbau des prachtvollen Bahnhofes in ein Festspielhaus der Stadt neue Impulse zu geben.

Wenn man Schachaktivitäten als einen der Indikatoren für die kulturelle Blüte eines Landes annehmen möchte, dann hat es sehr lange gedauert, bis Deutschland sich vom Zweiten Weltkrieg einigermaßen erholt hat. Erst 1981 wurde in Baden-Baden wieder ein großes internationales Schachturnier durchgeführt. Antony Miles und Zoltan Ribli gewannen unter 14 Teilnehmern. Der zweimalig WM-Herausforderer Viktor Kortschnoj wurde Dritter. Bester Deutscher war Wolfgang Unzicker. Der junge Herbert Bastian, heute Präsident des Deutschen Schachbundes, belegte einen Platz im Mittelfeld. Ihm gelang ein Sieg über Viktor Kortschnoj, zu dieser Zeit immer noch Zweiter der FIDE-Eloliste.

1985 fand ein weiteres internationales Turnier statt, erneut mit 14 Teilnehmern, das von Jan Smejkal gewonnen wurde. Die Baden-Badener Turniertradition findet dann schon 1992 ihre Fortsetzung. In diesem Jahre wurden gleich zwei beachtliche Turniere mit je 12 Teilnehmern parallel durchgeführt. Das A-Turnier gewann Anatoly Karpov vor Christopher Lutz. Im B-Turnier siegten John van der Wiel, Zoltán Ribli und Lucas Brunner. Finanziert wurden die Turniere von der Schweizerischen Kreditanstalt und der Bank Hoffman (B-Turnier).

Zuvor hatte im Januar des gleichen Jahres Garri Kasparov im Kongresshaus die vierköpfige deutsche Nationalmannschaft in einem Uhren-Handicap mit 3:1 besiegt. Drei Jahre später wurde ein weiteres großes Turnier zum 125-jährigen Jubiläums der Baden-Badener Schachtradition durchgeführt. Der "Hofmann Cup" war ein K.o- Turnier mit Schnellschachbedenkzeit (25 Minuten), das erneut von Anatoly Karpov gewonnen wurde. 1996 begründen der Deutsche Schachbund unter seinem Präsident Egon Ditt und Anatoly Karpov in Baden-Baden das Karpov-Schachzentrum, das 1998 in der Rheinstraße 219 eigene Räume erhielt und mit dem deutschen Großmeister Philipp Schlosser als Leiter der Schach-Akademie Baden-Baden einen eigenen Trainer besaß. 2003 wird die Akademie in 2003 in Schachzentrum Baden-Baden umbenannt.

Wolfgang Grenke, die OSG Baden-Baden und die Grenke Classic

Das jüngste Kapitel in der Schachgeschichte Baden-Badens ist eng mit dem Schachklub OSG Baden-Baden und dem Kultur-Mäzen Wolfgang Grenke und seinem Unternehmen Grenkeleasing AG verbunden. Die OSG Baden-Baden ist ein Zusammenschluss des 1930 gegründeten Schachclubs Baden-Oos, 2004 in Ooser Schachclub von 1930 Baden-Baden e. V. umbenannt, mit der Schachgesellschaft Baden-Baden 1922 e. V. Die Fusion erfolgte 2008. 1999 hatte Wolfgang Grenke, selber in Mannschaftswettbewerben aktiver Spieler im Club, im damaligen Schachclubs Baden-Oos begonnen und die 1. Mannschaft des Vereins systematisch verstärkt. 2002 stieg die Mannschaft in die 1. Bundesliga auf. Ab 2005 übernahm Sven Noppes die Mannschaftsführung und in der Sasion 2005/06 gewann das Team den ersten Meistertitel. Von da an hat die OSG Baden-Baden jedes Jahr mit der Meisterschaft abgeschlossen und ist mit inzwischen neun Titeln der Rekordmeister der Bundesliga (zusammen mit Bayern München). Internationale Stras mit klangvollen Namen sind für die OSG angetreten, darunter Magnus Carlsen, Viswanathan Anand, Levon Aronian, Peter Svidler, Alexei Shirov, Michael Adams, Etienne Bacrot, Rustam Kasimdzhanov und viele mehr. Allerdings hat der Verein von Anfang an auch die deutschen Topspieler verpflichtet, darunter Robert Hübner, Rustam Dautov, Arkadij Naiditsch, Georg Meier oder Jan Gustafsson. Und Phillip Schlosser ist ebenfalls von Anfang an dabei. Eine ähnliche Entwicklung nahm auch die Frauenmannschaft des Vereins. In beiden Ligen dominiert die OSG Baden-Baden seither das Geschehen.

Seit 2009 ist der Verein im Schachzentrum Baden-Baden, im Kulturhaus LA8, in der Lichtenrader Allee untergebracht. Hier werden die Bundesligaheimkämpfe gespielt und hier finden nun auch die Turniere der Grenke Chess Classic statt.

Ohne Zweifel ist Deutschland eine der ganz großen Schachnationen, aber im Vergleich zu anderen Ländern hinkt das Turniergeschehen im Spitzenschach hinterher. Das einzige Weltklasseturnier waren über viele Jahre die Dortmunder Schachtage. Es fehlt aber auch an Turnieren der "Mittelklasse", wo deutsche Spieler, die (noch) nicht zu Weltspitze gehören Turniererfahrung sammeln können. Beide Lücken beginnt man in Baden-Baden zu schließen. Vor zwei Jahren wurden die Grenke Chess Classic ins Leben gerufen. Bei der ersten Auflage 2013 trafen in einem doppelrundigen Sechserturnier drei internationale Spieler, Anand, Caruana und Adams auf drei deutsche Spieler, Naiditsch, Meier und Fridman. Im letzten Jahr gab es ein Turnier mit acht deutschen Spielern, zum Teil schon arriviert, zum Teil viel versprechende Talente.

Im diesen Jahr standen die 3. Grenke Chess Classic an. Austragungsort ist das Kulturhaus LA8, am linken Ufer der Oos gelegen. LA8 steht für die Lichtentaler Allee 8. Das Gebäude wurde von Wolfgang Grenke für 15 Millionen Euro saniert und dient nun als Veranstaltungszentrum für Tagungen, Vorträge und Konzerte. Im vorderen Bereich hat das Schachzentrum Baden-Baden seinen Sitz. Im hinteren Bereich ist das von der Grenke Stiftung unterhaltene Museum für Kunst und Technik untergebracht, das gerade eine Ausstellung mit Propagandaplakaten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zeigt. Geschichte ist in Baden-Baden allgegenwärtig.

Eingang zum Kulturhaus

Dezent: das Turnierposter

Schwer zu erkennen, aber da hinten kommt Klaus Bischoff

Das Kulturhaus ist eine geräumiger Gebäudekomplex, aber mit der Aufgabe, hier ein Spitzenturnier der Weltklasse unterzubringen, stieß man eigentlich schon an die Grenzen. Im ersten Stock gibt es zwar einen großen und lichten Raum, der als Spielsaal gut geeignet gewesen wäre. Aber: Der Zugang erfolgt über eine hölzerne Treppe, die bei jedem Schritt etwas knarzt. Da man fürchtete, das Dauerknarzen beim Kommen und Gehen von Zuschauern könne die Meister des Denkens in der Konzentration beeinträchtigen, verlegte man das Turnier in einen etwas kleineren Saal ins Erdgeschoss. Am Anfang des Turniers reichte dieser aus, auch wenn die Bühne mit den vier Spieltischen den Großmeistern wenig Platz zum Herumlaufen ließ. Im Laufe der Woche sprach sich dann aber im deutschen Schachvolk herum, wer alles beim Turnier mitspielte, immerhin der amtierende Weltmeister und sein letzter "Vorkämpfer", Carlsen und Anand, und zum Wochenende war so großer Andrang, dass alle 100 Plätze stets besetzt waren und sich vor der Tür Schlangen mit Schachfreunden bildeten, die auch hinein wollten. Nur wenn einer hinausging, durfte ein anderer hinein.

Die Plätze füllen sich

Kurz nach Rundenbeginn

Caruanas Trainer Vladimir Chuchelov (li.)

Chef-"Tiger" Hans-Walter Schmitt

Matthias Deutschmann mit Sohn

Das Kommen und Gehen verlief ausgesprochen zivilisiert und überhaupt ist die Atmosphäre des Turniers sehr familiär. Weder Spieler, Zuschauer oder Pressevertreter werden durch Verbote, Kontrollen oder auf andere Weise aufdringlich gegängelt oder behindert, wie das auf anderen Turnieren manchmal üblich ist. Wenn Regeln einzuhalten sind, wird dies dezent vermittelt. Turnierdirektor Sven Noppes eröffnet jede Runde, indem er kurz die Spieler und Partien vorstellt. Unmittelbar vor der Bühne bildet sich nun ein Pulk von Profi- und Hobbyfotografen, wobei man letztere immer häufiger an raumgreifend quer in Augehöhe gehaltenen Notebooks bzw. "Tabletts" erkennt. Sven Noppes bittet die Hobbyfotografen, nach zwei Minuten die Bühne frei zu machen, damit auch die Pressevertreter zu ihrem Recht kommen. Und das machen die Schachfreunde dann auch.

Turnierchef Sven Noppes

Mitorganisator Christian Bossert

Schiedsrichter Dr. Markus Keller (außerdem Geschäftsführer des Schachzentrums Baden-Baden)

Allerdings baten die Spieler beim zunehmenden Zuschauerandrang am Wochenende um Begleitung durch die Organisation, wenn Sie einmal die Sanitärräume aufsuchen mussten. Um dorthin zu gelangen, mussten sie nämlich zwischen den Zuschauern hindurch. Und manche Fan fand keine bessere Gelegenheit, als gerade jetzt nach einem Autogramm zu fragen.

Gleich neben dem Spielsaal findet man Cafè-Restaurant, das Rive Gauche, in dem man mittags und abends speisen und nachmittags Kaffee und Kuchen zu sich nehmen konnte. Mittags konnte man im Restaurant zum Beispiel Pressevertreter finden oder Organisatoren und Helfer, die sich vor der Runde stärkten, wie zum Beispiel Nigel Short, der der Reporterin des norwegischen Fernsehens geistreiche Geschichten erzählte. Abends saßen hier manche Spieler mit ihren Sekundanten, Anand mit Gajewsky oder Caruana mit Chuchelov, um schnell noch ein kleines Abendessen aufzunehmen, bevor sie sich gemeinsam in ihrer Unterkunft dem "Brenners am Park" auf die Partie am nächsten Tag vorbereiteten.

Brenners am Park

Der Haupteingang

Im Brenners Hotel, nur einen Steinwurf vom Kulturhaus entfernt, waren die Spieler und ihre Begleiter untergebracht. Es handelt sich dabei um ein "Grand Hotel" im alten Stil, das seinen Gästen in gediegener Atmosphäre auf Wunsch auch sehr viel Komfort bietet. Wer nicht ganz so viel Luxus braucht, nimmt ein "Classic-Zimmer" ab 230 Euro die Nacht. Das Brenners gehörte allerdings zu den Sponsoren des Turniers und räumte den Organisatoren Sonderkonditionen ein.

Wegen der knarzenden Holztreppe kamen Klaus Bischoff und Sebastian Siebrecht in den Genuss des großen Saales und kommentierten dort live für die Zuschauer die Partien, deren aktuelle Positionen hinter ihnen auf eine große Leinwand projiziert wurden. Auch dieser Saal war an den beiden Wochenendtagen gut gefüllt und zeitweise alle Plätze belegt. Noch einen Stockwerk höher waren der englische Kommentar und das Pressezentrum untergebracht. Den englischen Kommentar besorgten Jan Gustafsson und Nigel Short, allerdings nicht vor lebendigen Zuschauern, sondern vor einer Kamera, die den Kommentar für das entfernte internationale Publikum ins Internet sendete. Nach ihren Partien erschienen hier die Spieler, meist die Gewinner, bei Remis auch beide, und sprachen über ihre Partien. Vor allem Nigel Short stellte bisweilen bohrende Fragen nach dem Sinn bestimmter Züge, deren Beantwortung auch schon mal mit Hinweis auf den fortgeschrittenen Tag und den knurrenden Magen auf ungewisse Zeit verschoben wurde.

Nigel Short, Fabiano Caruana, Jan Gustafsson

Magnus Carlsen, Fabiano Caruana

Michael Adams

Viswanthan Anand

Im Pressezentrum arbeiteten Erik van Reem, der im Auftrag der Organisation die "Follower" in den Social Media mit Stoff versorgte, und Georgios Souleidis, der für die Organisation als Pressechef fungierte und die Leser der Turnierwebseite mit Fotos und Berichten fütterte. Stammgäste im Pressezentrum waren außerdem Cathy und Ian Rogers, sowie ein Team des norwegischen TV-Senders TV 2.

Georgios Souleidis

Cathy und Ian Rogers

Erik van Reem und Hartmut Metz

Ebenfalls im 2. Stock des Kulturhauses sind übrigens die Büros von Elstnertainment untergebracht; das ist Frank Elstners Firma. Der Erfinder von "Wetten dass...? und vielen anderen Showformaten ist in Baden-Baden aufgewachsen und heißt übrigens eigentlich Timm Elstner. Da er einmal eine Hörfunksendung zusammen mit einem Tom moderieren sollte, wurde er gebeten, sich umzubenennen. Er wählte dann den Namen seines Bruders Frank. Was dieser dazu gesagt hat, ist nicht bekannt. Während des Turniers wurde Frank Elster, der immer noch in Baden-Baden lebt, gelegentlich auf dem Weg zu seinen Büros gesehen.

Unter den Acht Spielern der 3. Grenke Chess Classic, Carlsen, Caruana, Anand, Aronian, Adams, Bacrot, Naiditsch und Baramidze war natürlich Weltmeister Magnus Carlsen der Favorit. Carlsen will immer gewinnen, aber nicht immer klappt das. Beim Sinquefield Cup im letzten Jahr musste der Norweger zum Beispiel Fabiano Caruana den Vortritt lassen. Manchmal muss Carlsen auch in Partien Niederlagen einstecken, zum Beispiel bei der Schacholympiade in Tromsö gegen Arkadij Naiditsch. Lokalmatador Naiditsch sorgte dann auch bei den Grenke Chess Classic 2015, 145 Jahre nach der Geburt des deutschen Turnierschachs, dafür, dass das Turnier nicht zum einfachen Home-Run für den Norweger wurde. Ein Versuch von Carlsen, den deutschen Topspieler, mit einem recht spekulativen Figurenopfer vom Brett zu wischen, zerschellte am Widerstand der deutschen Nummer Eins. Carlsen kämpfte sich wieder nach vorne und hätte Naiditsch in der Schlussrunde mit einem Sieg gegen Bacrot überholen können. Dieser lag in Reichweite, glitt ihm aber wieder aus den Händen.

 

Endstand

 

Alle Partien

 

 

 

Magnus Carlsen

Fabiano Caruana

Levon Aronian

Viswanthan Anand

Michael Adams

Etienne Bacrot

Arkadij Naiditsch

David Baramidze

So kam es nach der letzten Runden noch zu einem Stichkampf. Auch bei diesem ließ Naiditsch sich nicht erschrecken, verlor zwar die erste Partie, hielt aber dann dagegen und erst im Elfmeterschießen, beim Schach ist das die "Armageddonpartie", wo Carlsen mit Weiß gewinnen musste und Naiditsch mit Schwarz mit einer Minute mehr auf der Uhr ein Remis genügt hätte, fiel die Entscheidung über den Turniersieg zugunsten des Weltmeisters. Vorher endete die Schnellschachrunde und die Blitzrunde jeweils unentschieden.

 

Stichkampf

 

 

 

 

Die Tradition der Grenke Chess Classic soll fortgesetzt werden, vielleicht in Zukunft an anderer Stätte in Baden-Baden, denn die Räume im Kulturhaus LA8 stoßen mindestens dann an die Grenzen, wenn der Weltmeister mitspielt.

 

Schach im Krieg, Baden-Baden 1870...

Geschichte Baden-Badens...

LA8...

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

Diskutieren

Regeln für Leserkommentare

 
 

Noch kein Benutzer? Registrieren