Der "Schachkalender" ist eine über 100 Jahre alte Institution, die seinerzeit in den 1980er Jahren von Arno Nickel wiederbelebt und in seinem Verlag Edition Marco herausgegeben wurde. Nachdem Arno Nickel seine 40. Ausgabe veröffentlicht hatte, übergab er die Reihe in jüngere Hände. Stefan Löffler (Redaktion) und Wolf Böese (Grafik) führen die Serie nun fort. Mit der Übergabe wurde das Look and Feel des Büchleins geändert, das Konzept blieb aber das gleiche.
Ein Kalendarium mit vielen biographischen Notizen berühmter und auch nicht so berühmter Personen aus der Schachwelt bildet tatsächlich das Skelett des Werkes. Darüber hinaus enthält der Schachkalender von jeher eine Vielzahl kürzerer und längerer sehr lesenswerter Artikel, rund um die Schachwelt, auch über das, was 2024 passiert ist.
Dazu gehören auch kleine Nachrufe, auf Persönlichkeiten des Schachlebens, die 2024 von uns gegangen sind. Zu diesen gehört auch Klaus Wockenfuss, dessen stiller Tod von seiner Nachbarschaft und auch von der Schachwelt erst spät bemerkt wurde. Er starb schon am 11. Mai 2022. Weitere bekannte Persönlichkeiten sind der Historiker Egbert Meissenburg, Ernst Bönsch, die polnische Großmeisterin Joanna Dworakowska, die nur 45 Jahre alt wurde, die Amerikanerin Lisa Lane, Igor Rausis, Gerhard Hund, der unter tragischen Umständen verunglückte Gerhard Johann oder Zenon Franco.
Gerhard Löffler beschäftige sich mit dem ersten kanadischen Großmeister Abe Yanofsky. Mit 14 Jahren spielte dieser schon bei der Schacholympiade 1939 am zweiten Brett für Kanada. Später wurde Yanofsky ein erfolgreicher Anwalt und war auch als Politiker tätig.
Michael Ehm, das Gedächtnis des Österreichischen Schachs, befasst sich in einem langen Artikel mit dem Schachleben in der Trümmerlandschaft von Wien 1945. Ehns Blick geht in die Zeit vor dem Krieg zurück, als Österreich, auch noch im Deutschen Reich, eine führende Schachnation war. Nach dem Krieg blieb nicht viel davon übrig. Viele Menschen kamen um. Viele jüdische Schachfreunde verließen das Land. Strukturen, wie das Arbeiterschach, waren zerstört.
Hochaktuell ist der Beitrag von Santiago Beltran, denn sein Thema ist das Chess 960, neuerdings Freestyle genannt. Beltran untersucht verschiedene Anfangsstellungen und spürt der Frage nach, ob sie tatsächlich ausgewogen sind. Ja, die Eröffnungstheorie des Freestyle Chess ist im Entstehen. Die Eröffnungstheorie des klassischen Schachs hat ungefähr 175 Jahre gebraucht, um dort zu stehen, wo sie sich heute befindet. Beim Freestyle Chess wird es schneller gehen, denn wir haben ja die leistungsstarken Computer, allerdings muss die Eröffnungstheorie hier für 960 Anfangsstellungen entwickelt werden. Wahrscheinlich dauert es doch etwas länger.
Auf etwa 250 Seiten gibt es reichlich weitere Beiträge, Erinnerungen, auch kurze Essays, Gedanken und Textsplitter oder Portraits. Sehr schön!
Stefan Löffler hat freundlicherweise eine Leseprobe zur Verfügung gestellt.
Gernot Gauglitz, der das Deutsche Schach mit seiner Firma UKA seit vielen Jahren unterstützt, erinnert sich an die Wendezeit und wie er auf Schachturnieren das Startkapital für seine Unternehmertum verdiente.
"Schluss mit dem Rumtingeln!"
In den Tagen nach dem Mauerfall ließ Gernot Gauglitz ein Turnier in Ungarn sausen und fuhr mit dem Lada aus Leipzig nach Bad Wildbad. Binnen weniger Wochen erspielte er sich bei drei Opens in Süddeutschland das Startkapital, um Unternehmer zu werden. Im November feierte seine Energieparkfirma UKA ihr 25jähriges Bestehen. In diesem Text für den Schachkalender 2025 erinnert sich Gauglitz an die Wendezeit, seine letzten Monate als Schachprofi.
„Am 10. November 1989 begann ein Schachturnier in Harkány. Morgens kam ich mit Zug und Bus aus Budapest in Südungarn an. Thomas Pähtz war schon da. Er kam auf mich zu und sagte: „Du Gernot, die Grenzen sind offen.“ Ich habe gedacht, er macht Spaß, und habe mich erstmal vergewissert, was in der Nacht passiert war. Daraufhin haben Thomas und ich uns kurz zusammengesetzt: Die Gelegenheit müssen wir wahrnehmen. Wenn die Grenzen offen sind, können wir jetzt nicht in Ungarn bleiben. Wir haben bei den westdeutschen Spielern herumgefragt, wer eine Schachzeitung dabeihat. Dann haben wir nachgesehen, welches Turnier in den alten Bundesländern als nächstes startet. Und das war Bad Wildbad, vielleicht fünf Tage später, so genau weiß ich das nicht mehr. Daraufhin haben wir also angerufen, Thomas und ich, und haben gefragt: Habt ihr Interesse, dass wir bei euch spielen? Wir hatten ja keine D-Mark. Wir sind Internationale Meister, laden Sie uns ein? Und der Organisator hat gesagt: „Na klar, wir bringen euch unter. Und das Essen bezahlen wir auch.“ Darf ich meine Freundin mitbringen? „Na klar, können Sie gerne mitbringen. Wir freuen uns.“ Dann haben wir aufgelegt und den Organisatoren mitgeteilt, dass wir nicht spielen, sondern nach Westdeutschland fahren. Die Ungarn hatten volles Verständnis: „Klar, für euch ist jetzt eine neue Zeit. Viel Glück.“ Dann habe ich meine Frau angerufen: Guck mal, ob du auf Arbeit frei kriegst, ob du mitkommen kannst. Ich habe mich in den nächsten Bus gesetzt und in Budapest den nächsten Flug nach Deutschland genommen.
Zuhause in Leipzig lautete das nächste Problem: Wie kommen wir nach Wildbad? Den Sprit in Westdeutschland hätten wir ja in D-Mark zahlen müssen. Also haben wir mehrere 20-Liter-Kanister besorgt und gefüllt in unseren Lada gepackt, damit es zusammen mit der Tankfüllung von Leipzig bis Wildbad und wieder zurück reichte. Eigentlich waren wir ja stolz auf unseren 17 Jahre alten grünen Lada, aber auf der Fahrt stellten wir fest, dass es auch schönere Autos gibt. Bad Wildbad war ein schmuckes Städtchen im Schwarzwald. Also hatte ich mir gleich zum Anfang einen Ort rausgesucht, wo andere Urlaub machen. Logisch sind wir als DDR-Bürger dort viel angesprochen und beglückwünscht worden. Damals in der Anfangsphase waren ja alle happy. Ich war auch motiviert und habe das Turnier gewonnen. Thomas Pähtz teilte den zweiten Platz, wahrscheinlich haben wir zusammen gefeiert, so genau weiß ich das nicht mehr. Das Preisgeld war damals sehr wichtig. Ich war ja noch Profi. Der Umrechnungskurs war fünf Ostmark für eine D-Mark. Was ich da in einer Woche verdiente, war der Durchschnittslohn in der DDR für ein halbes Jahr. Ich bekam gleich die Einladung für zwei weitere Turniere: In Böblingen wurde ich zwischen Weihnachten und Silvester geteilter Erster, anschließend in Schwäbisch Gmünd Erster bis Dritter. Meine Freundin war jedes Mal mit. Während ich spielte, ging sie spazieren und hoffte, dass ich was verdiente, damit sie sich später etwas kaufen kann. In den zwei Monaten nach dem Mauerfall habe ich also bei drei Turnieren jeweils Platz eins zumindest geteilt. Diese Preisgelder, das werden so um die 5000 D-Mark gewesen sein, waren für DDR-Verhältnisse schon ein kleines Vermögen. Es wurde mein Startkapital, mit dem ich später wirtschaftlich aktiv wurde.
In der DDR habe ich Schach gewählt, weil ich im Verhältnis zu anderen Berufen gut verdienen konnte. Wirtschaftlich war ich schon immer ganz pfiffig. Ich habe in Leipzig Sportwissenschaften mit der Spezialrichtung Schachpsychologie studiert. Das war ein seltenes Studium, meiner Kenntnis nach haben das nur vier insgesamt durchlaufen. In meiner Diplomarbeit ging es um psychologische Aspekte in den Wettkämpfen zwischen Karpow und Kasparow. Die Quintessenz war, dass man nicht den objektiv besten Zug suchen sollte sondern den unangenehmsten Zug für den Gegner. Mit dem Abschluss Diplomsportlehrer in der Spezialrichtung Schachtrainer wurde ich bei der Akademie der Wissenschaften als Trainer angestellt. Zum Gehalt kamen Preisgelder und was ich mit dem Verkaufen von Garde-Schachuhren und Büchern vom Sportverlag einnahm. Wobei es nicht immer leicht war, Uhren aufzutreiben. Ich bin relativ sicher, dass ich auch in Harkány Schachuhren mithatte. Weil aber keine Zeit blieb, etwas zu verkaufen, habe ich die Uhren irgendeinem Freund oder Bekannten übergeben, der das dann für mich abgewickelt hat. Mit Schach habe ich in der DDR wahrscheinlich fünfmal so viel verdient wie in einem normalen Job. Nachdem die Grenzen offen waren, war Schachprofi nicht mehr wirtschaftlich attraktiv. Meine damalige Freundin und jetzige Frau Sibylle, mit der ich seit 37 Jahren zusammen lebe, hat das im Juli 1990 auf dem Rückflug aus unserem ersten Urlaub auf den Punkt gebracht. Sie sagte: „Jetzt sind die Grenzen offen, die Welt steht uns offen. Jetzt ist Schluss mit Rumtingeln, jetzt muss Du arbeiten!“ Sie war der Meinung, dass man die Fähigkeiten ihres Mannes nun besser einsetzen könnte als zum Schachspielen.
Im September ´90 habe ich mein erstes Gewerbe angemeldet: Immobilienmakler. 1991 habe ich das erste Projekt gestartet, eine kleine Einkaufspassage, die ich zwischen ´91 und ´93 in Meißen gebaut habe. Ich habe die Grundstücke gekauft, mir Geld von der Bank besorgt und das Projekt umgesetzt und vermietet. Es folgten noch ein paar Projekte in der Innenstadt von Meißen, auch als Bauträger. Die Sonderabschreibungen und einige spezielle Regelungen liefen dann aus, und der Immobilienmarkt war nicht mehr so attraktiv, so dass ich mich nach etwas Neuem umsah. Windkraft war spannend. Die damalige Bundesregierung hatte gerade erstmals eine Förderung beschlossen: das erste Erneuerbare Energien Gesetz. Im November ´99, genau zehn Jahre nach Wildbad, habe ich zusammen mit Ole-Per Wähling UKA gegründet. Die Erfahrungen in der Projektentwicklung, die Kontakte und das Kapital, das ich mittlerweile hatte, waren natürlich hilfreich. Heute habe ich über tausend Mitarbeiter, da sind auch ein paar sehr gute Schachspieler aus der Dresdner Bundesligamannschaft dabei. Aus Verbundenheit und Liebe zum Schach unterstütze ich seit über zehn Jahren die Nationalmannschaft und die deutsche Meisterschaft. Das ist aber kein Mäzenatentum sondern ein wirtschaftlich sinnvolles Sponsoring zum gegenseitigen Vorteil. Wir hatten schon mehrere Grundstückseigentümer, die sich wegen dem Schach bewusst für UKA und gegen die Konkurrenz entschieden haben. UKA bringt es wirtschaftlich einen Nutzen, und mit dem Einsammeln von Sponsorengeldern klappt es ja eh nicht so gut. Da bringt UKA wenigstens etwas Stabilität hinein, damit der Schachbund diese Finanzierungsorge nicht jedes Jahr hat.“
Aufgezeichnet von Stefan Löffler
Schachkalender 2025
Schachkalender 2025, von Stefan Löffler und Wolf Bōese (Gestaltung),
256 Seiten, €14,-, Zehnerpaket €99,- (frei Haus in D)
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