Glück ist Teil des Spiels

von Thorsten Cmiel
19.05.2022 – Die 20-jährige Vaishali Rameshbabu steht etwas im Schatten ihres jüngeren Bruders Praggnanandhaa Rameshbabu, ist aber ebenfalls sehr erfolgreich. In Heraklion erzielte sie kürzlich ihre zweite GM-Norm. Talentscout Thorsten Cmiel untersuchte ihre Partien, fand Schwächen und Stärken und berichtet, wie das aktuell stärkste Geschwisterpaar zusammenarbeitet.

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

Glück ist Teil des Spiels. Vaishali mit ihrer zweiten GM-Norm.

In Heraklion erzielten kürzlich zwei Teilnehmer eine Norm. In beiden Fällen spielte Glück ein wichtige Rolle. Begeben wir uns auf Spurensuche. Anatomie einer Großmeister-Norm (I)

Vaishali ist die ältere Schwester von Praggnanandhaa, kurz Pragg. Früher bestand zwischen den beiden durchaus eine Rivalität, die aber inzwischen keine Rolle mehr spielt. Zumal die beiden unzählige Bulletpartien im Jahr gegeneinander spielen, mit zehn Sekunden plus einer Sekunde pro Zug und Spaß dabei haben, meint Vaishali. Es läuft im Hause Rameshbabu: Der kleine Bruder gab seiner zwanzigjährigen Schwester für die finale Partie einen Tipp zur erfolgreichen Variantenauswahl in der letzten Runde und damit zur zweiten Großmeisternorm. Interessanterweise hatte Pragg in Heraklion ebenfalls seine zweite Großmeisternorm, damals im 4. Fischer Memorial erzielt, 2018. Beide hatten zudem weitere gemeinsame Erfolgserlebnisse. In 2015 gewann die Inderin die U14-Mädchen-Weltmeisterschaft, während Pragg sich den U10-Titel sicherte, für beide war das seinerzeit der zweite WM-Titel. 2019 gewann Pragg das Xtracon Open und seine Schwester erzielte im gleichen Turnier ihre erste Großmeisternorm.

Das Turnier aus Sicht der Inderin

Die Großmeisternorm lag bei sieben Punkten aus neun  Partien, oder „Plus Fünf“. Der Weg dahin allerdings war steinig. Das Turnier begann für Vaishali mit zwei Schwarzpartien gegen zwei Großmeister.

 

Im Turnier mit Maske

Gegen die drei mitspielenden Großmeister wollte die Inderin offenkundig mit Schwarz Remis spielen. In der Startrunde gelang Vaishali ein komfortables Remis in einem Sveshnikov-Sizilianer, der lange Zeit bekannten Vorbildern folgte. In der zweiten Runde manövrierte sich Vaishali weitgehend selbst in Probleme (13….e5) gegen Oleg Korneev, der schon länger unter spanischer Flagge spielt. Die Partie resultierte in einem Turmendspiel in dem die Inderin noch gute Remischancen behielt. Einige entscheidende Momente seien hier genauer festgehalten.

 

Das Fazit dieser Verlustpartie dürfte lauten: Vaishali wollte den halben Punkt zu sehr und war in ein schwieriges Turmendspiel mit durchaus guten Remischancen geraten und zumindest zwei Chancen blieben ihr für den halben Punkt. In der Praxis sind solche Endspiele jedoch sehr schwierig zu verteidigen. Ein Beispiel für solche Schwierigkeiten zeigt die Niederlage von Magnus Carlsen mit Weiß gegen Fabiano Caruana, Moskau 2013, noch bevor er im gleichen Jahr den Weltmeister-Titel erringen konnte.

 

In der dritten Runde gegen den nominell klar schwächsten Teilnehmer im Feld musste unbedingt ein ganzer Punkt her. Zunächst lief die Eröffnung, ein Londoner System, sehr gut und Weiß hatte in der folgenden Stellung einen klaren Vorteil.

 

Hier sollte Weiß seinen Zentralspringer auf e4 durch den Zug 21.g2-g4 sichern. Der Springer ist danach nicht mehr zu vertreiben, auf Turmzüge zur Vorbereitung von f7-f5 folgt g4-g5. Der Bauer auf b2 hingegen spielt keine wichtige Rolle. Die Partie lief gar nicht gut für die Inderin und ihr Gegner stand zwischenzeitlich klar auf Gewinn. Vaishali machte die Sache jedoch kompliziert genug um folgende Stellung zu erreichen.

 

Mirakulös ist es Vaishali gelungen sich aus der schlechten Stellung, die durch einen positionellen Fehler entstanden ist, 27.e3-e4, wieder zu befreien. Weiß sollte genug Gegenspiel entwickeln können, um nicht zu verlieren. Es kam allerdings noch dicker für den Schwarzspieler und das automatische Analyse-Tool von Chessbase nennt die Partie später einen schlechten Traum für Schwarz. Es lief sogar deutlich besser.

 

In dieser Stellung ist Weiß, Vaishali, am Zuge. Wie sollte man hier fortsetzen? Die Inderin nahm auf g3 und gewann recht zügig die Dame und wir hatten unser Gretchenendspiel zum Thema Festung. Aber hier gab es tatsächlich eine bessere Fortsetzung. Die Lösung gibt es in den Anmerkung zum Fragment zu lesen.

 

 

 

Nach dem letzten weißen Zug (53.Dh8-g8) muss der Schwarzspieler die Dame für den Turm geben, da der schwarze Monarch sonst erlegt würde. Besonders hübsch ist das Mattbild nach 53...Te7 54.Dd5#. Allerdings hat Schwarz einen Turm und vier Bauern für die Dame und rein materiell ist die Sache daher gar nicht so einfach, zumal Schwarz seinen Läufer gegen den Springer tauschen kann.

 

Diese Stellung entwickelt sich als logische Folge aus dem Verlust der schwarzen Dame. Schwarz wird zunächst seinen a-Bauern verlieren, aber welchen Bauern darf er noch abgeben? Wie könnte eine Festung aussehen? Es lohnt sich über diese Konstellation ein wenig genauer nachzudenken. Richtig ist zweifelsohne in der ersten Annäherung, dass Schwarz seinen Turm hinter dem e-Bauern behalten sollte, um den Versuch des Gegners, der irgendwann seinen König aktivieren muss, um zu gewinnen, mit einem weiteren Vormarsch des e-Bauern zu „bestrafen“. Mit etwas Phantasie kann man sich eine Festung etwa so vorstellen.

 

Diese Analysestellung wäre eine inzwischen bestätigte Festung: Der a- und der c-Bauer sind nicht relevant. Die schwarzen Figuren bleiben zusammen und Weiß kann das Hinterland für seine Dame nur schwerlich nutzen. Der g6-Bauer übernimmt eine Schutzfunktion und erschwert es Weiß mit Schachgeboten weiter vorzudringen. Vaishali könnte nur mit ihrem König noch etwas Budenzauber inszenieren, aber Schwarz sollte bei etwas Vorsicht keine größeren Probleme mehr haben und bei gegnerischer Königsaktivität seinen e-Bauern sofort auf Reisen schicken können.

 

In dieser Stellung spielte Schwarz den gruseligen Zug 62...g6-g5. Wer die vorher betrachtete Festung visualisiert hatte, wird diesen Zug nicht einmal erwägen. Interessanterweise erinnerte sich Vaishali nach Turnierende befragt, sofort an diesen Zug. Eigene gute Züge im Turnier fielen ihr stattdessen nicht ein.

 

Zu wissen oder zu fühlen, dass der gegnerische Zug mit dem g-Bauern falsch ist, reicht jedoch nicht aus. Wie sollte Weiß fortsetzen? Tatsächlich fand die Inderin keinen der zwei Gewinnzüge. Das war nämlich immer noch sehr schwierig. Weiß sollte eine typische Technik für solch einen Endspieltyp wählen und mit stillen Zügen arbeiten. Schwarz kann seine Stellung danach nur schwierig halten. Die technische Hilfe gibt zwei Gewinnzüge an: 63.Df1 und 63.Db5. Vaishali spielte hier übrigens den Zug 63.Da6+ und die Stellung konnte von ihrem Gegner Remis gehalten werden. Dafür schauen wir uns zunächst eine Stellung nach der für Weiß richtigen Spielweise an.

 

Diese Stellung ergibt sich nach der Folge: 62...g5 63.Db5 Dxc5+ 64. Kf6. Interessanterweise ist die Stellung mit Weiß am Zuge gewonnen und Schwarz am Zuge hält Remis. Der Versuch den Unterschied verbal zu beschreiben erweist sich als schwierig, aber hier hat Weiß sofort das Schach auf f8 zur Verfügung und stört den Gegner von hinten. Später kam es in der Partie zu genau dieser Stellung und Vaishali gewann aus dieser Stellung heraus.

 

In der Partie kam es dann in dieser Stellung erneut zum Schwur. Wie sollte Schwarz reagieren? Das sollte inzwischen einfach sein, oder? Schwarz muss seinem König etwas Schutz bieten und sollte dabei kurzfristig nicht zu kleinlich agieren. Der richtige Zug hier ist erneut, sich mit Kf6 in Richtung des g-Bauern zu orientieren. Nach dem Schlagen auf c5, Weiß hat nichts Besseres, folgt 65…Kg6 und eine weitere Festung ist errichtet. Diese wirkt aber nicht so stabil wie mit einem Bauern auf g6. Wie es kommen musste, lässt sich Vaishali ihre zweite Chance nicht entgehen und gewinnt die Partie. Einfach war auch das bei bester Verteidigung nicht, diese schaffte ihr Gegner aber nicht zu leisten.

 

Nach dem ersten Turnierdrittel lag die Inderin bei anderthalb Punkten und hatte eine erneute Schwarzpartie zu bestreiten. Gegen den Deutschen Giso Jahncke lief es schon besser als in den Partien zuvor.

 

Hier war der Hamburger mit Weiß am Zuge und musste eine Entscheidung treffen: Interessanterweise und ein wenig gegen die Logik ist hier das Nehmen mit 26.Lxb6 richtig, um auf den schwarzen Feldern die eigenen Figuren zu platzieren. Die Springer erweisen sich in der Folge als zu stark und der Läufer wird getauscht und Schwarz erhält einen starken Freibauern auf der b-Linie.

In Runde 5 spielte Vaishali gegen den klaren Tabellenführer Yoav Millikow aus Israel. Dieser erzielte letztlich ebenfalls eine Großmeisternorm und wird in dem zweiten Teil anhand seiner Partien vorgestellt. Die Inderin wechselte nach dem Londoner Auftakt auf einen anderen Eröffnungszug, den Königsbauern, um und sollte damit letztlich drei Siege erringen. Nachdem die Inderin eine überzeugende Partie gespielt hatte, gab es noch einen bangen Moment in der folgenden Stellung.

 

Weiß am Zug spielte einen Moment unaufmerksam den Zug 26.Df4. Der Zug verliert eigentlich eine Figur nach 26...g7-g5, da die weiße Dame auf f4 nach 27.Sxg5 Dh6 ungedeckt stünde und Weiß daher seinen Springer auf g5 nicht retten kann. Weiß müsste dann auf f5 mit der Dame oder dem Springer nehmen und danach mit vier Bauern für eine Figur, die Partie erneut zu gewinnen versuchen. Zum Glück für die Inderin übersah der israelische Youngster, Jahrgang Vincent, also 2004, seine Chance. Nach der Runde hatten beide GM-Normjäger 3,5 aus fünf Partien und es sah nicht wirklich nach zwei Normen aus. Tatsächlich legten sowohl Yoav als auch Vaishali ab hier den Turbo ein.

 

In dieser Stellung gab Vaishali gegen ihren griechischen Gegner Georgios Mitsis ohne langes Zögern eine Qualität auf f4 und dominierte die weitere Partie. Der Grieche konnte im Verlauf noch einmal die Qualität zurück geben, verpasste aber diesen Moment und wurde fachgerecht einpackt. Am Ende der Partie entschied die Inderin mit einem Kraftzug in ohnehin klarer Gewinnstellung, der in der nächsten Partie dann ähnlich vorkam. Es ging um das Aktivieren des eigenen Läufers.

 

Hier spielte Vaishali nur noch einen Zug und ihr Gegner gab auf. 42...e4 aktiviert den Läufer und danach war nur noch Vorhang. Schwarz hatte noch andere Züge, welche sofortige Aufgabe bedeuteten. Unter ästhetischen Gesichtspunkten gefällt der zentrale Bauernzug jedoch sehr.

In der siebten Runde durfte Vaishali gegen die Französische Verteidigung antreten. Ihr polnischer Gegner Jacek Szwed hatte nach zuvor gutem Start zwei Niederlagen kassiert und war etwas angeschlagen. Der Pole ging an einer frühen Chance (18...Txa4) vorbei und wurde dann regelrecht überspielt. Der entscheidende Moment erinnerte mich an den Schlusszug aus der Vorrunde.

 

Vaishali spielte hier den thematischen Zug 22.f4-f5 und aktivierte ihren Läufer. Danach brach der Widerstand von Jacek schnell zusammen.

 

Es folgte die dritte Schwarz-Partie gegen einen Großmeister, diesmal  den Griechen Ioannis Nikolaidis, die schnell mit Remis endete. In der neunten Runde musste Vaishali mit bis dahin sechs Punkten gewinnen. Ihr französischer Gegner hatte ebenfalls ein sehr gutes Turnier gespielt (5,5 aus 8). Marco Materia ist Jahrgang 2009 und war zum Zeitpunkt der Partie gerade 13 Jahre alt. Marco hat bereits die IM-Normen zusammen und war ebenfalls ein realistischer GM-Normenjäger. In den Runden 6 bis 8 erzielte der Youngster gegen die drei Großmeister zweieinhalb Punkte.

 

Der Zug Dd3 will mit dem Damenzug nach g3 fortsetzen und die Damen vom Brett nehmen. Falls Schwarz das nicht will, ist die Entwicklung des schwarzen Läufer erschwert, der den Bauern auf g7 verteidigen muss. Weiß kann nach Damentausch auf einen dauerhaften Vorteil hoffen. Vaishali gab ihrem Gegner in der Folge eine Chance auf Ausgleich, als sie ihren g-Bauern etwas zu früh nach vorne schob. Insgesamt jedoch war die finale Partie eine klare Angelegenheit.

Vaishali, mit Medaille und Pokal

Die vielleicht wichtigste Vorentscheidung war diesmal die Eröffnungswahl und dabei half Pragg, der in Oslo sehr erfolgreich spielte. Pragg und Vaishali sind aus Chennai und in der Schachschule von Großmeister Ramesh sozialisiert. Seit einiger Zeit sind die Geschwister in der Westbridge Akademie von Anand (WACA), der ebenfalls in Chennai lebt. In der Akademie ist das komplette so genannte „B-Team“ für die Schacholympiade im gesponserten Training. Hinzu kommt bei der Schacholympiade Adhiban als Teamsenior und ebenfalls ehemaliger Ramesh-Schützling. Coach des Teams wird Ramesh sein.

Vaishali ist aktuell die einzige weibliche Topgeförderte der WACA. Inzwischen wurde Vaishali für das indische A-Team der Frauen bei der anstehenden Schacholympiade in ihrer Heimatstadt Chennai nominiert und ist nach Heraklion direkt in ein elftägiges Trainingscamp mit anderen Spielern gereist. Man darf gespannt sein, welche gemeinsamen Erfolge das aktuell stärkste Geschwisterpaar der Welt noch erzielt. Vaishali habe das klare Potential ein Rating von 2600 zu erreichen, meinte Ramesh schon vor einiger Zeit im Gespräch. Nach Heraklion und zwei GM-Normen wird ihre Elozahl bei 2432 sein und man darf die Entwicklung von Vaishali hoffnungsvoll weiter beobachten.

Partien

 

Fragmente

 

Links

The Westbridge Anand Chess Academy will train 5 of India's biggest chess talents - ChessBase India

Der (wahrscheinlich) erfolgreichste Trainer der Welt: RB Ramesh (I) | ChessBase

Der Schachboom in Indien: Gespräch mit Ramesh (II) | ChessBase

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.