Leipzig 1960 war eine historische Olympiade
Leipzig ist und bleibt eine Schachstadt. Dort wurde 1877 der Deutsche Schachbund gegründet, und es fanden viele Turniere von Rang statt. Vor 30 Jahren gab es an gleicher Stelle die Vereinigung der beiden Schachverbände von BRD und DDR. Als Augenzeuge vor Ort freute man sich Ende September 1990 mit; erst vor zwei Wochen wurden wir wieder an jenen Tag erinnert. Heute nun geht der Blick auf ein Schachereignis in der sächsischen Metropole zurück, das vor exakt sechs Jahrzehnten begann und ebenfalls als historisch betrachtet werden darf. Vom 16. Oktober bis 9. November 1960 schaute die Schachwelt nach Leipzig, wo die 14. Olympiade stattfand.
Der Dresdner Schriftsteller Max Zimmerring dichtete seinerzeit in einer Botschaft für die Teilnehmer.
Gruß den Meistern
„Ihr kamt aus allen Kontinenten
Zum fairen freundschaftlichen Streit.
Fühlt Euch zu Haus in unsern Mauern.
Die Felderbretter steh‘n bereit.
Auf vierundsechzig kleinen Feldern
Soll Phantasie, Erfahrung, Geist,
Soll sich des Schachspiels Kunst bewähren
Durch Euch, die man als Meister preist.
Das längere Gedicht endete mit dem Leitspruch der FIDE: Gens una sumus.
Die Tatsache, dass ein arrivierter Schriftsteller für die Grußbotschaft gewonnen wurde, war ein erster Hinweis darauf, welche Bedeutung das Turnier der Nationen für die DDR hatte. Zwei Jahre nach der Schacholympiade in München wollte der junge Staat mit diesem sportlichen Event glänzen und zeigen, dass man ein so anspruchsvolles Ereignis erfolgreich organisieren kann. Und es ist eindrucksvoll gelungen.
Die gastfreundliche Messestadt Leipzig war in der Tat ein geeigneter Ort, wie man ihn sich besser nicht vorstellen konnte. Immerhin dauerte die Olympiade dreieinhalb Wochen, denn es wurde noch in einer Vor- und Finalrunde gespielt. Und es kamen insgesamt mehr als 75 000 Zuschauer! - was heute undenkbar erscheint. Nun, es war die vorelektronische Zeit, und die Verhältnisse haben sich seither drastisch geändert. Bei Schacholympiaden gibt es, nicht zuletzt aus Kostengründen, schon etliche Jahre nur noch elf Runden. Die Teilnehmer sind mehr oder weniger unter sich, und die Welt schaut im Internet zu. In diesem Sommer 2020 musste das Turnier der Nationen, der Corona-Pandemie geschuldet, nur im Internet stattfinden, was von der großen Mehrheit in der Schachwelt nicht einmal als Notlösung empfunden wurde. Da waren die Unwägbarkeiten der Internet-Übertragungen, und es fehlte einfach die gewohnte Atmosphäre.
Wir schwelgen daher noch einmal in unseren Erinnerungen an Leipzig und lassen u.a. auch wieder drei Zeitzeugen zu Wort kommen, die damals in unterschiedlicher Weise bei der Olympiade gewirkt haben: einen Großmeister, einen Schiedsrichter und einen Schachkiebitz. Gemeinsam mit ihnen erinnern wir uns an ein großes Fest des Schachs, das viele Highlights hatte, darunter die Husarenritte des neuen Weltmeisters Michail Tal und die Olympiade-Premiere des jungen Bobby Fischer.
Der kürzlich verstorbene Wolfgang Uhlmann (1935-2020) besetzte 1960 im Ringmessehaus von Leipzig das Spitzenbrett der DDR-Mannschaft. Nach Moskau 1956 und München 1958 war es seine dritte Olympiade. Bis 1990 spielte der Dresdner Großmeister insgesamt elfmal beim Turnier der Nationen. Zu verschiedenen Gelegenheiten habe ich mit Wolfgang Uhlmann über seine Starts bei den Turnieren der Nationen gesprochen. An Leipzig 1960 hatte er nur die besten Erinnerungen:
Wolfgang Uhlmann
„Wir waren damals stolz, dass die Olympiade an die Messestadt vergeben wurde. Leipzig hat ein Turnier der Nationen ausgerichtet, dessen Niveau nur von wenigen anderen erreicht wurde, an denen ich teilnahm. Die DDR wollte glänzen, und kein Geringerer als der damalige Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann hatte die Schirmherrschaft übernommen. Gewaltig waren die Begeisterung und der Zuschauerandrang, Eine traumhafte Sache. Die Sowjetunion mit dem neuen Weltmeister Michael Tal zeigte ihre einsame Klasse. Wir schnitten nicht ganz so erfolgreich ab wie 1958 in München und landeten einen halben Punkt hinter der Bundesrepublik. Es zeigte sich, dass der Heimvorteil im Schach nicht immer förderlich sein muss. Die Mannschaften auf den vorderen Plätzen waren einfach stärker als unser Team.“
In dauerhafter Erinnerung blieb für alle Schachspieler sowie die Gäste aus Ost und West auch die im olympischen Rahmenprogramm gezeigte Ausstellung „Schach im Wandel der Zeiten“. Sie war auf ihre Art einmalig, denn die kostbaren Exponate kamen aus aller Welt. Nahezu 150 Kulturinstitute sowie private Sammler stellten in Leipzig ihre besten Stücke zur Verfügung. Sie zeigten eindrucksvoll, dass Schach zum kulturellen Erbe der Menschheit gehört. Die Exposition zog unglaublich viele Leute an, auch Nicht-Schachspieler. Groß war das internationale Echo auf die Ausstellung. Namhafte Persönlichkeiten verewigten sich im Goldenen Buch der Exposition, auch der weltberühmte Geiger David Oistrach, der als leidenschaftlicher Schachspieler das Länder-Turnier besuchte. Viele Schachmeister lobten die Ausstellung als einzigartig, unter ihnen Deutschlands bekanntester Schachsammler Lothar Schmid sowie der englische Teamkapitän Harry Golombek. Sie allein würde genügen, um die Olympiade als bedeutendste in der Schachgeschichte zu bezeichnen, erklärte der Brite damals.
Das umfangreiche Kulturprogramm in Leipzig konnte sich wirklich sehen lassen. Wolfgang Uhlmann erinnerte sich später gern an den Eröffnungstag:
„Im neu gestalteten Opernhaus erlebten wir zu Beginn „Cavalleria rusticana“. Neben meiner Frau und mir saß der junge Bobby Fischer. Der Amerikaner war in Gedanken so mit Schach beschäftigt, dass er fast die ganze Aufführung ‚verschlafen‘ hat. Kurz zuvor konnte ich Fischer bei einem großen Turnier in Buenos Aires mit Schwarz in einer Französischen Partie besiegen.“
In Leipzig war Bobby Fischers Olympiapremiere. Der 17-Jährige nahm bei Uhlmann für Buenos Aires Revanche und gewann in einem Königsinder.
Fischer war damals bereits auf dem Weg in die Weltspitze. Er ging immer sehr elegant gekleidet. In Argentinien hatte er sich fünf Anzüge schneidern lassen und war nach Aussage des Dresdner Großmeisters als junger Mann wirklich eine sympathische Erscheinung.
Wolfgang Uhlmann hatte in jenem Jahr geheiratet. Seine Frau Christine besuchte ihn an den Wochenenden, das DDR-Team residierte während des langen Turniers im Hotel Stadt Leipzig. Es ging dort nicht so drakonisch zu wie bei Olympischen Spielen, wo Frauen und Männer im Athletendorf streng getrennt voneinander wohnen müssen. Nach den Wettkämpfen wurde abends viel geblitzt, wobei sich Michail Tal, Tigran Petrosjan und Bobby Fischer nach Uhlmanns Schilderung als beinahe unschlagbar erwiesen.
„Ich spielte lieber mit Jefim Geller und anderen Großmeisterkollegen Bridge, was damals in Schachkreisen sehr populär war. In unseren Tageszeitungen konnte man viel über die Olympiade lesen. Die Blätter waren voll davon, so dass auch Menschen, die keine Ahnung vom Schach hatten, sich für das Ereignis interessiert haben. Namen wie Botwinnik, Tal oder Fischer waren im Herbst 1960 für jedermann ein Begriff.“
Gespielt wurde in zwei Etagen des Leipziger Ringmessehauses. Hauptschiedsrichter war der amtierende Fernschachweltmeister Wjatscheslaw Ragosin aus der UdSSR. Für die 40 teilnehmenden Teams gab es 20 Länderschiedsrichter, außerdem zwei Etagenschiedsrichter. Sie mussten damals noch alle Partien mitschreiben. Denn oft konnten die Partieformulare der Spieler nicht entziffert werden. Damals gab es noch Hängepartien. Nach vier Stunden Spielzeit ertönte ein Gong, und der am Zug befindliche Spieler musste seinen Zug abgeben. Am nächsten Morgen wurden die nicht beendeten Partien dann von 9-13 Uhr fortgesetzt. Die Zuschauer konnten die Partien hautnah verfolgen. Sie waren nur durch eine kleine Schnur von den Schachspielern getrennt und konnten deren Mimik genau beobachten.
Einer, der ganz nah an die Akteure heran durfte und diese Details erzählte, ist mein Berliner Schachfreund Dieter Lentschu.
Dieter Lentschu
Der heute 87-Jährige war Schiedsrichter in Leipzig. Besonders beeindruckt hat ihn das Vorrunden-Duell zwischen dem Österreicher Karl Robatsch und Michail Tal. Da brannte nach seinen Worten das Brett.
„Ich denke, beide haben während des Spiels etwa 60 Zigaretten geraucht! Damals war Nikotin im Spielsaal noch erlaubt. Jeder Spieler hatte an seinem Tisch einen Aschenbecher.“
Am Ende rauchten Robatsch und Tal zwar die Friedenspfeife, aber diese Partie war nach Meinung des Schiedsrichters noch spannender als das viel beschriebene Treffen zwischen Fischer und Tal, welches später in der Finalrunde stattfand.
Dieter Lentschu war es auch, der die einzige Niederlage von Weltmeister Tal in Leipzig gegen den Engländer Jonathan Penrose im Bild festgehalten hat. Es passierte in der letzten Runde und war die einzige Null überhaupt, die das übermächtige sowjetische Team bei diesem Turnier kassierte.
Jonathan Penrose kommt aus einer berühmten Familie. Fast alle Mitglieder waren und sind bekannte Wissenschaftler. Sein Vater Lionel war Genetiker und komponierte auch Schachstudien. Sein Bruder Roger Penrose erhielt vor wenigen Tagen den Nobelpreis für Physik. (siehe ChessBaseNews vom 7.10.2020)
Foto: Dieter Lentschu
Der bekannte Berliner Schachspieler Horst Strehlow (Jahrgang 1931) ist mit dem damaligen Schiedsrichter Dieter Lentschu seit vielen Jahrzehnten befreundet. Er war mit einer Schachgruppe zur Olympiade nach Leipzig gefahren und blieb dann einfach dort. Drei Wochen Aufenthalt kosteten natürlich Geld, und so arbeitete er vormittags beim Gemüsehandel, und am Nachmittag ging er ins Ringmessehaus zu den Schachspielern.
„Es war eine große Sache. Ich sah viele tolle Partien, nicht nur die von Fischer und Tal mit den gegenseitigen Opfern. Dieses Erlebnis war einfach unvergesslich.“
Turnierbuch vom Sportverlag Berlin
Im bemerkenswerten Olympiade-Buch des Berliner Sportverlags gibt es ein Foto, wo Horst Strehlow als 29-jähriger Kiebitz und mit einem Steckschach bewaffnet zu sehen ist. Auch vor zwölf Jahren in Dresden haben wir ihn getroffen. Natürlich ist der schachbegeisterte Veteran dort im Jahre 2008 ebenfalls wieder als interessierter Olympiade-Zuschauer gewesen. Aber der inzwischen 89-Jährige kam zu seinem Leidwesen nicht so dicht wie 1960 an die Bretter der Schachstars heran. Die Zeiten haben sich eben sehr geändert. Noch immer aber interessieren sich die Veteranen von damals für das aktuelle Schachgeschehen.
Horst Strehlow links, mit Dieter Lentschu
Der sportliche Ausgang in Leipzig war vorherzusehen und die Sowjetunion nicht zu schlagen. Wie erwartet, gewann die UdSSR-Mannschaft mit großem Vorsprung, denn sie hatte ihre besten Spieler entsandt: Tal, Botwinnik, Keres, Kortschnoi, Smyslow und Petrosjan.
Smyslow
Drei von ihnen waren schon Weltmeister, einer sollte es noch werden. Die USA belegten sicher den zweiten Rang vor Jugoslawien. Dabei stand der Start der amerikanischen Großmeister bei dieser Olympiade bis zuletzt auf der Kippe, weil das US-State Departement die Ausreise des Teams in ein Ostblockland zunächst verweigert hatte. Auch die Finanzierung war lange Zeit nicht geklärt. Eine Wende gab es erst in letzter Minute nach energischen Protesten, an denen sich auch Bobby Fischers Mutter Regina beteiligte.
Uhlmann-Unzicker
Die BRD kam in Leipzig auf Platz 8, die DDR auf Rang 9, in München 1958 war die Reihenfolge umgekehrt. Nach Ansicht von Michail Tal hätte eine gemeinsame deutsche Mannschaft in der Aufstellung Wolfgang Unzicker, Wolfgang Uhlmann, Lothar Schmid und Wolfgang Pietzsch um Bronze mitspielen können. Ein interessanter Gedanke. Bei den Olympischen Sommerspielen 1960 in Rom hatte es kurz zuvor eine gesamtdeutsche Mannschaft gegeben, die 12 Goldmedaillen holte. Später gingen beide deutsche Staaten dann auch bei den „großen“ Spielen bis zur Wiedervereinigung getrennte Wege. Es herrschte eben kalter Krieg.
Die Mehrheit der Schachhistoriker ist der Ansicht, dass die DDR mit ihrer Olympiade 1960 in Leipzig neue Maßstäbe gesetzt hat. Die Messestadt war es gewohnt, internationale Gäste zu empfangen, ein klarer Pluspunkt gegenüber anderen Bewerberstädten. Seit 1950 war der Schachverband der DDR schon Mitglied der FIDE und wurde vom Weltverband nach der erfolgreichen Austragung des Turniers der Nationen stärker beachtet.
In Leipzig war man sichtbar bemüht, das Motto der FIDE ‚Gens una sumus‘ (Wie sind eine Familie) mit Leben zu erfüllen. Gelobt werden müsse auch, so ein Chronist, der Versuch der damaligen Organisatoren, Politik und Ideologie möglichst vom Schachgeschehen fernzuhalten. Wobei es, wie wir bis heute ständig sehen, kaum möglich ist, Sport und Politik zu trennen. Zu groß ist das Interesse der Mächtigen, den Sport für ihre Zwecke einzusetzen oder sich im Glanz von erfolgreichen Aktiven zu sonnen. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.