Interview mit Christopher Lutz, 3.Teil
Von Conrad Schormann
Teil 1...
Teil 2...
Schadet es der Entwicklung eines
Schachspielers, der Engine zuzuschauen, statt zu denken?
Computer beeinflussen wesentlich die Entwicklung und das Denken jüngerer
Spieler. Viele setzen sich ans Brett und rechnen einfach, mit dem Verständnis
ist es nicht so weit her. Ich kenne Großmeister, die Stellungen für gut halten,
weil der Computer sie für gut hält, obwohl das nicht stimmt. Die meisten
Schachprofis arbeiten fast ausschließlich mit Computern. Auch ich trainiere
selten mit Brett und Figuren. Computer beeinflussen das Schach, bringen es aber
auch weiter. Wir wissen jetzt, dass viel mehr Stellungen spielbar sind, als man
früher dachte.
Du hast vorhin gesagt, dir hätten zu Beginn die schachlichen Grundlagen gefehlt.
Wo bleiben die Grundlagen heute? Verdrängen die Computer die klassische
Ausbildung?
Bernd Vöckler, Nachwuchstrainer des Deutschen Schachbunds, hat mir mal
berichtet, wie sich bei Jugend-Weltmeisterschaften oder ähnlichen Turnieren die
Spieler auf ihre Gegner vorbereiten. Drei Analyseengines laufen gleichzeitig,
und es geht vor allem darum, sie zu bedienen, und nicht, über die Stellung
nachzudenken. Langfristig ist das nicht förderlich für die schachliche
Entwicklung. Peter Leko hat einen gewaltigen Leistungssprung gemacht, nachdem er
entschieden hatte, bei der Analyse nicht ständig ein Schachprogramm rechnen zu
lassen, sondern erst selbst zu schauen, was Sache ist in dieser oder jener
Stellung. Ich glaube, die Bedeutung der Computer für das eigene Schach wird
überschätzt. Beim Training sollte man sie eher außen vor lassen.
Die Engines sind eine Seite, Datenbanken
die andere. Die Eröffnungstheorie wächst und wuchert. Du hast wahrscheinlich ein
fantastisches Gedächtnis...
(lacht)
...zumindest ein fantastisches Gedächtnis
für Schachvarianten. Aber kann man sich als Profi noch alles merken, was man
wissen müsste?
Ich kanns nicht mehr. Beim Punkt Eröffnungswissen weiß ich auch nicht genau, wo
ich ansetzen soll. Auf absolutem Topniveau, Elo 2.700 und drüber, ist es
wahrscheinlich extrem wichtig, all die Varianten zu memorieren. Aber schon auf
dem Niveau darunter, ab 2.600, wird das wahrscheinlich überschätzt. Die
Eröffnungsvorbereitung kommt extrem selten aufs Brett. Ich frage mich selbst, ob
ich in jeder Variante das Aktuellste und Beste spielen soll, oder ob es
sinnvoller ist, Varianten zu spielen, die vom theoretischen Standpunkt aus nicht
optimal sind, die ich aber sehr gut kenne. Manche spielen sehr viele Varianten
und können zwangsläufig nicht alles besonders tief kennen. Andere spielen wenige
Systeme, die sie in- und auswendig kennen.
Vassili Iwantschuk spielt alles. Wie macht
der das?
Iwantschuk ist auch unter den Top-Spielern ein Phänomen. Kramnik, der sein
eigenes Gedächtnis nicht so toll einschätzt, meinte mal, dass Iwantschuk
wahrscheinlich das beste Gedächtnis von allen hat. Aber letztendlich haben alle
Schwierigkeiten, sich die Varianten zu merken. Darum geht der Trend dahin,
Systeme zu spielen, in denen es mehr auf allgemeine Ideen ankommt. Marshall oder
Anti-Marshall zum Beispiel sind deswegen populär.
Ist aus Sicht von Topspielern die Zahl der Eröffnungen, mit denen sich mit
Weiß was reißen lässt, tatsächlich so sehr geschrumpft?
Im Prinzip ist es nunmal leichter, mit Schwarz auszugleichen, weil Schach Remis
ist. Behaupte ich. Mit Weiß ist es unendlich viel mehr Arbeit, und es gibt
wenige Bereiche, in denen Weiß auf Vorteil hoffen kann. Diese
Marshall-Anti-Marshall-Geschichte zum Beispiel, oder gegen Sweschnikow, wo
eigentlich niemand so genau weiß, was man spielen soll. Natürlich tauchen immer
mal wieder neue Ideen auf, aber die werden meist schnell entkräftet.
Was hältst du vom Ansatz eines Spielers wie Alexander Morosewitsch, der
abseits gängiger Theorie spielt und dann hofft, die Komplikationen besser zu
durchschauen?
Morosewitsch ist sicher einer der originellsten Spieler in der Weltspitze, der
seine eigenen Wege geht. Manchmal geht das natürlich schief. Die prinzipielle
Strategie ist schon, sich auf gängigen Pfaden zu bewegen. Wenn es dann gelingt,
im 25. Zug eine Neuerung zu platzieren, hat man gewonnen, wenn nicht, wird die
Partie Remis.
Für die Zuschauer ist das nicht besonders aufregend.
Das ist ein Problem, wenn nach der Eröffnungstheorie die Stellung ausgeglichen
ist und Remis vereinbart wird. Aber der momentane Trend.
Droht der Remistod?
Denke ich nicht. Wenn die Spieler nicht Remis vereinbaren dürfen, kommen
interessante Partien zustande. Das hat jetzt das Turnier in Sofia gezeigt. Das
Problem ist ja nicht, dass Partien Remis enden...
...sondern, dass nicht gekämpft wird.
Genau. Wenn nach 70 Zügen Remis gemacht wird, beschwert sich niemand. Insofern
war das Turnier in Sofia ein interessantes Experiment. Vielleicht wären ein paar
mehr Ruhetage sinnvoll gewesen, weil am Schluss die Zahl der Fehler und
Einsteller gestiegen ist. Kramnik hat im Verlauf des Turniers mehrmals was
eingestellt. Aber der Kampfgeist hängt auch vom Turnier ab. In Wijk an Zee haben
sich die Spieler in den vergangenen Jahren eigentlich immer kampfesmutig
präsentiert. Natürlich hat mancher mal ein kurzes Remis eingestreut, aber es gab
immer viele umkämpfte Partien. In Linares ist das anders. Da werden jeden Tag
drei Partien gespielt, zwei davon sind sowieso schnell Remis. Linares ist
Inzucht: Vier, fünf Spieler plus Schirow und Vallejo, und keiner will was
riskieren aus Angst, beim nächsten Mal nicht eingeladen zu werden. Deswegen war
Linares zuletzt nicht besonders interessant. Wijk, mit 14 Spielern, ist
spannender.
Also ist nicht das Schach Schuld am Remisproblem, sondern die Spieler?
Naja, die Linares-Teilnehmer sind meist auch in Wijk dabei. Es hängt mehr vom
Umfeld ab.
Und die Turnierform? Wenige Spieler doppelrundig ist keine Lösung, oder?
Das sehe ich auch so. In Dortmund letztes Jahr gabs zwar das K.o.-System, aber
das hat nur zu mehr Schnellschach-Tiebreaks geführt. Die regulären Partien hat
das K.o.-System nicht interessanter gemacht. Im Gegenteil. Niemand wollte in den
klassischen Partien etwas riskieren. Viele Spieler machen ein Turnier
interessanter, auch Lokalmatadore, die etwas schwächer sind.
Was sagst du zum Rücktritt von Gary Kasparow?
In den vergangenen zwei Jahren hat Kasparow nicht so überzeugend gespielt. Da
waren einige schwächere Resultate bis jetzt zur Russischen Meisterschaft und
Linares, die er gewonnen hat. Es war zwar nicht seine Schuld, dass er einige
Turniere nicht gespielt hat (weil er sich auf Matches vorbereitete, die nicht
stattfanden, d. Red.), aber aus meiner Sicht war er in den vergangenen zwei
Jahren nicht so präsent. Hätte er vor zwei oder drei Jahren aufgehört, wäre er
noch der absolut beste Spieler gewesen. 2004 zum Beispiel war Anand der Beste,
deswegen hinterlässt Kasparows Rücktritt keine so große Lücke.
Nach der Russischen Meisterschaft und Linares war der Tenor, Kasparow zeigts
nochmal allen.
Aber bis dahin? Kasparow hatte einige schwächere Ergebnisse, und vor allem hat
er sehr wenig gespielt, auch weil sein FIDE-WM-Kampf in der Luft hing. Okay, am
Schluss hat er es nochmal allen gezeigt. Natürlich ist sein Rücktritt auch ein
Verlust. 10, 15 Jahre war Kasparow klar die Nummer eins. Ich sehe keinen, der
das Schach wieder so dominieren könnte, der eine Klasse besser ist als die
anderen. Anand oder Topalow sind eher die Besten unter Gleichen.
Sollte einer über den anderen thronen?
Zumindest gibt das den Medien eine Identifikationsfigur. Beim Golf war Tiger
Woods einige Zeit klar besser als alle anderen, und ähnlich wars beim Schach, wo
Kasparow auch durch seine Art einige nicht besonders schachorientierte Medien
angezogen hat. Aus Sicht der Schachspieler hat er natürlich Eigenheiten, die
nicht so angenehm sind.
Wirkt sich Kasparows Rücktritt auf die Vereinigung des Weltmeistertitels aus?
Die wird jetzt wahrscheinlich einfacher. Aus drei Parteien - FIDE, Kasparow,
Kramnik - sind zwei geworden. Das erhöht die Chancen, sich zu einigen.
Die FIDE-WM in Argentinien hat Kramnik abgesagt. Er würde hinterher gegen den
Sieger spielen, aber das will der Weltverband FIDE verhindern. Glaubst du an
eine Vereinigung?
Die FIDE hat schon viel angekündigt, was nicht zustande kam, speziell die
Wettkämpfe Kasparow-Ponomarjow und Kasparow-Kasimdschanow. Sollte das Turnier in
Argentinien stattfinden, hätten sie eine gewisse Legitimation und könnten
schauen, ob und wie sie sich mit Kramnik einigt. Kramniks Position ist auch
nicht ideal. Er hat zwar seinen Titel verteidigt, aber ansonsten eher mäßig
gespielt. Die FIDE plant ja einen neuen WM-Zyklus mit weiteren Turnieren. Wenn
eines davon ausfiele, hätte sie ein neues Problem, zumal das Geld für ihre
Weltmeisterschaften bisher von Iljumschinow oder Gaddafi kam. Das war auch nicht
ideal. Wie die Strukturen der FIDE: Einige der höchsten Funktionäre sind nicht
gerade vertrauenswürdig.
Erstmal hängt viel davon ab, ob das Turnier in Argentinien stattfindet. Zuletzt
gab es ja Zeichen, dass der Weltverband wieder bereit ist, auf die Spieler
zuzugehen, zum Beispiel in der Bedenkzeitfrage. Auf jeden Fall wäre es gut, gäbe
es eine Einigung. Der Öffentlichkeit sind und waren mehrere Weltmeister nicht zu
vermitteln. Als Kramnik Weltmeister war und Ponomarjow eigentlich auch, aber
Kasparow der beste Spieler der Welt, das konnte man keinem Außenstehenden
erklären.
Jetzt müssen wir abwarten, was in Argentinien passiert. Wenn dieses Turnier auch
nicht stattfindet, hat die FIDE vielleicht endgültig ihren Kredit verspielt.
Seien wir gespannt. Vielen Dank für das Gespräch.