Mental gewinnen: Ein Interview mit Werner Schweitzer

von Johannes Fischer
25.01.2017 – Wie konnte das passieren? In Runde sieben des Tata Steel Turniers in Wijk aan Zee übersah Weltmeister Magnus Carlsen nach starkem Spiel gegen Anish Giri ein dreizügiges Matt und verdarb die Partie zum Remis. Wie kommt es zu solchen Fehlern - und was kann man dagegen tun? Johannes Fischer wollte es wissen und hat bei Mentalcoach Werner Schweitzer nachgefragt. Mehr...

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Herr Werner Schweitzer, Sie sind, so kann man auf Ihrer Webseite mental-gewinnen.com nachlesen, „Diplom Lebens- und Sozialberater mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Leistungsträgern im Sport und Business“. Außerdem sind Sie akademischer Mentalcoach. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ich habe an der Universität Salzburg am Institut für Sportwissenschaften einen Universitätslehrgang für Mentalcoaching absolviert. Die zusätzliche Ausbildung zum Diplom Lebens- und Sozialberater ist in Österreich gesetzlich vorgeschrieben, um im Einzelcoaching mit Menschen an deren Persönlichkeit arbeiten zu dürfen.

Mentalcoach Werner Schweitzer

Sie sind auch Schachspieler und haben für ChessBase eine erfolgreiche DVD mit dem Titel „Mental gewinnen!“ aufgenommen. Ihre zweite DVD erscheint demnächst. Was sagen Sie dazu, dass Carlsen in Runde 7 des Tata Steel Turniers in Wijk aan Zee mit circa 40 Minuten auf der Uhr gegen Anish Giri ein recht einfaches dreizügiges Matt übersehen hat, nachdem er eine bestenfalls leicht bessere Stellung mit phantastischem Spiel in eine Gewinnstellung verwandeln konnte. Wie kommt es zu solchen Fehlern?
Auch der Weltmeister ist ein Mensch und macht Fehler. Wir können uns sicher alle daran erinnern, dass Kramnik 2006 das Matt in 1 gegen „Deep Fritz“ übersehen hat. Auch so etwas passiert. Zur aktuellen Situation: So einfach wird dieses Matt nach ein paar Stunden am Brett nicht zu sehen gewesen sein, wenn es zwei der besten Spieler der Welt nicht gesehen haben.

 

Magnus Carlsen - Anish Giri, Wijk aan Zee 2017, Runde 7, Stellung nach 55...Kg8.
Weiß gewinnt mit 56.Tc8+ Kh7 57.Tf7 Kh6 58.Th8#

Nur weil es uns der emotionslose Computer zeigt und wir es deswegen alle sehen, ist es nicht einfach. Wenn man außerdem den Zeitaufzeichnungen im Internet glauben darf, hat Carlsen die Züge vor und nach dem entscheidenden Zug recht schnell gespielt. Genauso schnell wie Giri. Es scheint, als hätte er überhaupt kein mögliches Matt in der Stellung vermutet, stattdessen hat er mit Lf7+ einen Zug gespielt, der noch immer gewinnt. Erst einige Züge später ist die Stellung remislich geworden. Vielleicht lag es also daran, dass er zunächst mitgeblitzt hat und anschließend die Stellung gar nicht mehr als gewonnen eingeschätzt hat.

Was kann man dagegen machen?
Ich denke, solche Fehler sind auch Spitzenspielern immer wieder passiert und sie werden ihnen immer wieder passieren. Anish Giri und Magnus Carlsen sind Spieler, von denen wir solche Fehler nicht gewohnt sind. Bei anderen hingegen, wie etwa Fabiano Caruana oder Hikaru Nakamura, kommt das öfter vor. Emotionskontrolle ist eine wesentliche Fähigkeit, die es Spielern ermöglicht, solche Fehler seltener zu machen als andere. Wie Carlsen schon mehrfach gesagt hat, ist ihm diese Fähigkeit in letzter Zeit anscheinend etwas abhanden gekommen.

Carlsen nach seiner Niederlage gegen Alexander Grischuk
bei der Blitz-Weltmeisterschaft 2015 in Berlin (Quelle: youtube)

Was macht man, wenn man nach der Partie feststellt, dass man eine solche Möglichkeit verpasst hat? Wie bringt man sich wieder mental in Form?
Nach dem Bemerken solcher Fehler ist es sowohl während als auch nach der Partie hilfreich, seine Gefühle zunächst einmal raus zu lassen, sich abzureagieren, es abzuhaken, wieder seine Mitte zu finden – etwa mithilfe tiefer Atemzüge – und nach vorne zu schauen. Je mehr Zeit wir dafür zur Verfügung haben, umso leichter gelingt das.

Grundsätzlich ist es wichtig, dabei die Selbstachtung zu erhalten und sich nicht selbst zu beschimpfen, sondern freundlich mit sich umzugehen. Ein psychisches oder physisches Abreagieren erfolgt am besten durch körperliche Aktivität. Während einer Schachpartie ist das leider selten möglich, Man kann sich stattdessen psychisch abreagieren: Überlegen Sie sich vorher in Ruhe, was Ihnen in so einer Situation am meisten helfen würde, um dem Ärger Luft zu machen und machen Sie das nun in Ihrer Vorstellung. Visualisieren Sie das Schreien oder den Fußkick möglichst lebendig. Sie werden sehen: Die Wirkung ist fast die Gleiche! Anschließend tut es gut, sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren, kurz abzuschalten und in sich zu gehen. Wieder positiv in die Zukunft zu blicken, hilft dabei, dass der nächste Schritt erfolgreich ist. Der Fehler lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn wir uns auf die aktuelle Partie- oder Turniersituation konzentrieren, lassen sich dadurch weitere Fehler vermeiden. Carlsens Stellung war auch nach Lf7+ noch gewonnen, allerdings nicht mehr so einfach. Erst durch weitere Ungenauigkeiten hat er die Stellung ins Remis verdorben.

Carlsen ist das in Runde 8 gegen Richard Rapport wohl nicht geglückt. Er versuchte es mit der Brechstange und wurde mit einer bitteren Niederlage bestraft. Was rät der Mentalcoach?
Wie ich schon gesagt habe: Ärger rauslassen und die Sache abhaken. Frust und Wut über den eigenen Fehler tragen in den wenigsten Fällen zu guten Entscheidungen in der Zukunft bei. Wie man das am besten macht, ist individuell sehr unterschiedlich.

Anish Giri hat das dreizügige Matt in der oben erwähnten Partie auch nicht gesehen, aber erlaubte sich in einem kurzen Interview nach der Partie eine Spitze gegen Magnus Carlsen. Er sprach vom „most embarrassing moment“ in Carlsens Karriere und meinte, Carlsen tue ihm leid – wobei nicht ganz klar war, wie ernst man diese Beileidsbekundungen nehmen konnte. Wie geht man mit solchen Sticheleien der Konkurrenz um?

Anna Rudolf interviewt Anish Giri nach seiner Partie gegen Carlsen

Das ist wohl Giris Methode, mit so einer Situation umzugehen. Denn letztendlich hat er den gleichen Fehler gemacht, der Carlsen die Möglichkeit gab, ihn in drei Zügen Matt zu setzen. Indem er auf Carlsens Schwächen verweist, lenkt er von den eigenen ab und macht sich stärker. Ob er sich damit einen Gefallen tut, ist fraglich, denn erstens ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass er das umgekehrt auch einmal von Carlsen zu hören bekommen wird und zweitens ist es wichtig, für solche Fehler – egal ob sie Konsequenzen haben oder nicht – die volle Verantwortung zu übernehmen. Man muss sich bewusst machen, dass man zwar das Möglichste tun sollte, um solche Fehler zu vermeiden, dass man es aber nie ganz ausschließen kann.

In einem Interview mit Anatol Vitouch nach der Schach-WM 2016 in New York, das in der Zeitung „Der Standard“ erschien, gestand Carlsen, dass er bei der WM seine Emotionen nicht immer unter Kontrolle hatte. Er verriet auch, dass er überlegt, mit einem Sportpsychologen zusammenzuarbeiten. Was würden Sie Carlsen raten?
Magnus Carlsen ist erfolgsverwöhnt. Der gute Umgang mit Niederlagen gehört zu einer langen erfolgreichen Karriere dazu. Ich denke, es wäre nach den Reaktionen von Carlsen in New York wie auch bei der Siegerehrung der Blitz-WM in Doha eine Bereicherung für ihn, einen Mentalcoach oder Sportpsychologen hinzuzuziehen. Mittels Ferndiagnose ist es nicht möglich, individuelle und konkrete Ratschläge zu erteilen, wenn man ihn ernsthaft unterstützen will.

Magnus Carlsen verlässt die Pressekonferenz nach seiner Niederlage in Partie 8
des WM-Kampfs gegen Sergey Karjakin in New York 2016 (Kommentar: Judit Polgar)

Magnus Carlsen bei der Siegerehrung nach der Blitz-Weltmeisterschaft in Doha 2016

Was sagen Sie zum Verlauf der Schach-WM in New York? Warum, glauben Sie, hat Carlsen seine Chancen in Partie 3 und 4 nicht genutzt, warum hat er in Partie 8 ohne Rücksicht auf Verluste auf Gewinn gespielt und wieso hat Sergey Karjakin in Partie 10 die Möglichkeit übersehen, mit Schwarz Remis zu erzwingen?
Magnus Carlsen neigt immer wieder dazu, seine eigene Position zu überschätzen wie auch seine Gegner zu unterschätzen. Das hat Vor- aber auch Nachteile. Und Sergey Karjakin ist einer der besten Verteidiger schlechter Stellungen. Diese Kombination führte wahrscheinlich dazu, dass Carlsen gute Stellungen nicht verwerten konnte und Karjakin im WM-Kampf lange vergessen hat, dass er auch auf Gewinn spielen könnte. Je länger der WM-Kampf dauerte desto weniger glaubte Carlsen, verlieren zu können und er dachte, er spielt immer nur auf zwei Resultate. Daher überzog er seine Stellungen immer mehr, was letztlich zum Verlust in der 8. Partie führte. Karjakin glaubte möglicherweise anschließend noch immer nicht daran, den WM-Kampf gewinnen zu können und gab dadurch Carlsen die Möglichkeit, zurückzuschlagen.

Im Tennis, in der Leichtathletik, im Fußball und in vielen anderen Sportarten arbeiten Spitzenspieler schon lange mit Psychologen und Mentaltrainern, im Schach ist das meines Wissens nach eher selten. Warum?
Ich denke, es arbeiten mehr Spitzenschachspieler als bekannt ist mit Psychologen und Mentaltrainern. Allerdings wird das in Einzelwettkampfsportarten seltener öffentlich bekannt gemacht. Ich arbeite regelmäßig mit deutschen und österreichischen Spitzenspielern und wir erzielen gute Erfolge, die sich direkt in Resultaten widerspiegeln.

Was kann mentales Training bewirken – verliere ich nicht sowieso, wenn ich schlechter bin?
Wenn jemand nicht gut Schach spielt, wird ihm auch seine mentale Stärke nicht helfen, zu gewinnen. Allerdings: Bei relativ gleich starken Gegnern ist es sehr hilfreich, zusätzliche Fähigkeiten abrufen zu können, das kann dann entscheidend sein. Meine Definition von mentaler Stärke ist: Seine eigenen Gedanken so zu gestalten, dass sie einem nützlich sind, sodass man sein volles Potenzial entfalten kann.

Ist mentales Training auch etwas für Amateure oder hilft es nur Spitzenspielern?
Die wenigsten erfolgreichen Tennisspieler werfen jedes Mal, nachdem sie einen Ball ins Netz geschlagen haben, den Schläger vor Wut in die Luft. Das hat etwas mit mentaler Stärke zu tun. Es gibt aber Amateure, die genau das machen und so tun, als wäre jeder Fehler der erste in ihrer gesamten Tennislaufbahn. Gerade diese Menschen würden sich einen Gefallen tun, an ihren mentalen Fähigkeiten zu arbeiten, denn das Hobby soll Spaß machen und es sollte einem nicht jeder Fehler den Abend versauen und womöglich auch noch die Nachtruhe rauben. Das gleiche gilt für Schachspieler.

Welche drei Tipps würden Sie einem Amateur geben, der Sie um Hilfe fragt?
Es gibt interessante Bücher zu dem Thema, und natürlich meine DVD (lächelt). Irgendwelche Tipps wären zu allgemein, sodass sie für den einen eher nützlich und für den anderen eher hinderlich wären. Einen Tipp kann ich jedem guten Gewissens geben: Bewahren Sie sich die Freude am Schachspielen und genießen Sie Ihr Hobby.


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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