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Vor der vierten Runde des Sinquefield Cups im Saint Louis Chess Center sorgte Magnus Carlsen mit seinem Tweet, in dem er seinen Rückzug vom Turnier erklärte, für einen Skandal.
Carlsen hat keine Begründung für seinen Rückzug angegeben, für die Kommentatoren außerhalb des Turniers, darunter Hikaru Nakamura, war aber klar, dass dahinter Carlsens Vermutung oder Überzeugung stand, Hans Niemann würde mit unlauteren Mitteln, das heißt mit Computerhilfe spielen. In den ersten beiden Runden des Turniers hatte Niemann sehr stark gespielt. Levon Aronian war mit einem Remis davon gekommen, Shakhriyar Mamedyarov hatte gegen Niemann verloren. In der dritten Runde war Magnus Carlsen dann gegen Niemann ohne Chance auf einen Sieg. Im besten Fall hätte der Weltmeister ein Remis erreichen können, nutzte seine Chance in Zeitnot aber nicht.
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Carlsens Rückzug und die damit verbundenen Beschuldigungen gegen Hans Niemann lösten eine gewaltige Diskussion auf allen Kanälen aus und sorgten zudem für ein gewaltiges Medienecho, mit teilweise grotesken Vermutungen über die verwendete Technik.
Noch während des laufenden Turniers hatte Hans Niemann in einem lebhaften Interview alle Beschuldigungen zurückgewiesen. Einige Spieler äußerten sich, manche mit sehr sorgfältig gewählten Formulierungen. Ein Videoüberblick über die Ereignisse...
Auch die Plattform chess.com meldete sich mit einer Erklärung zu Wort und widersprach der Darstellung Niemanns, der zugegeben hatte, dort zweimal unerlaubt mit Computerhilfe gespielt zu haben. Das Ausmaß von Niemanns Computer-Cheating sei größer gewesen als zugegeben, so Chess.com.
Die Organisatoren im Saint Louis Chess Club hatten ab der vierten Runde bei den Spielern einen Scan auf Elektronik durchgeführt und die Partien nur noch mit einer Verzögerung von 15 Minuten übertragen.
Der ukrainische FM Andrii Punin unterzog Niemanns Partien bei verschiedenen Turnieren einer Kontrolle und fand hohe Übereinstimmungen mit den jeweils aktuellen Topengines. Die Ergebnisse seiner Überprüfung hat er in einigen Videos auf seinem Youtube-Kanal dargestellt.
Auf Twitter wurde eine Übersicht von Niemanns Turnierergebnissen im Jahr 2020 veröffentlicht, die nahelegte, dass er immer dann gute Resultate erzielte, wenn die Partien übertragen wurde, schlechte Resultate, wenn die Partien nicht übertragen wurden.
Hans Niemann's results in the US in 2019-2020 before going to Europe. There have been talks (including Punin's recent video) about Hans performing much better when there are live DGT games. The data is below - draw your own conclusions! pic.twitter.com/4jrQjRziUE
— Atlanta Kings (@ATL_kings) September 10, 2022
Beide Untersuchungsergebnisse wurden von Kritikern in Frage gestellt. Wir haben die Ergebnisse der Untersuchungen nicht nachgeprüft und können das nicht beurteilen.
In der aktuellen Ausgabe von Schach wird von der Schacholympiade in Indien berichtet, die im Juli, also vor dem Sinquefield Cup stattfand. Auch dort war die Möglichkeit von computerunterstütztem Betrug ein Thema und zur Abwehr wurden beim Einlass an den Spielern Ohrenscans vorgenommen, was bei einigen Spielern auf Widerstand stieß, nicht etwa weil sie Betrug im Sinn hatten, sondern weil sie sich bedrängt fühlten. Die Zeitschrift Schach verweist auf einen Vorfall bei einem Turnier in Indien, wo ein Spieler mit Hilfe eines Minihörers im Ohr Züge von einem Freund, der an einem Computer saß, übermittelt bekam. Die Geschichte passierte schon 2015...
Damals benötigte der überführte Betrüger noch ein Smartphone als Zusatzgerät. Heutzutage findet man im einschlägigen Handel viele handlichere Komplettsysteme.
Es nützt übrigens nichts, wenn man nur vor Beginn der Partie einen Elektroscan durchführt. Ohnehin ist es eine Frage, wie empfindlich diese Geräte sind. Aber der Cheater kann sich sein Hilfsgerät auch jederzeit später abholen und an seinem Körper und in seinem Ohr installieren. Man müsste als Organisator den Scan also öfters während der Runde wiederholen, was für die Konzentration der Spieler sicher nicht förderlich ist.
Es gibt auch Cheating-Techniken, bei denen man keinen Funkempfänger am Körper tragen muss. Die klassische Methode war der häufige Toilettengang, der aber etwas auffällig ist. Eine andere Methode ist die Zusammenarbeit mit einem Helfer, der die Computervorschläge ermittelt oder empfängt und per Zeichen an den Spieler weitergibt, so wie es vor zehn Jahren praktiziert wurde.
Anders als der "dumme" Cheater spielt der "schlaue" Cheater natürlich nicht immer den besten Zugvorschlag einer bestimmten Engine und ist deshalb durch den Vergleich seiner Züge mit den Zügen dieser Engine nicht zu entdecken. Man kann vermutlich auch mit dem viert-oder fünftbesten Zug - zwischendurch kann man ja auch wechseln - einer beliebigen Engine sehr gut auf Topniveau mithalten. Und natürlich muss man für ein gutes Ergebnis nicht jede Partie optimal spielen und kann auch mal eine Partie verlieren, einfach um ein paar Nebelkerzen zu werfen. Alle Argumente, wie "er hat aber Fehler gemacht" sind also mitnichten stichhaltig. Womit aber in der aktuellen Diskussion keine Stellungnahme gemacht werden soll.
Auch das Argument "Der Gegner hat schlecht gespielt" zündet überhaupt nicht. Gegen eine Engine sehen alle Spieler schlecht aus, weil einfach nichts klappt, womit man den Maschinengegner unter Druck setzten will.
Wenn man über eine Lösung nachdenken möchte, ohne alle Turnierräume elektronisch abzuschotten, gibt es vielleicht nur eine: Die Organisatoren müssen auf die Live-Übertragungen verzichten. Sie können sich ja auf die Video-Kommentierung mit ausgewählten Partien beschränken und so den Zuschauern draußen auch einiges bieten.
Doch zurück zu der aktuellen Diskussion: In einem längeren Beitrag über die neuesten Entwicklungen zitiert Sport1 den norwegischen IM Atle Grønn, der sich gegenüber dem norwegischen Dagbladet zu den Analysen von Andrii Punin geäußert hat:
"Niemann habe in den fraglichen Partien Zug nach Zug nach Zug genau so gespielt, wie es der zu diesem Zeitpunkt stärkste Schach-Computer auch getan hätte. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist Null", sagte Grønn gegenüber der Zeitung "Dagbladet". Ob dies ein Beweis für Betrug sei, wisse er allerdings nicht, aber: "Aus Schach-Perspektive ist es nicht möglich, so zu spielen."
"Doch so sehr sich der Verdacht gegen Hans Niemann auch erhärtet: Einen konkreten Beweis für einen Betrug des 19-jährige US-Amerikaners gibt es nach wie vor nicht", heißt es bei Sport1 im Resümee.
Ab Sonntag spielen Magnus Carlsen und Hans Niemann überraschenderweise doch wieder im selben Turnier, in einem Online-Schnellschachturnier, dem Julius Bär Generation Cup. Tatsächlich hat sich Hans Niemann für dieses Turnier dadurch automatisch qualifiziert, weil er im vorherigen Turnier unter den ersten Acht war. Turnierdirektor Arne Horvei betonte, dass man die Regeln der Turnierserie einhalten wolle.
"Die Organisatoren der Turnierserie haben mehrere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die Möglichkeit des Betrugs der Athleten minimiert wird. Unter anderem teilen sich alle Spieler während der Spiele den Bildschirm, sie haben eine Schiedsrichterkamera, die während des Spiels den Raum filmt, und sie müssen alleine im Raum sein und ein Mikrofon tragen. Darüber hinaus überwachen Schiedsrichter die Spiele digital und die Athleten müssen vor dem Spiel und möglicherweise auch danach ihre Ohren in die Kamera halten" heißt es in einem Artikel von Dagbladet.
"Wir haben mit Magnus genauso gesprochen wie mit all unseren Spielern. Magnus wird spielen", versicherte Arne Horvei.
Der norwegische Schachexperte Torstein Bae, mit dem Dagbladet ebenfalls gesprochen hat, meinte: "Wir gehen davon aus, dass Magnus Niemann für einen Betrüger hält. Dass er sich dann wieder mit ihm zusammensetzt, ist eine ganz besondere Situation. Es könnte natürlich etwas geben, das den Fall weiterführt."