An die Chessbase.de Redaktion
Mit einigem Entsetzen habe ich Ihren Bericht "Kleiner Streifzug durch die
jüngere Schachgeschichte" gelesen. Erneut wird Ihrerseits klischeehaft die Rolle
Wladimir Kramniks im Zusammenhang mit der Situation rund um die Schach-WM
"gepflegt". Einige Ihrer Behauptungen entsprechend nicht den Fakten. Das daraus
resultierende Bild Kramniks in der Öffentlichkeit befindet sich nicht im
Einklang mit der Realität. So wird behauptet: "Solange die Überfigur Kasparov
seine Version des Titels noch innehatte, waren die Folgen der Teilung vielleicht
noch erträglich, aber seitdem er seinen Titel 2000 an Kramnik verlor, hat sich
der Zustand verschlechtert. Kasparov verspürte noch eine gewisse Verpflichtung
zur Verteidigung seines Titels und kümmerte sich selbst - mehr oder weniger
erfolgreich - um Gegner. Sein Nachfolger Kramnik lässt die Dinge auf sich
zukommen und hat in der Vergangenheit betont, dass er Spieler und kein
Organisator ist."
Die Behauptung, der Zustand habe sich mit Kramniks WM-Sieg über Kasparow
verschlechtert ist ebenso unhaltbar wie die Feststellung, dass Wladimir Kramnik
sich nicht um die Verteidigung seines Titels kümmere. Richtig ist, dass sich
Kramnik nach dem Titelgewinn 2000 intensiv um die Titelverteidigung gekümmert
hat. Immerhin hat im Jahre 2002 ein Kandidatenturnier stattgefunden und
Weltmeister Kramnik ist 2004 bekanntlich gegen den Sieger Peter Leko angetreten.
Dies geschah ein Jahr später als geplant. Die Verzögerung kann in keiner Weise
Kramnik angelastet werden - im Gegenteil: Sie ist einzig und allein der
Nichteinhaltung von Verpflichtungen des vorherigen Rechteinhabers an der WM
geschuldet. Wladimir Kramnik hat sich entgegen Ihrer Behauptung in den
Akquisitionsprozess intensiv eingebracht und an wichtigen Gesprächen
teilgenommen. Ohne sein Engagement wäre die Realisierung des Kramnik-Leko
WM-Kampfes nicht möglich gewesen. Von "Kramnik lässt die Dinge auf sich
zukommen" kann also gar keine Rede sein. Völlig unverständlich ist in diesem
Zusammenhang der Vergleich zu seinem Vorgänger. Ich erinnere an dieser Stelle
nur daran, dass dieser zwischen 1995 und 2000 - also 5 Jahre - nicht verteidigt
hat. Die Ableitung, dass Kasparow sich gekümmert habe und Kramnik die Dinge auf
sich zukommen lasse ist eine dreiste Verkehrung der Realität.
"Der Status des neuen FIDE-Weltmeisters und seine Anerkennung in der
Schachszene wird gewiss höher sein, als das in der jüngeren Vergangenheit der
Fall war. Das bringt den "Weltmeister im klassischen Schach" Vladimir Kramnik in
Zugzwang. Kramnik hat seit seinem Titelgewinn in London 2000 klar erkennbar an
Ehrgeiz verloren seine Fans als Schachweltmeister wenig überzeugen können. Durch
seine pragmatische Einstellung auf den Turnieren mit vielen Kurzremisen hat er
viel Kredit verspielt. Die Schachfreunde spüren, dass er keine rechte Freude
mehr am Schach hat. Auch den Titelkampf gegen Peter Leko konnte er nur gerade
eben so remis gestalten und behielt den Titel nur aufgrund der Regel, dass der
Titelinhaber bei Unentschieden Weltmeister bleibt."
Hierzu folgende Anmerkungen:
1) Ich kann jedenfalls nicht bestätigen, dass Wladimir Kramnik die Lust am
Schach verloren habe. Den Zusatz, dass die Schachfreunde dieses spürten halte
ich für eine journalistisch fragwürdige Suggestion, die die beabsichtigte
Tendenz Ihres Berichts entlarvt.
2) Wo bitte ist der statistische Beweis, dass Kramnik in Turnieren im
durchschnittlichem Vergleich zu allen anderen Topspielern mehr Kurzremisen
gespielt hat? Falsche Behauptungen werden auch durch fortwährende Wiederholungen
nicht richtiger. Kramnik hat nach dem WM-Kampf mit Peter Leko sicherlich nicht
in Bestform gespielt und musste dabei einige gesundheitliche Probleme meistern.
Jedoch bezeugen die von ihm in 2005 gespielten Turniere (Wijk aan Zee, Monaco,
Französische Meisterschaft, Sofia, Dortmund) genau das Gegenteil eines Spielers,
der auf Kurzremisen aus ist.
3) Die abfällige Bemerkung "Auch den Titelkampf gegen Peter Leko konnte er
nur gerade eben so remis gestalten" grenzt an Respektlosigkeit nicht nur
gegenüber Kramnik sondern auch gegenüber Peter Leko. Es ist sicher keine Schande
einen Wettkampf gegen Peter Leko auszugleichen. Möglicherweise ist Ihnen
entgangen, dass Peter Leko (seit 6 Jahren ununterbrochen in den Top Ten und
einer der führenden internationalen Großmeister) bei seinen direkten
Konkurrenten gleichermaßen als WM-Anwärter und als einer der stärksten
Matchspieler unserer Zeit hohe Anerkennung genießt.
"Ob die FIDE tatsächlich einen Neustart schafft, hängt aber davon ab, wie es
nach dem WM-Turnier weiter geht. Der entscheidende Punkt ist ein überzeugender
regelmäßiger Zyklus mit unveränderten Regeln. Darüber wurde in Prag damals keine
Vereinbarung getroffen. Und darüber liegt auch jetzt keine gesicherten
Informationen vor."
Die Behauptung, dass in Prag keine Vereinbarung über einen regelmäßigen
WM-Zyklus getroffen wurde ist falsch. Ich empfehle dem Autor dringend die
vollständige Prager Vereinbarung zu lesen. Dort wurde nämlich in der Tat ein
künftiger WM-Zyklus nach dem Vereinigungskampf vereinbart. Falls die Prager
Vereinbarungen tatsächlich zum Wohle der professionellen Schachwelt umgesetzt
würden, wäre eine solche Entwicklung sicherlich nicht zuletzt auch Wladimir
Kramnik zu verdanken.
Mit freundlichen Grüßen
Carsten Hensel
(Manager von Wladimir Kramnik, Schach-Weltmeister)