Was ist: "reziproker Zugzwang"

von ChessBase
23.05.2023 – In der Endspieltheorie gibt es viele Fachbegriffe, die einer Erläuterung bedürfen. Was ist zum Beispiel "reziproker Zugzwang"? Karsten Müller hat den Begriff kürzlich verwendet. In einem Leserbrief formuliert Robert eine andere Auffassung über den richtigen Gebrauch.

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Dr. Robert Hübner:

Lieber Karsten!

Auf der Nachrichtenseite von ChessBase vom 16. Mai 2023 sah ich einen Beitrag von Dir. Es handelt sich um die Stellung: Weiß: Kg7, B. e7, h4, h6; Schwarz: Ke8, Lg6; B. h7 (Weiß am Zuge; aus der Partie N. Guliyev-D. Kollars, Vrnjacka Banja 2023).

Deine Ausführungen gaben mir zu Überlegungen über die gebrauchte Terminologie Anlaß.

Die Definition von Zugzwang lautet: Ein Spieler ist dann in Zugzwang, wenn er sich durch die Pflicht zu ziehen verlustbringenden Schaden zufügen muß; während er keinen Schaden erlitte, wenn er auf das Zugrecht verzichten könnte.

Reziproker Zugzwang liegt also in folgender Stellung vor: Weiß: Kd5, B.e4; Schwarz: Kf4; B.e5. Wer am Zuge ist, verliert.

Dagegen liegt in der oben wiedergegebenen Stellung kein reziproker Zugzwang vor; Schwarz kann überhaupt nicht verlieren. In Wirklichkeit oszilliert die Stellung in der Analyse zwischen solchen, in denen Weiß in Zugzwang ist oder kommt und solchen, in denen dies nicht der Fall ist.

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, gebraucht auch Timman (und andere) die Terminologie in der gleichen Weise wie Du. Der Nachteil davon ist, daß man für das Phänomen in dem oben angeführten Bauernendspiel keinen angemessenen Ausdruck mehr hat. Mir scheint auch, daß dieser Sprachgebrauch auf einer irrtümlichen Auffassung von der Bedeutung des Wortes "reziprok" beruht.
 

Dr. Karsten Müller:

Lieber Robert!

Vielen Dank! Du hast in der Tat einen wunden Punkt erwischt. Auf Englisch schlägt John Nunn "full point reciprocal zugzwang" für das von Dir zitierte Bauernendspiel vor.

Auf Deutsch ist das nicht leicht zu übersetzen. Vielleicht ist auch wechselseitiger Zugzwang besser. Ich habe mich da der "allgemeinen Verwendung" des Wortes Zugzwang von zum Beispiel Timman, Nunn und Dvoretsky angeschlossen. Der Schaden durch die Zugpflicht muss also nicht verlustbringend sein.

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"reziprok"

Das Adjektiv reziprok bedeutet „wechselseitig“ oder „gegenseitig“.

Als reziprok können wechselseitige, gegenseitige oder aufeinander bezügliche Sequenzen bzw. Abläufe beschrieben werden. Auch Sachverhalte oder Verhältnisse können reziprok sein.

Die Herkunft des Begriffs liegt im lateinischen reciprocus (auf demselben Weg zurückkehrend).

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