In einem Interview wurde Matthias Blübaum kürzlich gefragt, ob er nach seiner Qualifikation für das Kandidatenturnier 2026 nicht doch heimlich von einem Kampf gegen Weltmeister Gukesh träumen würde. Blübaum meinte, er sei zwar Außenseiter, aber im Kandidatenturnier zähle nur der Sieg – womit er die Frage indirekt mit "Ja" beantwortet hat. Das wäre allerdings eine noch größere Sensation als Blübaums Qualifikation für das Kandidatenturnier, denn nach dem Zweiten Weltkrieg hat es bislang kein einziger Deutscher geschafft, sich für einen Weltmeisterschaftskampf zu qualifizieren. Ja, nach 1945 haben sich vor Blübaum überhaupt nur zwei Deutsche – Robert Hübner und Wolfgang Uhlmann – für das Kandidatenturnier qualifiziert.
Erst 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es überhaupt wieder einem deutschen Spieler, einen amtierenden Weltmeister zu besiegen. Der erste, der dieses Kunststück vollbrachte, war Wolfgang Unzicker: Er kam 1961 bei der Mannschaftseuropameisterschaft in Oberhausen gegen Weltmeister Mikhail Botvinnik zu einem verdienten Sieg.
Unzicker, der am 26. Juni 1925 in Pirmasens geboren wurde, war von Anfang der 50er bis Ende der 60er Jahre die klare Nummer 1 der Bundesrepublik Deutschland und gehörte lange Zeit zu den besten 20 Spielern der Welt. Im Laufe seiner Karriere konnte er eine Reihe starker internationaler Turniere gewinnen und wurde sechs Mal Deutscher Meister. 386 Mal spielte er für die Nationalmannschaft, mehr als jeder andere deutsche Spieler.
Dabei war Unzicker Zeit seines Lebens Amateur, von Beruf war er Jurist: Er hatte in München nach dem Krieg Jura studiert und danach als Regierungsbeamter in Oberbayern gearbeitet, bis er 1971 Richter wurde.
Die Elo-Zahlen führte die FIDE erst 1970 offiziell ein, aber in der von Jeff Sonas nachträglich berechneten Weltrangliste vom Juni 1961 lag Unzicker mit einer Zahl von 2664 bei Beginn der Mannschaftseuropameisterschaft auf Rang 19. Botvinnik (17. August 1911 bis 5. Mai 1995) lag in dieser Rangliste mit einer Zahl von 2772 Punkten hinter Tigran Petrosian und Mihail Tal auf Rang 3.
Doch auch ohne diese Zahlen galt Botvinnik in der Partie gegen Unzicker als Favorit, denn kurz vor der Mannschaftseuropameisterschaft in Oberhausen hatte er im Mai 1961 seinen Revanche-WM-Kampf gegen Mihail Tal klar gewonnen und sich den Weltmeistertitel zurückerobert, den er 1960 gegen Tal verloren hatte.
Aber Weltmeister oder nicht – in Oberhausen überspielte Unzicker Botvinnik aus der Eröffnung heraus strategisch überzeugend.

Botvinnik (links, mit Weiß) und Unzicker bei ihrer zweiten Partie in Oberhausen. Die gewann Botvinnik.
Solche Partien laden zu überschwänglichen Kommentaren ein. So schreiben Silbermann und Unzicker in ihrem Buch Geschichte des Schachs: "Nach dieser Niederlage verzichtete Botwinnik, wie Rudolf Teschner bemerkt, endgültig auf die Französische Verteidigung, die er viele Jahre lang bevorzugt hatte." (Dr. Jacob Silbermann, Wolfgang Unzicker, Geschichte des Schachs, Bertelsmann 1975, S.78.)
Ein Blick in die ChessBase Mega-Datenbank verrät jedoch, dass diese schwungvolle und plausible Behauptung nicht stimmt. Denn trotz der Niederlage gegen Unzicker hielt Botvinnik der Französischen Verteidigung weiter die Treue – zum Beispiel gelang ihm Ende 1961 in Hastings damit ein hübscher Sieg gegen Leonard Barden.

Mikhail Botvinnik bei der Schacholympiade 1960 in Leipzig | Foto: Turnierbuch
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Die Mannschaftseuropameisterschaft 1961
Die Niederlage Botvinniks änderte allerdings nichts an dem klaren Sieg der Sowjetunion bei der Mannschaftseuropameisterschaft – und Botvinnik erzielte mit 6,5 aus 9 das beste Ergebnis am 1. Brett. Das Turnier fand vom 20. Juni bis 2. Juli 1961 in Oberhausen statt, Organisator war der spätere DSB-Präsident Alfred Schlya und es war die zweite Mannschaftseuropameisterschaft überhaupt. Die erste hatte vier Jahre zuvor, 1957, in Baden bei Wien stattgefunden. In Oberhausen traten sechs Mannschaften mit je zehn Spielern doppelrundig gegeneinander an, am Ende zählten die Brettpunkte.
Die sowjetische Mannschaft dominierte die Europameisterschaft von Beginn an: Sie gewann alle ihre zehn Kämpfe und hatte am Ende ganze 16 Brettpunkte Vorsprung vor den zweitplatzierten Jugoslawen.
Quelle: Wikipedia
Unzicker war mit 6 aus 9 der zweitbeste Spieler an Brett 1 und konnte gegen den Weltmeister gewinnen, aber davon abgesehen gelang der deutschen Mannschaft nicht viel: Die Deutschen verloren neun Kämpfe und kamen nur gegen die Mannschaft der Tschechoslowakei zu einem Unentschieden. Damit landeten sie mit 37,5 Brettpunkten auf dem neunten und vorletzten Platz, knapp vor Spanien, das auf 35,5 Brettpunkte kam, aber drei seiner Kämpfe gewinnen konnte. Hätte man, wie heute üblich, erst Mannschafts- und dann Brettpunkte gezählt, wäre Deutschland Zehnter und Letzter geworden.
Erfolgreichster Punktesammler der Europameisterschaft war Viktor Kortschnoi, der für die Sowjetunion am 6. Brett 8,5 Punkte aus 9 Partien holte.

Viktor Kortschnoi bei der Schacholympiade 1960 | Foto: Turnierbuch
Für Unzicker blieb es der einzige Sieg gegen Botvinnik. Insgesamt trafen die beiden sechs Mal aufeinander, drei dieser Partien endeten Unentschieden, zwei gewann Botvinnik, eine Unzicker – aber weil Siege gegen amtierende Weltmeister so selten sind, ist sie die berühmteste.
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