Das Spielertypen Standardmodell - Zur Selbstanalyse und Vorbereitung auf Gegner
Spielstile im Schach sind ein wichtiges und entsprechend oft diskutiertes Thema. GM Dr. Karsten Müller und GM Luis Engel greifen ein auf 4 Spielertypen beruhendes Modell von GM Lars Bo Hansen auf – und zwar ‘Aktivspieler’, ‘Pragmatiker’, ‘Theoretiker’ und
Von Harry Schaack
Was nutzt die beste Stellung, wenn man sie nicht spielen kann? Schach hat immer etwas mit dem Charakter zu tun. Den einzig richtigen Zug gibt es oft nicht. Welchen man wählt, hängt vom persönlichen Geschmack ab.
Im letzten Jahr haben Karsten Müller und Luis Engel bei ChessBase die DVD Das Spielertypen-Standardmodell veröffentlicht, das schon 2020 als Buch im Joachim Beyer Verlag erschienen ist. Die beiden deutschen Großmeister rekurrieren dabei auf das von Lars Bo Hansen vorgeschlagene Viertypenmodell.
Es ist für jeden Spieler wichtig, seine eigenen Stärken und Schwächen möglichst früh herauszufinden, um darauf ein entsprechendes Eröffnungsrepertoire aufzubauen und an seinen Schwächen zu arbeiten. Aber auch bei der Vorbereitung auf einen Gegner ist es wesentlich, Stellungen anzustreben, die ihm wenig liegen.
Das Modell betrachtet nur zwei Achsen: die eine besteht aus Intuition und Logik, die andere aus Fakten und allgemeinen Konzepten. Daraus ergeben sich die vier Typen, die in der Realität natürlich nicht so scharf abzugrenzen sind: der Aktivspieler, der Pragmatiker, der Reflektor und der Theoretiker.
Zu den Aktivspielern zählen Aljechin, Spasski, Kasparow, Anand, Schirow, Topalow, Morosewitsch, Judit Polgar, Larsen. Tal und Neschmetdinow werden gar als Hyperaktivspieler klassifiziert. Aktivspieler haben sehr ausgeprägte Schwächen. Sie streben nach aktivem Spiel auch da, wo Zurückhaltung angebracht wäre, weshalb sie zu verpflichtenden Bauernzügen neigen. Sie haben ein ausgeprägtes Gefühl für Initiative und Dynamik und sind bereit, große positionelle und materielle Zugeständnisse zu machen, weil sie ein gutes Gespür für Kompensationsfaktoren haben. Ihnen mangelt es an Objektivität, oft sind sie zu optimistisch. Aktivspieler müssen daran arbeiten, pragmatischer zu werden. Man sollte den Aktivspieler in eine leicht schlechtere Stellung mit statischen Schwächen drängen und mit aktiver Prophylaxe das Gegenspiel unterbinden.
Theoretiker, die man vielleicht besser als Dogmatiker bezeichnet, sind Steinitz, Botwinnik, Tarrasch, Nimzowitsch, Leko, Giri und auch der frühe Kramnik. Sie haben ein gut ausgebautes, oft aber etwas enges Eröffnungsrepertoire, das sie extrem gut kennen. Ihr Spiel ist logisch und stringent, oft kann man einen roten Faden von Anfang bis Ende erkennen. In ihren Eröffnungen prägen Bauernstrukturen langanhaltend das Spielgeschehen. Eine gute Bauernführung und Kontrolle führen oft zu einem Spiel auf zwei Ergebnisse. Theoretiker haben eine sehr gute Technik, um mit risikoarmem Spiel kleinste Vorteile zu realisieren. Sie sind stark in strategischen Endspielen mit klaren Merkmalen, in der Anwendung von Regeln. Zu ihren Schwächen zählen ihr Dogmatismus, weil sie oft an Prinzipien festhalten, auch wenn sie nicht passen.
Die Bezeichnung Reflektor ist etwas unglücklich. Darunter verstehen die Autoren intuitive Spieler wie Capablanca, Smyslow, Petrosjan, Karpow, Carlsen, Keymer, aber auch Alpha Zero, weil das Programm oft langfristige Pläne realisiert. Es ist kein besonders häufiger Spielertyp, der aber für alle anderen sehr unangenehm ist. Er zeichnet sich durch schwer erlernbare Fähigkeiten aus: ein tiefes strategisches Verständnis und intuitives Wissen um Harmonie und Koordination. Diese Spieler berechnen relativ wenige Varianten, was auch ihre Schwäche ist, weil in scharfen, konkreten Stellungen Intuition nicht ausreicht. Sie finden häufiger kontraintuitive Züge und Pläne als andere. Bei ihren ruhigen Systemen kommt es auf das Spielverständnis an. Im Gegensatz zu Aktivspielern opfern sie nicht für Königsangriff, sondern für positionelle Vorteile und langfristige Kompensation.
Zu den Pragmatikern, die sich vor allem auf konkrete Variantenberechnungen verlassen, gehören Fischer, Lasker, Euwe, Kortschnoi, Caruana, Vachier-Lagrave, Karjakin und Alpha-Beta-Engines (wie Stockfish). Im Vergleich zu den anderen Typen sind sie am ausgewogendsten. Ihnen unterlaufen selten grobe taktische Fehler und sie haben meist eine gute Zeiteinteilung. In der Verteidigung sind sie gut, solange sie die Varianten konkret berechnen können. Sie nehmen gerne Material, selbst wenn es die Initiative kostet. Schwächen treten zu Tage, sobald man mit Variantenberechnung nicht zum Ziel kommt, insbesondere wenn es um langfristige Pläne und strategische Fragen geht. Gegen Pragmatiker sollte man ruhige, technische Stellungen anstreben.
Welcher Typ Sie sind, hängt von Ihrem Charakter ab. Sich mit Spielertypen zu beschäftigen ist nicht nur nützlich, sondern macht auch Spaß!
Luis Engel und Karsten Müller, Das Spielertypen Standardmodell, 29,90 Euro