Spielertypen - Ein Interview mit Karsten Müller

von Johannes Fischer
24.10.2021 – Wer bin ich? Taktiker oder Positionsspieler? Angreifer oder Verteidiger? Sollte ich 1.d4 oder 1.e4 spielen? Sizilianisch oder Russisch? Wer seine Stärken und Schwächen kennt, der macht mehr Punkte und ist erfolgreicher. In ihrem Buch "Spielertypen" sind Karsten Müller und Luis Engel dem Phänomen des Spielstils genauer nachgegangen und in einem ausführlichen Interview verrät Karsten Müller ein paar Dinge, die sie entdeckt haben.

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Johannes Fischer: Hallo Karsten, du hast vor kurzem zusammen mit Luis Engel ein Buch über Spielertypen veröffentlicht, in dem ihr berühmte Schachspieler bestimmten Spielertypen zuordnet. Wann und warum hattet ihr die Idee zu diesem Buch und wie sah die Zusammenarbeit aus?

Karsten Müller: Während der Pandemie konnten wir nicht wie sonst im Klubheim des Hamburger SK trainieren, aber hatten dann die Idee, als Autoren zusammenzuarbeiten. Ich habe Luis eine Reihe von Themen vorgeschlagen und nach einigem hin und her sind wir dann bei den "Spielertypen" gelandet.

Das bot sich an, weil ich als Spieler zum Typ "Aktivspieler" gehöre, aber als Trainer Theoretiker bin, während Luis vom Spieltyp her Pragmatiker ist, so dass wir uns gut ergänzen und nur beim Spieltyp "Reflektor" persönliche Erfahrung fehlt.

Luis Engel: "Vom Spieltyp her Pragmatiker" | Foto: André Schulz

Wir hatten das Thema im Training auch schon früher behandelt, und auch mit Vincent Keymer habe ich darüber schon vor einigen Jahren während eines Trainings gesprochen. Außerdem halte ich dieses Thema und seine Bedeutung generell für unterschätzt. Es gibt zwar das exzellente Buch Foundations of Chess Strategy (Gambit 2005)von Lars Bo Hansen, aber danach ist nicht mehr so viel gekommen. Meistens begnügt man sich mit der vereinfachten Version Taktiker/Stratege (im Modell: Aktivspieler+Pragmatiker/Theoretiker+Reflektor). Aber ich glaube, wenn man das Modell etwas komplexer macht, dann gewinnt man sehr viel an Erklärungskraft.

"Aktivisten", "Theoretiker", "Reflektoren" und "Pragmatiker" – das sind in diesem Zusammenhang neue Begriffe. Kannst du kurz charakterisieren, was die einzelnen Spielertypen ausmacht?

Natürlich! Weltmeister, die Aktivspieler waren, sind Aljechin, Tal, Spassky, Kasparov und Anand.

Die Stärken der Aktivspieler: Sie bewerten Initiative und Angriffschancen relativ hoch und die Bedeutung des Materials niedriger. Sie haben oft ein gutes Gespür für Initiative und Dynamik und sind auch bereit, dafür statische Schwächen in Kauf zu nehmen. Eine ihrer Stärken besteht zumeist in der konkreten Variantenberechnung, die auf intuitiver Abschätzung basiert.

Ihre Schwächen: Sie machen manchmal verpflichtende Bauernzüge, die zwar im Moment gut aussehen, langfristig jedoch weit mehr schaden als nutzen. Sie neigen dazu, die eigenen Angriffsmöglichkeiten zu überschätzen und die Angriffsmöglichkeiten ihres Gegners zu unterschätzen. Sie sind in der Verteidigung schlechter als im Angriff und haben dabei in der Regel auch immer die Möglichkeit im Blick, die Partie doch noch zu gewinnen. Beim selteneren Typ des "Hyperaktivspielers" – zu denen Tal und Nezhmetdinov zählen – sind diese Eigenschaften noch stärker ausgeprägt.

 
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1.1 Hyperaktivspieler Für sie stellt Material nur ein weniger wichtiges Bewertungskriterium dar. Der junge Michail Tal ist ein Paradebeispiel und der einzige Hyperaktivspieler, der es bisher auf den Weltmeisterthron geschafft hat. Typische Zitate sind: "Es gibt korrekte Opfer und meine", "Zentralisiere und opfere", "Der Gegner kann stets nur eine Figur pro Zug schlagen" und "Wenn der Gegner eine deiner Figuren angreift, dann greife zwei von ihm an". Dieser Stil sorgt für sehr unterhaltsame Partien und spannende inhaltsreiche Endspiele entstehen natürlich nur äußerst selten. Dafür spektakuläre Mattangriffe und intuitive Opfer, wie im folgenden Fall: 1.c4 Nf6 2.Nf3 g6 3.g3 Bg7 4.Bg2 0-0 5.d4 d6 6.Nc3 Nbd7 7.0-0 e5 8.e4 c6 9.h3 Qb6 10.d5 cxd5 11.cxd5 Nc5 12.Ne1 Bd7 13.Nd3 Nxd3 14.Qxd3 Rfc8 15.Rb1 Nh5 16.Be3 Qb4 17.Qe2
17...Rc4?! Dieser Plan ist objektiv zu ambitioniert, passt aber sehr gut zu Tals Stil. Aktivität ist sehr wichtig in seinem Weltbild. 17...Qc4 ist objektiv laut Computer angesagt, entspricht aber überhaupt nicht Tals Stil und wäre daher praktisch keine gute Wahl gewesen. 17...b5!? kam allerdings stark in betracht. Die Schwäche des Feldes c6 schreckt einen Hyperaktivspieler natürlich nicht. 18.Rfc1 Rac8?! 19.Kh2?! Botvinnik verpasst den Moment, mit 19.a3! am Damenflügel die Initiative zu ergreifen: Qb3 19...Qa5?! 20.Bf1+- 20.Bxa7 Bh6 20...b6?! 21.Qc2+- 21.Be3± Auch der Vorschlag von Dariusz Gorczinski 19.Bf1!?± kam stark in Betracht. 19...f5 20.exf5 Bxf5 21.Ra1
Es folgt eines der vielen viel diskutierten Opfer Tals. Aus praktischer Sicht war es sicher richtig, denn am Brett sind die weißen Probleme kaum zu lösen. Objektiv ist es allerdings nicht korrekt - getreu dem Talschen Motto es gibt korrekte Opfer und meine. 21...Nf4!? 21...Nf6 war objektiv vonnöten. Allerdings hat Weiß nach 22.a3 Qb3 23.g4 Bd7 die Wahl zwischen 24.Bxa7 und 24.Qc2 was Botvinnik mit Sicherheit sehr zugesagt hätte. 22.gxf4 exf4 23.Bd2? Die Widerlegung war allerdings tief verborgen: 23.a3 Qb3 24.Bxa7 Be5 25.f3 Nach 25.Bf3? nimmt Ra8 Weiß die Butter vom Brot. Zur damaligen Zeit war die folgende Variante Gegenstand hitziger Diskussionen zwischen dem Lager Botwinniks und dem Tals: 25...b6? 26.Qd1 Qxb2 27.Ra2
27...Rxc3 "Es ist bezeichnend, dass die Züge von Schwarz vom selben Typus sind. Das kann m.E. als indirekter Beweis für die Korrektheit der Kombination dienen. Schwarz hat sehr leichtes Spiel, während Weiß nach Verteidigungsressourcen Ausschau halten muss." (Tal) 28.Rxb2 Rxc1 29.Qe2 "...auch hier macht sich der Mangel an Material nach R8c3 (...von A.Konstantinoposki gezeigt), vorerst nicht bemerkbar." (Tal) Überhaupt scheint Schwarz über genügend Kompensation zu verfügen, z.B. 30.Rxb6 Bd3 31.Rb8+ Kg7 32.Rb7+ Kf8 33.Qd2 Be4=
25...b6
26.a4‼ Dem Läufer a7 auf diese Art die helfende Hand zu reichen, war den Akteuren entgangen. Tal gibt nur das forcierte 26.Qd1? an, was direkt ins Remis mündet: Qxb2 27.Ra2 Rxc3 28.Rxb2 Rxc1 29.Qd2 Bxb2 30.Qxb2 Rb1 31.Qf6 Rc2= 26...Qb4 26...Rb4 27.Nd1 Rxc1 28.Rxc1 Qxa4 29.Rc7± 26...Bxc3? 27.bxc3 Rxc3 28.Rxc3 Qxc3 29.Re1 Qa5 30.Qe7 Ra8 31.Qb7+- (Ragosin) 27.a5 bxa5 28.Bf2± (Kasparov) Schwarz sollte nicht genug Kompensation für die Figur haben. Dennoch wird es sehr lange dauern, bis sich Weiß durch genaues Spiel entknoten und aktivieren kann.
23...Qxb2? 23...Be5 24.f3 Qxb2 25.Nd1
25...Qxa1! Kasparov gibt 25...Qd4?! 26.Rxc4 Rxc4 27.Rc1 Rxc1 28.Bxc1 Qxd5 29.Nf2 mit leichtem weißen Vorteil, aber auch hier ist die schwarze Aktivität sehr beachtlich. 26.Rxa1 Bxa1 27.Nf2 Rc2 28.Ng4 Bxg4 29.hxg4 Be5 und die schwarze Initiative wiegt das geopferte Material mindestens auf.
24.Rab1 f3 25.Rxb2? Botwinnik hofft vergeblich sich durch Damentausch zu entlasten und verpasst die Gelegenheit, mit der Aktivspielerlösung 25.Bxf3 Bxb1 26.Rxb1 Qc2
27.Be4!? (Flohr) selber zum Angriff überzugehen: 27.Rc1 Qf5 28.Bg4+- gewinnt allerdings auch. 27...Rxe4 27...Be5+ 28.Kg2 Rxe4 29.Nxe4 Qxb1 30.Nxd6 Bxd6 31.Qe6+ Kg7 32.Qd7++- 28.Nxe4 Qxb1 29.Nxd6 Rf8 30.Qe6+ Kh8 31.Nf7+ Rxf7 32.Qxf7+-
25...fxe2 26.Rb3 Rd4 27.Be1 Be5+ 28.Kg1
28...Bf4?! verpasst das wunscherschöne und direkt tödliche 28...Rxc3‼ 29.Rbxc3 Rd1 30.Rc4 Bb2-+ (Tal) 29.Nxe2 Rxc1 30.Nxd4 Rxe1+ 31.Bf1 Be4 32.Ne2 Be5 33.f4 Bf6 34.Rxb7 Bxd5 35.Rc7 Bxa2 36.Rxa7 Bc4 37.Ra8+ Kf7 38.Ra7+ Ke6 39.Ra3 d5 40.Kf2 Bh4+ 41.Kg2 Kd6 42.Ng3 Bxg3 43.Bxc4 dxc4 44.Kxg3 Kd5 45.Ra7 c3 46.Rc7 Kd4 Wir können hier natürlich nur an der Oberfläche kratzen. Eine weitere Quellen ist zum Beispiel: Zaubern wie Schachweltmeister Michail Tal von Karsten Müller und Raymund Stolze, Edition Olms 2010.
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01.01 Botvinnik,M-Tal,M-0–11960E69World Championship 23th6

Dorian Rogozenco, Mihail Marin, Oliver Reeh und Karsten Müller stellen den 8. Schachweltmeister und seine Eröffnungen, sein Verständnis der Schachstrategie, seine Endspielkunst und nicht zuletzt seine unsterblichen Kombinationen in Videolektionen vor.

Die Theoretiker unter den Weltmeistern sind Steinitz, Botvinnik und Kramnik.

Ihre Stärken: Sie kennen sich in ihren Strukturen extrem gut aus. Sie sind mit allen Manövern und Plänen bestens vertraut und können sich bei deren Anwendung auf ihre diesbezüglich geschärfte Intuition verlassen. Sie spielen logisch und systematisch. Viele Vertreter dieses Typs behandeln theoretische Endspiele besonders gut und kennen die gesamte relevante Endspieltheorie auswendig.

Ausgeprägter Theoretiker: Mikhail Botvinnik

Anhand der Botvinnik-Partien zeigen unsere Experten, wie man bestimmte Eröffnungen erfolgreich bestreitet, welche Musterstrategien es in bestimmten Strukturen gibt, wie man auch taktische Lösungen findet und wie man Endspiele nach festen Regeln gewinnt

Ihre Schwächen: Sie halten an ihren Prinzipien fest, auch wenn diese mitunter nicht zur Stellung passen. Gelegentlich mangelt es ihnen ein wenig an dem Gespür für die Grenzen der Anwendbarkeit von diesem oder jenem Prinzip – wie auch an der erforderlichen Flexibilität, um in einer konkreten Stellung bei Bedarf andere Lösungsansätze zu suchen.

 
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A) Die positionelle Schule Unter Schachtrainern und Buchautoren sind Theoretiker überrepräsentiert, denn sie möchten natürlich ihre Theorien weitergeben. Einige Theoretiker haben regelrechte Schulen gebildet und Teile der sowjetischen Schachschule lassen sich auf Botvinniks Einfluss zurückführen. Diese Schulen behandeln natürlich weit mehr als nur Systemeröffnungen. In aller Regel lehren sie eine ganze Reihe positioneller und strategischer Prinzipien. Dann wird Schach fast zu einer akademischen Wissenschaft. Werke wie Nimzowitschs Mein System, Berliners The System und Dorfmans Die Schachmethode gehen in diese Richtung. In der Literatur wird oft der 1.Weltmeister Steinitz als Begründer der positionellen Schule angesehen, die dann näher dargestellt wird. Wir wollen da in keine historische Diskussion einsteigen und es geht uns hier nur um die praktischen Vor- und Nachteile dieses Ansatzes. Wir folgen hier Dorfmans Schachmethode. Eine Liste positioneller Elemente könnte so in etwa aussehen, wobei es natürlich noch viel mehr denkbare Stellungsbewertungsfaktoren gibt: Statische Kriterien (Nach Dorfmans Schachmethode) 1. statische Königsstellung 2. materielles Kräfteverhältnis 3. Stellung nach Damentausch 4. Bauernstruktur Dynamische Kriterien (unsere Auswahl) Entwicklungsvorsprung Initiative Aktivität Mobilität Schlechte Figurenstellung Mangelnde Harmonie Dann lautet die Faustregel: Wenn man statischen Vorteil hat, sollte man Komplikationen meiden, Gegenspiel stoppen und langsam aber sicher durch Manövrieren die Stellung verstärken, bis sie reif für Transformationen eines Vorteils in einen anderen ist. Wenn man dagegen statisch im Nachteil ist oder die Natur des eigenen Vorteils dynamisch ist, dann sollte man Dynamik anstreben. Das ist natürlich eine sehr vereinfachte Sichtweise, und es ist wichtig, ein Gespür dafür zu entwickeln, was das für praktische Entscheidungen bedeutet. Wir erläutern das im Folgenden anhand einiger Beispiele und Aufgaben:
Konturen einer Tarrasch-Verteidigung mögen noch erkennbar sein, wobei Schwarz recht forsch - insbesondere mit seinem Turm f5 - auftritt. Statisch gesehen steht Weiß besser, weil seine Bauernstruktur besser ist und er eine weißfeldrige Blockade errichtet hat aus der heraus langfristig ein positionelles Powerplay generiert werden kann. Der Läufer a7 hat zwar Potenzial, kann aber zu einem schlechten Läufer werden, wenn Schwarz nicht aufpasst. Folglich sollte Schwarz dynamisch agieren, wenn das möglich ist. 34...Re7? Dieser statische Zug verpasst den Moment zur Transformation, welche sogar auch dann angesagt wäre, wenn sie nur zum dynamischen Ausgleich führten würde: Das starke Qualitätsopfer 34...Rxf3‼ hätte Schwarz nach der forcierten Folge 35.exf3 Rxe1+ 36.Nxe1 d3 37.Nxd3 Ne5
langanhaltenden, heftigen Angriff gegeben, z.B.: 38.Qc2 Nxd3 39.Rc7 39.Kf1 Ne5! 39...Ne5 39...Qd6 40.Rxb7 Bxf2+ 41.Kf1 Nc5 40.Kg2 g5! jeweils mit schwarzem Vorteil.
35.Qc2 Rb5 36.Rc1 Qd8 37.Qd2 Qb6 38.R1c2 Qd8 39.Nf4 Ne5? 39...Re8 war angesagt. 40.Nxh5+! So münzt Weiß seinen statischen Vorteil in einen dynamischen um. gxh5 41.Qg5+ Kh7 42.Qxh5+ Kg7 43.Qg5+ Kh7 44.Qh4+ Kg7 45.Nxe5 Rbxe5 46.Rc8 Qb6 47.Qh8+ Kg6 48.Rg8+ Kf5 49.Qh3+ Ke4 50.Rcc8 Rf5 51.g4 Rf6 52.Rg5 Re5 53.Qg2+ Kf4 54.Qg3+ Kxg5 55.Qxe5+ Kxg4 56.h3+
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02.01 Orzech,D2372Asendorf,J23561–020122BLN 2012/13 Werder Bremen - Zehlendor4.3

Die Reflektoren unter den Weltmeistern sind: Capablanca, Smyslov, Petrosian, Karpov und Carlsen.

Ihre Stärken: Sie haben ein sehr tiefes Spielverständnis und erkennen relevante Muster auf den ersten Blick. Sie haben ein sehr feines Gespür für die Harmonie und Koordination der Figuren. Sie sind sehr gut, wenn es darum geht, die gegnerischen Figuren einzuschränken und deren Koordination zu stören. Typisch für sie sind aktive Prophylaxe sowie Dominanz- und Restriktions-Strategien. Strategische Endspiele behandeln sie sehr gut, denn dort kommen ihre Stärken voll zur Geltung, weil das dynamische Potenzial der Damen hier nicht mehr "stört" und entsprechend weniger "Chaos" aufkommen kann.

Der zur Zeit erfolgreichste Reflektor: Magnus Carlsen | Foto: Lennart Ootes

Sehen Sie, welche Eröffnungen Carlsen wählt, um seinen Gegner im Mittelspiel strategisch zu überspielen oder ein vorteilhaftes Endspiel zu erhalten.

Ihre Schwächen: Sie haben manchmal Schwächen bei der Berechnung konkreter Varianten, was der Gegner ausnutzen könnte, indem er konkrete dynamische Stellungen anstrebt, in denen jeder einzelne Zug von entscheidender Bedeutung sein kann und umfangreiche und konkrete Berechnung erfordert.

 
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A) Gespür für Harmonie und Koordination Reflektoren sind hier besonders stark. Sie erkennen sowohl Muster der Zusammenarbeit der eigenen Figuren als auch die der Störung der Koordination der gegnerischen. Daher brauchen sie auch gar nicht viele konkrete Varianten zu berechnen. Denn ihre Figuren stehen stets richtig und verhindern daher prophylaktisch ohnehin alle gefährlichen Aktionen des Gegners. Ein besonderer Meister dieses Fachs ist Anatoly Karpov, der auf seinem Weg zum Weltmeisterthron dem Aktivspieler Exweltmeister Spassky im folgenden instruktivem Meisterwerk keine Chance lässt: 1.e4 c5 2.Nf3 e6 3.d4 cxd4 4.Nxd4 Nf6 5.Nc3 d6 6.Be2 Be7 7.0-0 0-0 8.f4 Nc6 9.Be3 Bd7 10.Nb3 a5 11.a4 Nb4 12.Bf3 Bc6 13.Nd4 g6 14.Rf2 e5 15.Nxc6 bxc6 16.fxe5 dxe5
17.Qf1!? Die Dame strebt nach c4, um den weißfeldrigen Druck zu erhöhen. Es ist immer gefährlich einem Reflektor eine Stellung mit so vielen strategischen Trümpfen zu überlassen. Weiß hat das Läuferpaar und die weißen Felder im schwarzen Lager sind schwach. Spassky braucht nun unbedingt schwarzfeldriges Gegenspiel. Qc8 18.h3 Nd7
19.Bg4!? Reflektoren sind sehr stark bei der Transformation eines Vorteils in einen anderen und beim richtigen Abtausch. 19.Qc4? würde dagegen ausgekontert: Qa6 20.Qxa6 Nxa6 21.Rd2 21.b3 Bc5= 21...Bc5= 19...h5 20.Bxd7 Qxd7 21.Qc4
21...Bh4? Auf diese aktive Weise kann die Verteidigung hier nicht geführt werden. Die schwarze Lage ist aber ohnehin sehr schwierig. Laut Computer sollte 21...Qe6 erfolgen: 22.Qxe6 fxe6 23.Re2 Allerdings wäre die Verteidigung diese Endspiels gegen Karpov sicher keine leichte Aufgabe gewesen. 22.Rd2 Qe7
23.Rf1 Karpov verstärkt einfach den Druck. Ein typisches Vorgehen für einen Reflektor. Bemerkenswert ist, dass Fat Fritz auch diesen Zug machen will, was eine weitere Begründung liefert, die selbstlernenden Engines im Alpha Zero Stil den Reflektoren und nicht den Pragmatikern zuzuordnen. Konkrete Spielertypen und Alpha Beta Engines wählen den direkten konkreten Gewinnweg: 23.Bc5! Qg5 24.Rad1 Rfd8 25.Rxd8+ Rxd8 26.Rf1 Rd7 27.Bxb4 axb4 28.Qxc6 Qe3+ 29.Kh2 Ra7 30.Nd5+- 23...Rfd8
24.Nb1‼ Karpov hat ein unglaubliches Gespür für die Harmonie der Figuren. Hier spürt er, dass sein Springer mehr leisten kann. Qb7 25.Kh2 Ein weiterer typischer Reflektorenzug. Der König verbessert sich prophylaktisch und erhöht die schwarzfeldrige Kontrolle am Königsflügel. Kg7 26.c3 Na6 26...Rxd2 27.Nxd2 Nc2 28.Bc5 Bg5 29.Nf3 Ne3 30.Bxe3 Bxe3 31.Nxe5 Rf8 32.Qxc6+- 27.Re2 Rf8 27...Rd7 hilft auch nicht, z.B. 28.g3 Bd8 29.Ref2 f6 29...c5 30.Nd2 Nb8 31.Nf3 Bf6 32.Kg2 Ra6 33.g4+- 30.Nd2 Nc7 31.Nf3 Qa6 32.Qa2 Re7 33.Bc5 Re8 34.Ng5+- 28.Nd2 Bd8 29.Nf3 f6
30.Rd2 Karpov verbessert systematisch und kraftvoll eine Fiugur nach der anderen und verstärkt immer mehr den Druck. Das direkte 30.Ng5 gewinnt laut Computer mehr oder weniger direkt, aber Karpovs Weg gewinnt ebenfalls. 30...Be7 31.Qe6 Die Dame dringt ins Herz der schwarzen Stellung ein. Rad8 32.Rxd8 Bxd8 32...Rxd8 33.Nxe5 Qc7 34.Qf7+ Kh8 35.Qxg6 Qxe5+ 36.Bf4 Qe6 37.Qxh5+ Kg8 38.Rf3 Bf8 39.Rg3+ Bg7 40.Bh6 Rd7 41.Qg6 Qf7 42.Qf5+- 33.Rd1! Eine offene Linie ist wie eine offene Wunde. Nb8 34.Bc5 Rh8
35.Rxd8! Nun startet Karpov die Kombination zum Gewinn und Spassky gab aufgrund von Rxd8 36.Be7 Re8 37.Qxf6+ Kh6 38.Nh4 Rg8 39.Nf5+ Kh7 40.Qf7+ Kh8 41.Bf6++- auf.
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03.01 Karpov,A-Spassky,B-1–01974B83Leningrad (m/9)

Anatoly Karpov | Foto: V. Savostianov, Novosti Press (via D. Griffin)

Auf dieser DVD geht ein Expertenteam Karpovs Spiel auf den Grund. In über 7 Stunden Videospielzeit (jeweils komplett deutsch und englisch) beleuchten die Autoren vier wesentliche Aspekte von Karpovs Spielkunst.

Die Pragmatiker unter den Weltmeistern sind Fischer, Euwe und Lasker.

Ihre Stärken: Pragmatiker zeichnen sich durch einen sehr konkreten Ansatz aus. Sie können häufig sehr genau und weit rechnen und machen selten grobe Fehler. Sie beziehen viele praktisch relevante Faktoren in ihre Entscheidungsfindung mit ein und sind häufig gut darin, ihre Gegner vor unangenehme praktische Entscheidungen zu stellen. Und sie sind dank ihrer genauen Variantenberechnung oft sehr zähe Verteidiger.

Ihre Schwächen: Der konkrete Ansatz kann sich unter Umständen als Schwäche herausstellen. In technisch positionellen Stellungen, in denen es nichts Konkretes zu berechnen gibt, geraten Pragmatiker gelegentlich ins "Schwimmen". Generell haben sie manchmal Schwierigkeiten, langfristige Pläne zu erkennen. Manchmal sind Pragmatiker (ähnlich wie Theoretiker) etwas zu materialistisch. Insgesamt sind sie jedoch relativ ausgewogen und haben kaum nennenswerte Schwächen.

 
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24...Rbe4! Der einzige Zug, der den schwarzen Vorteil festhält. Es mussten jedoch einige Varianten genau berechnet werden, da Weiß nicht ohne Gegenchancen ist. 24...Rb6 25.Bd4 Qxd5 Reicht nicht zu schwarzen Vorteil: 25...Rb4 26.Bc3= Ist kein Gewinnversuch, es sei denn, man lenkt mit Rbe4! in die Partie über. 26.Qxd5 Nxd5 27.Bxb6 Nxb6 28.Bg2= Und wegen der schwachen Grundreihe kann Schwarz den Mehrbauern nicht halten. Die entstehende Stellung ist ausgeglichen. 24...Ra4? Verbietet sich natürlich wegen 25.Bb5!± 25.Bb5 Eine weitere sehr kritische Stellung ist erreicht, die schon vor 24...Tbe4 gesehen werden musste. Die schwarzen Türme hängen in der Luft und Weiß ist drauf und dran die Qualität zurückzugewinnen. Es gibt nur einen Zug, der zu schwarzem Vorteil führt, ansonsten steht sogar Weiß besser. Können Sie es Caruana gleich tun und den Zug finden? 25.Bd3? Funktioniert nicht: Qxd5! 26.Qxd5 26.Bxe4 Qxd1+-+ 26...Nxd5 27.Bxe4 Nxc3-+ Und Schwarz sammelt beide weißen Läufer ein. 25...Qc5! Ein erzwungener, aber nicht leicht zu berechnender und starker Gegenangriff. 25...R8e7?! Ist der logische Versuch, sich an das Material zu klammern, aber nach 26.Bd3! hat der gestrandete Zentrumsturm plötzlich kein Rückzugsfeld mehr. Schwarz verliert seine Qualität wieder und steht eher schlechter, da Weiß auch noch mit dem "guten" Läufer über bleibt. 25...Rd8?? Geht natürlich überhaupt nicht. 26.Bxf6 Qxf6 27.Qxe4+- 26.Bxf6? Dieser logische Zwischenzug verliert die Partie. Weiß musste die Qualität wegnehmen, solange es noch ging: 26.Bxe8 Qxc3 Schwarz schnappt sich den starken schwarzfeldrigen Läufer, die Variante ist aber noch nicht vorbei. Es ist wichtig zu sehen, dass Weiß konkret auch noch seinen schönen Freibauern auf d5 verliert. 27.Bb5 g6! Ein wichtiges Luftloch; Weiß hat nur ein Feld für seine Dame. 27...Re5? 28.Qb1! Rxd5 29.Rxd5 Nxd5 30.Qe4! Und wegen der schwachen Grundreihe verliert Schwarz seinen Mehrbauern wieder. 28.Qg5 Re1+! Wickelt in ein klar besseres Endspiel ab: 29.Rxe1 Qxe1+ 30.Kg2 30.Bf1 Ne4! Droht ...Sd2 und erzwingt damit den Damentausch: 31.Qe3 Qxe3 32.fxe3 Nxg3 Eine lange und komplizierte Variante, aber wenn man diese Varianten am Brett berechnen kann, wird man mit diesem fast gewonnenen Endspiel belohnt:) 30...Qe4+ 31.Kg1 Nxd5 Und Schwarz erobert letzendlich den starken Freibauern. 26...Re1+! Ein starker Zwischenzug. Beide Läufer waren vergiftet: 26...Qxb5?? Wäre katastrophal. Nach 27.Qg5! Re1+ 28.Kh2! g6 29.Qh6 Gewinnt plötzlich Weiß! 26...gxf6? 27.Bxe8+- Und Weiß verbleibt mit dem starken d-Freibauern und gewinnt noch den Bauern auf f6. 27.Kh2 27.Kg2 Qxb5! Wegen des Schachs auf f1 ist Schwarz diesmal schnell genug: 28.Qg5 Qf1+ 29.Kf3 Qe2+ 30.Kg2 Qe4+-+ 27.Rxe1 Rxe1+ 28.Kh2 gxf6-+ Gewinnt glatt, da nun auf e8 kein Turm mehr hängt. 27...Rxd1 28.Bxe8 Der letzte kritische Moment der Partie ist erreicht. Wie stellte Caruana die Weichen endgültig auf Sieg? Rxd5! Der Gewinnzug. Natürlich muss man vor 24...Tbe4 als "Normalsterblicher" nicht bis hier alles berechnet haben, da dies schlicht unmöglich ist und man vorher eher auf Zeit verlieren würde:) Es kommt irgendwann immer der Moment, wo man sich auf sein Gefühl verlassen muss, aber natürlich gilt allgemein: Je mehr man berechnen kann, desto besser! 28...gxf6 Ist auch gut für Schwarz, aber nicht annähernd so klar wie der Partiezug. 29.Qg4+ Kf8 30.Qxd1 Qxf2+ 31.Kh1 Kxe8 Und Schwarz steht klar besser, aber die Partie ist noch längst nicht entschieden. 29.Be5 Es gibt keine Tricks mehr. 29.Bxf7+ Kxf7 30.Be5+ Ke7 31.Qg5+ Ke6-+ 29...Rxe5 29...f6! wäre objektiv sogar noch stärker, aber wen würde das am Brett interessieren, wenn man mit Txe5 einen klaren Gewinnweg hat? 30.Qxf7+ Kh8 Und die Mehrqualität setzte sich locker durch. 31.Bd7 Qe7 32.Qf4 Qf6 33.Qd2 b5 34.Bg4 h5 35.Bd1 h4 36.Bg4 Re8 37.gxh4 Qxh4 38.Kg2 Qe7 39.Bf3 Rd8 40.Qf4 Qf6 41.Qg4 g6 42.Qe4 Qg5+ 43.Kf1 a5 44.h4 Qf5 45.Qc6 Rf8 46.Qc3+ Kh7 0–1
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04.07 Ponomariov,R2751Caruana,F27790–12013B40Kings Tournament 7th8

Die Unterteilung in Spielertypen beruht auf dem unterschiedlichen Stil dieser Spieler. Wie würdest du Spielstil im Schach definieren?

Das ist natürlich ein weites Feld. Wir folgen einem Modell des dänischen Großmeisters Lars Bo Hansen, das ich für besonders gut geeignet halte. Ich habe diesen Ansatz schon in vielen Seminaren vorgestellt und war stets erstaunt, wie gut er funktioniert. Man hat natürlich von allen vier Elementen etwas, aber beim eigenen Stil gibt es doch oft ein dominantes Element.

Wenn ich in schlechten Stellungen immer aktiv werden will, weil ich zu ungeduldig bin, um gedrückte Stellungen lange zu verteidigen, habe ich dann einen aktiven Spielstil oder ist das einfach nur eine Schwäche, die eventuell verschwindet, wenn ich daran arbeite?

Das ist eine typische Schwäche von Aktivspielern, und wie man bei einigen Aktivspielern sehen kann, verschwindet sie nicht von selbst. Man sollte daran arbeiten. Generell haben Aktivspieler und bestimmte Theoretiker die ausgeprägtesten Schwächen. Wenn ich mir anschaue, wie ich in der Jugend gespielt habe, sehe ich dieses Phänomen einmal mehr bestätigt.

Spielstil hin oder her – wenn man ein fünfzügiges Matt sieht, setzt man Matt, und wenn ein Spieler mit 2200 Elo die Philidor-Stellung souverän beherrscht, dann behandelt er diese Phase des Turmendspiels genauso gut wie Carlsen oder Capablanca. Wo und wann kommen Stil und Spielertyp zur Geltung?

Im Grenzbereich. Wenn es nur einen spielbaren Zug gibt, dann muss man den spielen. Das ist keine Stilfrage. Aber oft hat man die Wahl zwischen mehreren spielbaren Zügen, und dann können Überlegungen zum Spielertyp hilfreich sein. Für mich macht genau das einen nicht geringen Teil der Faszination des Schachs aus. Wenn es immer nur genau einen Zug gäbe, und man den durch einen Algorithmus ausrechnen könnte, dann wäre Schach für die Menschen weit weniger faszinierend. Es gibt Spiele, die so funktionieren, aber sie sind eben bei weitem nicht so populär wie Schach.

Wie ausgeprägt sind die stilistischen Unterschiede zwischen den einzelnen Spielern? Wenn du z.B. fünf Partien eines Weltmeisters, die du noch nicht kennst, sehen würdest, glaubst du, du könntest sagen, welcher der 16 Weltmeister sie gespielt hat?

Nein, das könnte ich nicht. Denn so ausgeprägt sind die stilistischen Unterschiede nun auch wieder nicht, und gerade die Weltmeister waren natürlich alle ziemlich universell. Von wenigen Ausnahmen, wie z.B. dem jungen Mihail Tal, der ja der einzige Hyperaktivspieler auf dem WM Thron war, einmal abgesehen.

Ausgeprägter Aktivspieler: Mihail Tal

Wie seid ihr bei der Zuordnung der einzelnen Spieler zu den jeweiligen Spielertypen vorgegangen? Habt ihr euch alle Partien des jeweiligen Spielers angeschaut oder eine Auswahl der Partien getroffen?

Wir haben eine Auswahl getroffen und auch andere Quellen befragt.

Wie jemand spielt ändert sich oft im Laufe einer Schachkarriere. Steinitz begann als Angriffsspieler, aber entdeckte dann seinen Glauben an die Verteidigung schlechter Stellungen, Kasparov hat nach seinen Wettkämpfen gegen Karpov umsichtiger und vielschichtiger gespielt und Kortschnoi hat in seiner Autobiographie beschrieben, wie er seinen Spielstil im Laufe seiner Karriere bewusst umgestellt hat. Wie seid ihr mit solchen Phänomenen bei der Zuordnung des Spielertypus umgegangen?

Darauf sind wir im Buch nicht vertieft eingegangen, aber das ist in der Tat ein spannendes Thema, bei dem es noch Potenzial gibt. Überhaupt ergeben sich aus dem Modell extrem viele Ansatzpunkte, denen wir natürlich nicht allen nachgehen konnten. Diesbezüglich verweisen wir nur darauf, dass sehr viele Aktivspieler im Laufe der Zeit pragmatischer werden.

Ihr zählt Bobby Fischer zu den Pragmatikern, obwohl er doch in vielen Punkten auf den ersten Blick alles andere als pragmatisch war. Zum Beispiel glaubte er in der Eröffnung an seine Varianten und spielte bis zu seinem Wettkampf gegen Spassky fast immer die gleichen Eröffnungen, egal, wie gut der Gegner vorbereitet war oder welche Stärken oder Schwächen der Gegner hatte. Und wie bei Fischer kann man viele Spieler vielleicht mehr als nur einem Typus zuordnen. Was gab bei eurer Einteilung der einzelnen Spieler den Ausschlag?

Fischer liefert sehr viele instruktive Beispiele für Pragmatikerqualitäten. Er hat z.B. eine sehr gute Zeiteinteilung (eine typische Pragmatikerqualität) und auch seine Spielauffassung, die sich in Zitaten wie "1.e4: best by test" oder "to get squares you got to give squares" zeigt, ist pragmatisch.

Bobby Fischer

Kein anderer Weltmeister erreichte auch über die Schachwelt hinaus eine derartige Bekanntheit wie Bobby Fischer. Auf dieser DVD führt Ihnen ein Expertenteam die Facetten der Schachlegende vor und zeigt Ihnen u.a die Gewinntechniken des 11.Weltmeisters

In Bezug auf die Eröffnungen hat sich das Ganze im Laufe der Zeit verschoben. Früher war es auch durchaus pragmatisch, sich in den eigenen Systemen tief auszukennen und die immer zu spielen. Diesen Wissensvorsprung konnten die Gegner früher nicht ohne Weiteres aufholen. Heute geht das mit dem Computer sehr viel schneller, wie man beim Pragmatiker Maxime Vachier-Lagrave und seinen Abenteuern in der Najdorf-Variante sehen kann. "MVL" glaubt an die Najdorf-Variante und spielt sie unerschütterlich, aber beim Kandidatenturnier wurde er vom Pragmatiker Caruana, der punktgenau vorbereitet war, mit einer bemerkenswerten Neuerung in einer wichtigen Partie auf dem falschen Fuß erwischt. Hier sollten die Pragmatiker von heute vielleicht universeller werden.

Für den sowjetischen Erfolgstrainer Mark Dvoretsky war der universelle Spieler das Ideal, ein Spieler, der in Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel, in Angriff und Verteidigung, bei Strategie, Taktik und Variantenberechnung gleichermaßen versiert und gut ist. Entsprechend zielen seine Trainingskonzepte darauf ab, Schwächen in der eigenen Spielweise zu beseitigen. Aber ist ein universeller Spieler stillos?

Im Optimalfall wohl schon. Aber man kann nicht einfach entscheiden, ein universeller Spieler zu werden. Es gibt wohl Dinge und Eigenschaften, die man nicht ändern kann. Man hat sie oder man hat sie nicht.

Wenn man so will, zeigt Matthew Sadlers und Natasha Regans Meisterwerk Zeitenwende im Schach (New in Chess 2019), in dem sie das Spiel von AlphaZero untersuchen, dass AlphaZero universell und fast stillos spielt, weil das Programm quasi "alles" beherrscht.

Dennoch beeindrucken mich die Reflektorqualitäten des Programms ganz besonders, und ich meine, dass sie wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich AlphaZero gegen Stockfish – ein Programm, das vom Spieltyp Pragmatiker ist – durchsetzen konnte. Deswegen haben wir im Buch AlphaZero auch den Reflektoren zugeordnet.

Hat jeder Spieler einen eigenen Stil? Und wie entwickelt sich der bei den einzelnen Spielern im Laufe der Karriere?

Ich würde sagen, ja, jeder, der gut genug ist, um zwischen einer Reihe von gleichwertigen Zügen wählen zu können, hat einen eigenen Stil. Allerdings lässt sich der individuelle Stil eines Spielers nicht immer exakt einem der vier von uns vorgestellten Spielstile zuordnen. Und natürlich entwickelt sich der Stil. Das kann man bei mir gut sehen. Ich war in meiner Jugend ein etwas eindimensionaler Aktivspieler und bin dann im Laufe der Zeit pragmatischer und universeller geworden. Aber ich bin immer noch Aktivspieler.

Kann man sich aussuchen, was für ein Spielertyp man ist und gerne wäre oder ist der Spielertyp eine Frage der Veranlagung oder der schachlichen Prägung und Erziehung?

Man kann es beeinflussen, aber man kann es sich nicht aussuchen. Allerdings kann man gewisse Qualitäten, über die Aktivspieler und Pragmatiker verfügen, besser lernen und trainieren als Reflektorqualitäten.  Ein Gefühl für die Figuren, wie Karpow oder Carlsen es haben, bekommt man nicht allein durch Training.

Wie finde ich heraus, was für ein Spielertyp ich bin – und wie kann ich dieses Wissen dann nutzen, um besser zu spielen oder zumindest besser zu punkten?

Hier hilft ein genaues Studium der eigenen Partien im Lichte des Modells. Dann kann man an den eigenen Schwächen arbeiten und versuchen, universeller zu werden und Stärken anderer Spielertypen in das eigene Spiel zu integrieren. Zugleich kann man in seinen Partien versuchen, die Schwächen des jeweiligen Gegners gezielt auszunutzen.

Vielen Dank für das Interview.

Karsten Müller / Luis Engel: "Spielertypen: Ihre Stärken und Schwächen", Joachim Beyer Verlag 2020, 244 Seiten, 27,80€. Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.

Siehe auch

Stilübungen 1 - Steinitz, Lasker, Capablanca, Aljechin
Stilübungen 1 - Lösungen

Stilübungen 2 - Euwe, Botvinnik, Smyslov, Tal
Stilübungen 2 - Lösungen

Stilübungen 3 - Petrosian, Spassky, Fischer, Karpov
Stilübungen 3 - Lösungen

Stilübungen 4 - Kasparov, Kramnik, Anand, Carlsen
Stilübungen 4 - Lösungen


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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