Ein Blick in die Vergangenheit: Geschichte eines Bildes

von Johannes Fischer
20.06.2019 – Douglas Griffin, Schachfan aus Schottland, veröffentlicht auf seinem Twitter-Account regelmäßig historische Fotos bekannter Schachspieler. Aufnahmen, die Erinnerungen wecken und wach halten, Schachlegenden lebendig machen und Einblicke in die Vergangenheit erlauben. Am 28. Mai 2019 veröffentlichte Griffin ein Foto, das zeigt, wie Max Blümich und Alexander Aljechin beim Turnier in Krakau/Warschau 1941/1942 gegeneinander spielen. Ein Bild, das Fragen aufwirft: Wie lief die Partie, wer hat gewonnen, wer war Max Blümich und wer ist noch auf dem Foto zu sehen? | Foto: audiovis.nac.gov.pl

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Die Partie

Wie die ChessBase Mega Database verrät, spielten Blümich und Aljechin beim Turnier in Krakau/Warschau 1941 in der elften und letzten Runde gegeneinander. Aljechin gewann mit Schwarz eine hübsche Angriffspartie, in der er zu einer Variante der Caro-Kann Verteidigung griff, die in letzter Zeit wieder populär geworden ist.

 

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Dieser Gewinn brachte Aljechin auch den Turniersieg, den er allerdings mit Paul Felix Schmidt teilen musste. Beide kamen auf 8,5 Punkte aus 11 Partien und landeten damit einen Punkt vor Efim Bogoljubow und anderthalb Punkte vor Klaus Junge.

Krakau/Warschau 1941, Endstand nach 11 Runden

Rg. Name 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Pkt.
1 Paul Felix Schmidt   0 1 ½ 1 1 1 0 1 1 1 1 8.5
2 Alexander Alekhine 1   1 ½ ½ 1 ½ 1 1 ½ ½ 1 8.5
3 Efim Bogoljubow 0 0   ½ ½ 1 1 ½ 1 1 1 1 7.5
4 Klaus Junge ½ ½ ½   ½ 1 ½ ½ 1 ½ ½ 1 7.0
5 Josef Lokvenc 0 ½ ½ ½   0 ½ ½ ½ ½ 1 1 5.5
6 Teodor Regedzinski 0 0 0 0 1   1 0 0 1 1 1 5.0
7 Eduard Hahn 0 ½ 0 ½ ½ 0   ½ 1 1 ½ 0 4.5
8 Georg Kieninger 1 0 ½ ½ ½ 1 ½   0 ½ 0 0 4.5
9 Max Bluemich 0 0 0 0 ½ 1 0 1   ½ 1 ½ 4.5
10 Carl Johan Margot Carls 0 ½ 0 ½ ½ 0 0 ½ ½   1 0 3.5
11 Heinz Nowarra 0 ½ 0 ½ 0 0 ½ 1 0 0   1 3.5
12 Paul Mross 0 0 0 0 0 0 1 1 ½ 1 0   3.5

Wie in der Tabelle zu sehen ist, blieb Aljechin ohne Niederlage, wohingegen Schmidt zwei Partien verlor: eine gegen Georg Kieninger und eine gegen Aljechin. Die beiden späteren Turniersieger, Schmidt und Aljechin, spielten in der vierten Runde gegeneinander und in dieser Partie kam es zu einem Zwischenfall, den Schmidt später als sein "unvergesslichstes Schacherlebnis" bezeichnet hat. Denn laut Schmidt hat Aljechin in dieser Partie "einen Turm eingestellt und den Zug einfach zurückgenommen." (Vgl. Eva Regina Magacs, Michael Negele, Paul Felix Schmidt: A Winning Formula, Exzelsior Verlag, Edition Randstein 2017, S. 248).

Was war geschehen?

 

Aljechin hat seine Version der Ereignisse in dieser Partie Francesco Lupi mitgeteilt, und der hat Aljechins Erzählungen dann in der britischen Schachzeitschrift CHESS dem Schachpublikum unterbreitet. Wahrscheinlich hat Aljechin das einfache Matt nach 31.Tb8+ übersehen, weil er während der Partie zu viel Cognac getrunken hatte. Dass er während der Partie betrunken war, gibt Aljechin in seiner Schilderung des Vorfalls mehr oder weniger offen zu, aber für das "J’adoube" im 32. Zug liefert er eine andere Erklärung.

Ich hatte lange keinen "Kaffee" mehr genossen, doch der Generalgouverneur von Polen schenkte den Turnierteilnehmern mehrere Flaschen. Ja, meine Partie gegen Schmidt war kompliziert, doch dann hatte sich alles zu meiner Zufriedenheit entwickelt und ich widmete mich immer weniger der Partie und zunehmend mehr dem "Kaffee". Dies brachte mich dem Sieg immer näher. Schließlich kehrte ich ans Brett zurück und vielleicht etwas verwirrt aufgrund der Wirkung des "Kaffees", nahm ich an, Schmidt habe den einzigen Zug ausgeführt, mit dem er das Matt in zwei verhindern konnte. Ich faßte meinen Turm an, um meine Antwort auszuführen. Doch dann erkannte ich, dass Schmidt die Gefahr ignoriert und die Mattsetzung zugelassen hatte. Unmittelbar stieß ich ein "J’adoube" aus und sofort brach ein Tumult aus. Jedermann schien sich unmittelbar ins Geschehen einzumischen. Ich bot Schmidt die Wahl, die Partie als unentschieden zu beenden oder mit dem Turm einen anderen Zug auszuführen. Post, der Turnierleiter, zog sich mit dem Turnierausschuß zurück, um über den Fall zu beratschlagen.

Während sich der Turnierausschuß beriet, beobachtete ich einen anderen Spieler, der sich erhob und geheimnisvoll etwas Schmidt zuflüsterte. Dabei gestikulierte er mit den Händen und Schmidt nickte einsichtig. Schließlich verließ Schmidt den Turniersaal und sprach, wie ich annehme, mit Post. Wie auch immer, alle kamen gemeinsam zurück und Schmidt lehnte das Remis ab und wollte weiterspielen. Ich mußte also den Turm ziehen, und da ich noch immer die bessere Stellung hatte, konnte ich eine hübsche Schlußwendung erzielen. Mit Leidensmiene gab Schmidt nach ungefähr einer weiteren Stunde auf. Erst danach erfuhr ich, weshalb Schmidt das Unentschieden ablehnte. Sein Berater hatte ihm eingeflüstert: "Sei kein Dummkopf! Spiele auf Sieg! Sieht Du nicht, dass er völlig betrunken ist und kaum ein Matt in einem, geschweige denn in zwei erkennt!" (CHESS, April 1947, S. 205, zitiert in Negele/Magacs, Paul Felix Schmidt, S. 295)

Wer sich die Partie anschaut, stellt schnell fest, dass diese Version der Ereignisse nicht stimmen kann. Denn Aljechins "J’adoube" kam im 32. Zug, als er den Turm auf c1 berührt hatte, um ihn nach c8 zu ziehen. Nach Aljechins Version "mußte [er] den Turm ziehen", aber in der Partie zog Aljechin nicht den Turm auf c1, sondern seinen Turm auf g4, der soeben vom schwarzen h-Bauern angegriffen worden war. Und wenn Aljechin tatsächlich den Turm auf c1 hätte ziehen müssen, dann wäre die Abwicklung 32.Tc8+ Dxc8 33.Lxc8 hxg4 mit Übergang in das Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern erzwungen gewesen, denn bei allen anderen Zügen des Turms auf c1 nimmt Schwarz einfach den Turm auf g4 und steht auf Gewinn. Deshalb gab es für Schmidt auch keinen Grund, das Remis abzulehnen, denn egal, wie betrunken Aljechin auch gewesen sein mag, dieses Endspiel hätte er immer Remis gehalten.

Aljechin gibt jedoch zu, den Turm auf c1 berührt und "J’adoube" gesagt zu haben. Aber vermutlich hat der Schiedsrichter Ehrhardt Post darauf verzichtet, Aljechin zu zwingen, den Turm auf c1 zu ziehen – entweder, weil Post zu viel Respekt vor dem Weltmeister hatte, um dessen Unsportlichkeit zu ahnden, oder weil er zu der Ansicht gekommen war, dass dieses dubiose "J’adoube" noch im Bereich des Erlaubten lag.

Mit seiner Version der Geschichte bemäntelt Aljechin seinen unsportlichen Regelverstoß und dreht den Spieß um: in Aljechins Geschichte ist es Schmidt, der kein Remis wollte und unsportlich genug war, die Partie, die er doch hätte verlieren sollen, gewinnen zu wollen, weil er glaubte, Aljechin wäre betrunken – wofür Schmidt dann bestraft wird.

Doch kommen wir zum Bild zurück und werfen einen Blick auf Aljechins Gegner in der dort gezeigten Partie. Das war Reinhold Max Blümich, eine interessante Figur der deutschen Schachgeschichte, und wahrscheinlich zeigt dieses Foto Blümich bei der letzten Turnierpartie seines Lebens.

Max Blümich, Anfang der 20er Jahre | Foto: Funkschach-Jahrbuch 1926, S. 20 | Quelle: Michael Negele: Reinhold Max Blümich

Blümich wurde am 3. November 1886 in Leipzig geboren, wo er später als leitender Postbeamter arbeitete. Blümich war Amateur, aber gehörte zu den besten deutschen Spielern der damaligen Zeit: Er wurde neun Mal Leipziger Stadtmeister, zehn Mal Sächsischer Meister und 1923 gewann er in Frankfurt am Main das Hauptturnier des Deutschen Schachbundes. Zudem tat Blümich als Funktionär und Redakteur viel für das deutsche Schach, aber leider nicht immer Gutes.

Als Funktionär leitete Blümich lange Jahre leitete den Sächsischen Schachverband und ab 1932 war er Hauptredakteur der Deutschen Schachzeitung. Doch bei allen Verdiensten für das Schach ist Blümich der Nachwelt vor allem als der derjenige in Erinnerung geblieben, der das legendäre Kleine Lehrbuch des Schachspiels von Jean Dufresne und Jacques Mieses verstümmelt und judenfrei gemacht hat. Denn bei seiner Bearbeitung der Neuauflagen von 1941 und 1943 des berühmten Lehrbuchs hat Blümich im nationalsozialistischen Geist die Namen aller jüdischen Schachspieler aus dem Buch entfernt. Namen von Spielern wie Lasker, Tarrasch oder Mieses, immerhin Co-Autor des Buches, sollten aus der Schachgeschichte und der Erinnerung getilgt werden.

Der Schachhistoriker Michael Negele hat 2015 auf der Webseite des Deutschen Schachbundes ein Artikel über Blümich veröffentlicht, in dem er sich auch mit Blümichs Bearbeitung des Lehrbuchs und Blümichs Verhältnis zu den Nationalsozialisten beschäftigt. Wie Negele entdeckt hat, fand ausgerechnet Jacques Mieses, der als Mitautor des Lehrbuchs von Blümichs Streichungen direkt betroffen war und als Jude vor den Nazis nach England fliehen musste, verständnisvolle Worte für Blümich. Mieses hatte vor seiner Flucht lange in Leipzig gelebt und kannte Blümich:

Die Streichung aller jüdischen Namen in der 15. und 16. Auflage des "Lehrbuches" konnte Blümich, der mir freundschaftlich nahestand, keinesfalls vermeiden, und die Übernahme der Neubearbeitung überhaupt abzulehnen, wäre für ihn, der ein höherer Postbeamter war, aus naheliegenden Gründen bedenklich gewesen. Auch hätte er damit den sehr freisinnigen Verlag nur in Verlegenheit gebracht."

Erstaunlicherweise scheint die Partie, die Blümich gegen Aljechin in der letzten Runde des Turniers in Warschau/Krakau gespielt hat, und die auf dem Bild zu sehen ist, die letzte Turnierpartie gewesen zu sein, die Blümich überhaupt gespielt hat. Im von Negele zitierten Nachruf der Deutschen Schachzeitung vom März 1942 heißt es: "Unser langjähriger Hauptherausgeber, R. Max Blümich, erlag, tief erschüttert durch den Tod seines einzigen, hochbegabten Sohnes, der vor einiger Zeit im Osten gefallen ist, am 23. Februar 1942 auf der Rückreise von der Verlobungsfeier seiner Tochter, einem Herzschlag."

Das war nicht ganz drei Monate nach Ende des Turniers in Warschau/Krakau und die Partie Blümich – Aljechin ist tatsächlich Blümichs letzte Partie in der ChessBase Megadatabase.

Aber schaut man sich die Stellung auf dem Foto näher an und vergleicht sie mit der oben zitierten Partie, dann stellt man schnell fest, dass die Stellung auf dem Foto in der Partie nie auf dem Brett stand. Wahrscheinlich wurde das Foto also nach der Partie bei der Analyse aufgenommen. Und um zu wissen, wer gewonnen und wer verloren hat, braucht man die Partie auch nicht kennen: die Körpersprache und die Blicke von Blümich und Aljechin verraten genug.

Blümich und Aljechin sind im Vordergrund des Bildes zu sehen, im Hintergrund des Bildes erkennt man, wenn man ihn kennt, auf der rechten Seite Efim Boguljubow. Aber gegen wen spielte Boguljubow? Auch das lässt sich mit Hilfe der Mega Database herausfinden. Boguljubows Gegner in der letzten Runde war Eduard Hahn, ein starker deutscher Spieler und 1931 Sieger der Bayerischen Meisterschaften. Er wurde 1911 geboren und starb 1996. In Warschau/Krakau landete Hahn mit 4,5 aus 11 auf dem geteilten 7. bis 9. Platz. Die Partie gegen Bogoljubow in der letzten Runde des Turniers in Krakau und Warschau hat Hahn allerdings verloren und mit diesem Sieg sicherte sich Bogoljubow den dritten Platz im Turnier. Die Notation dieser Partie ist allerdings verloren gegangen.

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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