Was ist Dominanz? Nun, haben Sie schon einmal ein intensives Gefühl der Hilflosigkeit erlebt, wenn Sie gegen einen viel stärkeren Gegner gespielt haben? Materiell war die Stellung ausgeglichen, aber Sie konnten kaum noch ziehen. Darum geht es: Sie wurden dominiert.
Dominanz ist die Fähigkeit, dem Gegner Handschellen anzulegen, ihn bewegungsunfähig zu machen, ihn völlig hilflos zu machen. Auf diese Weise gewinnen starke Spieler gerne ihre Partien: Gegen einen Gegner, der hilflos ist, kann man leicht gewinnen.
Bei scharfen Stellungen ist das anders: manchmal reicht ein einziger Fehler aus, um eine gewonnene Stellung in eine verlorene zu verwandeln. Aber wenn Sie die Stellung Ihres armen Gegners kontrollieren, dann können Sie sich fast alles erlauben, ohne dass sich Ihr Vorteil in Luft auflöst.
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel:
Vachier-Lagrave – Aronian, London Chess Classic 2016
Die Stellung ist ungefähr ausgeglichen. Nominell verfügt Weiß über einen kleinen Vorteil, aber das Dame+Turm Duo des Schwarzen ist sehr schlagkräftig und könnte dem weißen König eine Menge Probleme bereiten.
Nach 34…Kh7 oder 34…Dd7, was das wichtige Feld e5 im Auge behält, sollte Aronian keine Probleme haben. Aber er spielte stattdessen sorglos 34…Td1? (vielleicht mit der Idee …Td1-d3), wonach Vachier-Lagrave eine dominierende Stellung einnehmen konnte. "MVL" hat die Chance genutzt. Nach 35.De5! war die Partie praktisch vorbei. Die schwarze Dame ist jetzt an g7 gefesselt und der schwarze Turm allein kann den Vormarsch der weißen Bauern am Damenflügel nicht aufhalten.
Hier ist die vollständige Prtie:
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Aber wie erreichen wir Dominanz? Häufig ist Dominanz die Folge von Prophylaxe.
Dafür gibt es eine logische Erklärung: Mit prophylaktischem Spiel nimmt man seinem Gegner Schritt für Schritt die aktiven Möglichkeiten. Wenn man das gründlich gemacht hat, ist er völlig gefesselt und man beherrscht das Brett.
Natürlich sollte man die Prophylaxe mit einer schrittweisen Verbesserung der eigenen Figuren kombinieren. Sehen wir uns ein sehr überzeugendes Beispiel an. Wie würden Sie die Stellung im Diagramm unten bewerten?
Caruana-Shankland, Saint Louis 2016
Viele meiner Schüler neigen dazu, diese Stellung als ungefähr ausgeglichen einzuschätzen. Schließlich hat Schwarz einen hübschen Bauern auf b3 und die zwei schwarzen Schwerfiguren auf der f-Linie wirken recht bedrohlich. Aber tatsächlich steht Schwarz - objektiv gesehen - bereits auf Verlust. Es fällt schwer sich vorzustellen, wo und wie seine Leichtfiguren einmal eine schöne Zukunft haben könnten. Im Gegensatz dazu hat Caruana einen langfristigen Plan.
Caruana spielte 25.Lc1!. Dieser eigentlich "schlechte" Läufer geht nach d6, wo seine Stärke exponentiell zunehmen wird. Der arme Läufer auf e8 hat keine vergleichbaren Karriereaussichten.
Schauen wir uns nach "schnellem Vorlauf" an, wie die Stellung sieben Züge später aussieht:
Caruana-Shankland, Saint Louis 2016
Jetzt ist der weiße Vorteil offenkundig. Caruana kontrolliert die a-Linie und der weiße Springer und der weiße Läufer hemmen Shanklands Figuren. Aber wie soll Weiß fortfahren?
Nun, Weiß sollte seine Damenflügelstrategie fortsetzen. Caruana spielte 32.Dc1!, und lud damit seine stärkste Figur zur Party ein.
Drücken wir noch einmal auf "schnellen Vorlauf" und schauen wir uns die Schlussstellung der Partie an:
Caruana-Shankland, Saint Louis 2016
Offensichtlich kontrolliert Weiß die Stellung. Die schwarzen Figuren sind hilflos und werden von der weißen Armee gejagt. Bemerkenswert ist, dass Caruana all seine Figuren, inklusive König und Springer, zum Damenflügel gebracht hat.
Und hier ist die vollständige Partie:
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Es gibt noch einen anderen Weg, Dominanz zu erreichen. So überraschend es klingen mag, so ist Dominanz oft das Ziel einer Opferkombination oder eines direkten Angriffs. Schauen wir uns ein interessantes Beispiel an:
Nakamura-Iturizzaga Bonelli, Gibraltar Masters 2019
Erneut könnte man denken, dass Schwarz gut steht. Seine Figuren über Druck aus, der Bauer auf c4 hängt. Aber nicht alle Figuren des Schwarzen stehen gut. Der Springer auf b8 und der Turm auf a8 befinden sich im Tiefschlaf. Und das ist der entscheidende Faktor in der Stellung, den Nakamura meisterhaft ausgenutzt hat.
Er spielte:
16.Sd2! Le5
Schwarz muss so spielen. Nach dem Rückzug des Läufers auf e4, spielt Weiß selber e2-e4 und erhält ohne Zugeständnisse eine dominierende Stellung.
17.Sxe4 Lxa1 18.Sd6
Der Springer hat das Schlüsselfeld erreicht. Ohne …d7-d6 bleibt der schwarze Damenflügel lange Zeit im Dornröschenschlaf.
18…Tf8 19.e4 Le5 20.Lf4 Lxd6 21.Lxd6 Te8 22.e5
Nakamura hat sein Ziel erreicht. Er opferte ein wenig Material (ein aktives Läuferpaar ist oft genauso stark wie Turm+Springer), um so die vollständige Kontrolle über das Zentrum zu bekommen. Danach griff Weiß den hilflosen schwarzen König an und gewann mühelos.
Denken Sie daran: Dominanz ist ein wichtiges Ziel einer Kombination oder eines Angriffs. Normalerweise suchen wir immer nach Matt oder Materialgewinn, wenn wir Varianten berechnen. Aber oft erreichen wir diese Ziele nicht direkt. Wenn das passiert, dann prüfen Sie, ob Sie Ihren Gegner stattdessen dominieren können.
Und hier ist die vollständige Partie:
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Dominanz ist ein häufiges Motiv im Endspiel. Schauen wir uns ein klassisches Beispiel an:
Marshall-Maroczy, Ostende Masters 1905
Der erste Eindruck ist auch hier trügerisch. Die Stellung scheint ausgeglichen zu sein. Und wäre Weiß am Zug, so wäre das auch tatsächlich so. Aber Maroczy ist am Zug, und er zeigt überzeugend, dass Weiß tatsächlich auf Verlust steht.
31…Dd1+ 32.De1 Dd3+ 33.Kg1 (33.De2 Db1+ verliert einen Bauern) Dc2 34.Da1
Was für ein tragikomischer Anblick! Die schwarze Dame terrorisiert beide Figuren des Schwarzen und kann aus ihrer dominierenden Stellung nicht vertrieben werden. Maroczy spielte umsichtig 34…a5! und nach 35.g3 (35. b4 verliert nach 35…axb4 36.axb4 De4 einen Bauern) a4 war Weiß im Zugzwang.
Und hier ist die vollständige Partie:
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Jeder Großmeister weiß, welch starke Waffe Dominanz ist. Deshalb versuchen sie, es um jeden Preis zu vermeiden, dominiert zu werden.
Jobava-Georgiev, Europameisterschaft 2009
Schwarz hat Probleme, da er die schlechtere Bauernstruktur hat. Außerdem droht Jobava, seinen Läufer nach d5 zu bringen. Dann müsste Schwarz seine Hoffnungen, aktiv zu werden, begraben. Deshalb hat Georgiev die Notbremse gezogen.
Er spielte 24…d5!? 25.Txd5 e4! 26.Dxe4 Dxc3.
Ja, Schwarz steht immer noch schlechter. Aber die Lage ist nicht mehr so einseitig. Für den Preis eines Bauern bekam Georgiev einen starken Freibauern auf der c-Linie. Und, am Wichtigsten, er konnte es vermeiden, positionell erdrosselt zu werden.
Und hier ist die vollständige Partie:
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Viele Vereinsschachspieler betrachten Schach als eine Art Wettrennen. Weiß hat einen Plan, Schwarz hat einen Plan, und wer seine Idee zuerst umsetzt, gewinnt. Aber die Realität sieht anders aus. Wir wollen nicht, dass unser Gegner mit uns um die Wette läuft.
Wir wollen nicht, dass er überhaupt einen Plan hat! Sie wollen ihm Handschellen anlegen, eine große Metallkugel ans Bein binden und dann - langsam und in aller Ruhe - Ihren Plan ausführen.
So gewinnen Schachgroßmeister. Wenn Sie auf die gleiche Weise gewinnen wollen, konzentrieren Sie sich auf die hohe Kunst der Dominanz.
Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Fischer
Middlegame Secrets Vol.1 + Vol.2
Lassen Sie uns gemeinsam lernen, wie man die besten Felder für die Dame im frühen Mittelspiel findet, wie man diese Figur auf dem Brett navigiert, wie man den Damenangriff zeitlich abstimmt, wie man entscheidet, ob man sie tauscht oder nicht, und vieles m
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