Von Gregor Poniewasz
Kasparow hat 1997 doch nicht gegen „Deep Blue“ verloren: Philosophie und Ausblick zum Computerschach
Seit wenigen Tagen läuft die TV-Serie „Rematch“ auf Arte, die mit dem 1997er-Match Kasparow gegen IBMs „Deep Blue“ den vermeintlichen Sieg der Computer-Hirne über Menschen-Hirne zeigt. Wie sehr dieses Match als für die Menschen bitteres Ende des „Man versus Machine“-Kampfes in der Populärkultur und allgemein gesehen wird – die amerikanische Zeitschrift „Newseek“ nannte es 1997 auf dem Titelbild gar die „letzten Bastion“ der denkenden Menschheit – wird allein schon dadurch deutlich, dass über ein Vierteljahrhundert später Größen wie Disney diesen Stoff aufwändig verfilmen. Der letzte Teil der Serie zeigt den geradezu verzweifelt hoffenden anfeuernden Applaus für Kasparow vor dem letzten Spiel, als er neben die ungeliebten IBM-Technik-Vertreter auf die Bühne tritt. Man könnte Frederic Friedel von Chessbase fragen, ob es diesen Ansporn-Applaus wirklich so gegeben hat, denn er war dabei, doch das ist unerheblich, denn die Macher der Serie stellen es sich so vor, denn auch sie sagen damit was gemeinhin akzeptiert ist: Schon seit dem vorigen Jahrtausend können Computer besser denken als Menschen.
Und dieses unheimliche Faszinosum findet eben nicht nur in zahlreichen Hollywoodfilmen Ausdruck, sondern auch in unserer Wahrnehmung von Technik und Computern an sich: Wir meinen eine unergründlich-komplexe Technik, die auf wundersame Weise die bisherige menschliche Denk-Bastion Schach einnimmt, und die mit der merkwürdigen nicht ungefährlichen Versuchung zusammenhängt, Maschinen zu sehr zu trauen, wie das Problem zuweilen halluzinierender KI zeigt.
Das Phänomen heißt “Automation Bias” und ist hinlänglich belegt: Als neueste Betrachtung wird der deutsche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Ingmar Suhr in seinem in diesem Dezember erscheinenden Buch dazu darlegen, dass Menschen ein Verlangen haben, Maschinen in gewisser Weise glauben zu wollen. Sie wünschen sich geradezu eine schlaue(re) Maschine als Gegenüber - ist das auch der tiefliegende Ansatz eines gegen eine Schach-Engine spielenden Menschen?
Natürlich nutzen ernsthafte Schachspieler Computerschach, um Varianten zu finden, Ideen zu testen, sich auf Gegner vorzubereiten, und nicht, um zu versuchen gegen das Programm zu gewinnen. Natürlich ist es Schachfans völlig berechtigterweise völlig egal, dass längst jedes Handy heute besser spielen kann als Magnus Carlsen. Interessieren tun neue Erkenntnisse. Und dennoch geht viel Aufwand in die künstliche Schwächung zum Beispiel von Fritz, damit Menschen nicht die Lust am Spiel gegen die eigentlich zu starke Engine verlieren.
Offenbar ist es also immer noch ein Reiz für Menschen, vermeintlich gegen “den Computer” zu gewinnen. Warum spielen Menschen nicht ausschließlich gegen andere Menschen auf Online-Plattformen? Die Partien sind bei vergleichbarer Spielstärke meist spannender, da die künstliche Schwächung von Schachsoftware sehr komplex und oft bis heute nicht befriedigend ist, obwohl Microsoft spannende Versuche unternimmt, genau das – auch wieder mit Hilfe von KI – zu erreichen.
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„Aber ‚Deep Blue‘ hat doch gegen Kasparow gewonnen!“ Nein, und nichts könnte falscher sein als diese Wahrnehmung – chess.com nannte das Turnier sogar völlig abwegig „das Match das die Geschichte verändert hat“ – und ausgerechnet das damalige Match selbst ist der beste Beweis dafür: Denn tatsächlich probierte „Deep Blue“ seinerzeit nur rasend schnell Züge aus. Doch da damals – wie übrigens bis heute – die Computerleistung nicht auch nur annähernd ausreichte, um von jeder Stellung jedes mögliche Ende einer Partie auszurechnen, wurde und wird Schachprogrammen ein überaus komplexes Bewertungssystem mitgegeben, um Zugausprobierereien in den meisten aussichtslosen Richtungen gar nicht erst weiterzuverfolgen und damit Rechenleistung zu sparen.
Und damals wie heute wird das meiste und die Programme differenzierende an diesem Bewertungssystem von Menschen eingebracht, meist Schach-Experten, und so nahmen 1997 sogar während des laufenden Turniers mehrere Großmeister Justagen am „Deep Blue“-Programm auf Grundlage von Kasparows aktuellem Spielverhalten vor. Bekanntlich bezeichnete Kasparow das als Schummel, was ihm lange als schlechte Verliererei ausgelegt wurde, doch rein technisch gesehen hatte er mit diesem Vorwurf völlig Recht. Und daher ist das Ergebnis des Turniers, ganz anders als eben die öffentliche Wahrnehmung davon, weder computertechnisch beeindruckend noch relevant für die Bewertung von Computer-Leistung, geschweige denn -Intelligenz. Und damit war 1997 auch nicht der Zeitpunkt, als Maschinen anfingen, besser denken zu können als Menschen. Und es war auch noch nicht einmal der Zeitpunkt, seitdem Maschinen spannendere Schachpartien spielen als Menschen.
Denn das erreichten Computer erst volle 20 Jahre später, 2017, als eine britische Tochterfirma von Google das Schachprogramm “Alpha Zero” entwickelte. Wie bekannt basierte dieses auf der völlig anderen Technik der künstlichen Intelligenz mit neuronalen Netzen, das sich das Spiel per maschinellem Lernen selbst beibrachte. Dies ist das bislang höchstentwickelte Computer“denken“ das es gibt.
Auch Fritz nutzt die Technik. In den 20 Jahren wurde die Rechenleistung von Computern ungefähr vereintausendfacht, nur dadurch wurde diese Programmiertechnik möglich. (Exaktere Berechnungen werden leicht andere Werte ergeben, denn man müsste berücksichtigen, dass der Spezial-Computer „Deep Blue“ damals deutlich schneller war als Durchschnitts-PCs, doch auch Googles Programm lief 2017 auf speziellen Prozessoren, die 25.000mal schneller waren als selbst mit Spezial-Hardware ausgestattete Konsumenten-PCs 2017.)
Und die völlig technikeigene da selbst beigebrachte Herangehensweise von KI-Computerprogrammen an Schach beeinflusst natürlich auch menschliches Spiel: Magnus Carlsen gab freimütig zu, dass er die zahlreichen veröffentlichten Partien von Alpha Zero studiert und viel aus ihnen gelernt hat. Sicher hat nicht zuletzt dies einen Anteil daran gehabt, dass die Folgejahre Carlsens erfolgreichste bisher waren. Und Garri Kasparow selbst hat attestiert, dass Menschen viel vom KI-basierten Schach lernen können.
Bemerkenswerterweise also wurden sehr spannende neue Erkenntnisse zu Schach eben nicht von „Deep Blue“ 1997 gewonnen sondern erst per KI von Alpha Zero vor gerade erst sieben Jahren, am verblüffendsten vielleicht das entdeckte Entwicklungspotenzial eines weit vorziehenden h-Bauern.
In Weissenhaus an der Ostsee, Februar 2024: Möglicherweise ist er der einzige Mensch der Erkenntnisse aus KI-Schach in der Tiefe durchdringen kann
Das eröffnet nach der Anerkenntnis, dass von echtem Computerschach eigentlich also erst seit jüngster zeit, seit 2017, gesprochen werden kann, einen spannenden technikphilosphischen Blick auf Schach: Erst etwa 500 Jahre nach der Erstellung von Schachregeln durch Menschen sind ganz neue Wege im Schach durch die Computer-KI erarbeitet worden. Menschen haben also mit Schach bemerkenswerterweise ein Spiel, ein Regelwerk, erfunden, dass sie selbst nie vollständig beherrsch(t)en. Menschen scheinen also faszinierenderweise in der Lage zu sein, Rahmen zu einem Thema aufzustellen, ohne aber diese Regelwerke selbst perfekt anwenden zu können oder auch nur ermessen zu können, was auch nur innerhalb dieser aufgestellten Grenzen möglich ist. Und das wiederum lässt überaus spannende Möglichkeiten fruchtbarer Zusammenarbeit menschlicher und künstlicher Intelligenz am Horizont erkennen.
Eine Übersicht über knapp 600 Studien über die Haltung von Menschen zu künstlicher Intelligenz voriges Jahr hat ergeben, dass die meisten Menschen künstlicher Intelligenz fachlich ungerechtfertigt Fähigkeit zu menschlichem Denken zuschreiben. Doch soweit ist KI noch lange nicht. Insofern sind KI-Schachprogramme ein guter Indikator dafür, wo wir mit KI gerade stehen und wo noch nicht. Das hat vor zwei Jahren der Amerikaner Erik J. Larson gut ausgeleuchtet. Denn wie sehr wir bei Erkenntnissen zum Spiel trotz KI-Computerschach erst am Anfang stehen, zeigt die Tatsache, dass selbst Alpha Zero und die folgenden KI-Schachprogramm-Adaptionen immer noch kein perfektes Schach im Sinne einer von jeder beliebigen Stellung bis zum jeden möglichen Ende ausberechneten Lösung spielen können, dafür reicht selbst heute die Computerleistung nicht aus.
Bekanntermaßen sind alle Möglichkeiten zu Ende gerechnet bei erst lächerlichen sieben verbliebenen Figuren insgesamt, schwarz und weiß zusammen, inklusive Könige, auf dem Feld, ausgehend von ganzen 32 zum Beginn. Derzeit ist nicht einmal klar wann man die 8-Figuren-Datenbanken fertig haben wird, so anspruchsvoll sind die nötigen Berechnungen. Das zeigt auch, wie komplex oder wie immer noch spannend-geheimnisvoll Schach ist, denn bei Schach kann es eine theoretische Perfektion geben, die interessante Erkenntnisse bringen wird. Doch diese war weder 1997 da noch 2017 noch ist sie heute da und es gibt Berechnungen zur Weiterentwicklung der Computer-Geschwindigkeit, die nahelegen , dass es mindestens noch viele Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte dauern kann, bis das möglich ist.
Es gibt Hinweise darauf, dass Quantencomputer das beschleunigen könnten, aber das ist noch unsicher. Vielleicht also wird es noch weitere 500 Jahre dauern wie seit der Erfindung des Schach, bis wir von absolut echten „Computer-Schach-Programmen“ sprechen und uns letzten Endes mit den Maschinen messen können…