Amateur gegen Profi: Ein theoretisches Duell

von Johannes Fischer
27.04.2019 – Mitte der 1970er Jahre gehörte Helmut Pfleger zu den besten 50 Spielern der Welt. Aber er war Arzt von Beruf und blieb trotz aller Erfolge im Schach immer Amateur. So hatte er gegen die Profis in Sachen Theorie oft einen schweren Stand. Trotzdem gewann er in einem theoretischen Duell gegen einen der größten Eröffnungsexperten der damaligen Zeit eine der wichtigsten Partien in der Geschichte der Schacholympiaden. | Foto: Helmut Pfleger | Foto: Hartmut Metz

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Profi gegen Amateur: Lev Polugaevsky vs Helmut Pfleger

Lev Polugaevsky (* 20. November 1934 in Mogilew; † 30. August 1995 in Paris) war ein Weltklassespieler und mehrfacher WM-Kandidat. Im Juli 1972 und im Januar 1976 lag er gemeinsam mit Tigran Petrosian auf Platz 3 der Weltrangliste und 1973, 1976 und 1979 qualifizierte er sich bei den Interzonenturnieren für die Kandidatenwettkämpfe. Polugaevsky wurde drei Mal Sowjetischer Meister – 1967 (zusammen mit Mihail Tal), 1968 und 1969 (zusammen mit Petrosian) – galt als ausgezeichneter Theoretiker und vor allem als großer Experte der Sizilianischen Verteidigung.

Lev Polugaevsky | Foto: Rob Croes / Anefo [CC0], Wikimedia Commons

Besonders angetan hatte es ihm ein zweischneidiges Abspiel des Najdorf-Sizilianers (1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 b5!?), die nach ihm benannte Polugaevsky-Variante. Trotz aller Rückschläge und ohne Angst, dass sich seine Gegner in den vielen zweischneidigen taktischen Abspielen genau vorbereiten könnten, wandte Polugaevsky "seine" Variante immer wieder an und bemühte sich Jahre lang – und ohne Hilfe eines Computers – nachzuweisen, dass die schwarze Stellung nach 7...b5 spielbar ist. Die Geschichte seiner Analysen dieser Variante hat Polugaevsky in seinem Buch Aus dem Labor des Großmeisters erzählt, ein auch heute noch bemerkenswertes Eröffnungsbuch und ein Zeugnis der Arbeitsethik, der Schachauffassung und der Schachbegeisterung von Polugaevsky.

Für solch tiefschürfende theoretische Untersuchungen fehlte Helmut Pfleger (geboren am 6. August 1943 in Teplitz-Schönau, im Sudetenland) die Zeit. Er gehörte seit Mitte der 1960er zu den besten Spielern der Bundesrepublik Deutschland, aber konzentrierte sich erst auf sein Medizinstudium und danach auf seine Arbeit als Arzt. 1965 wurde er Internationaler Meister, 1971 promovierte er im Fachbereich Medizin und arbeitete anschließend in München als Internist und Psychotherapeut. Großmeister wurde er 1975.

In der ersten Begegnung zwischen Pfleger und Polugaevsky spielten theoretische Kenntnisse allerdings keine große Rolle. Bei der Olympiade in Lugano 1968 einigten sie sich bereits nach 13 Zügen auf Remis.

 

Ein Jahr später, bei einem Turnier in Ludwigsburg 1969, trafen die beiden zum zweiten Mal aufeinander, und in dieser Partie geriet Pfleger mit Schwarz bereits in der Eröffnung unter die Räder.

 

Diese Partie gefiel Polugaevsky so gut, dass er sie später in seine Partiensammlung Grandmaster Performance aufnahm.

Auch in der dritten Partie der beiden, die im März 1973 bei einem Turnier in Tallinn gespielt wurde, hatte Pfleger Schwarz. Wieder geriet er in der Eröffnung unter Druck und landete bald in einem damenlosen Mittelspiel, das zu einem schlechteren Endspiel führte, das Pfleger nicht halten konnte.

 

Pfleger schlägt zurück

Wie der Zufall es wollte, hatte Pfleger auch in der vierten Partie gegen Polugaevsky, die im August 1975 bei einem Turnier im spanischen Montilla gespielt wurde, wieder Schwarz. Nach der unerfreulichen Bilanz von einem Remis und zwei Niederlagen aus den ersten drei Partien musste er sich etwas einfallen lassen, um gegen den gut vorbereiteten Theoretiker Polugaevsky bestehen zu können. Pfleger entschied sich für ein damals neues Konzept in der Tarrasch-Verteidigung, das Schwarz gute taktische Möglichkeiten und Chancen auf Gegenspiel versprach. Eine gute Wahl: Polugaevsky kannte sich in den Feinheiten dieser Variante nicht aus und bekam das starke schwarze Gegenspiel nicht unter Kontrolle.

 

Mittlerweile ist das Konzept mit 9...c4 theoretisch gut erforscht und Partien wie diese machen deutlich, warum Erwin l’Ami in seiner DVD über die Tarrasch-Verteidigung diese Variante empfiehlt.

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Suchen Sie nach einer aktiven Verteidigung gegen 1.d4? Suchen Sie nicht weiter! Die Tarrasch Verteidigung (1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5) ist eine der aggressivsten schwarzen Eröffnungen gegen 1.d4.

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Insgesamt trafen Pfleger und Polugaevsky sechs Mal aufeinander, und die einzige Partie, in der Pfleger Weiß hatte, wurde im Oktober 1975 bei einem Turnier in Manila gespielt. Sie endete nach 22 Zügen und ohne viel Aufregung mit Remis.

 

Eine historische Niederlage

Ihre sechste, letzte und bedeutsamste Partie spielten Pfleger und Polugaevsky bei der Schacholympiade 1978 in Buenos Aires. Pfleger hatte zum fünften Mal Schwarz und wenig überraschend wiederholte Polugaevsky, der großes Vertrauen in seine Eröffnungsvarianten und Eröffnungsanalysen hatte, die theoretische Diskussion in dem Abspiel der Tarrasch-Verteidigung, mit der er drei Jahre zuvor gegen den gleichen Gegner Schiffbruch erlitten hatte. Doch auch dieses Mal brachte die Variante Polugaevsky kein Glück. Erneut begriff Pfleger die taktischen Nuancen der Stellung besser und Polugaevsky verlor auch diese Partie.

 

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Diese Partie war nicht nur theoretisch bedeutsam, sondern auch historisch wichtig: sie wurde in der 9. Runde der Schacholympiade beim Wettkampf Bundesrepublik Deutschland gegen die UdSSR gespielt und verhalf der Mannschaft der Bundesrepublik zu einem überraschenden 2,5:1,5 Sieg. Diese unerwartete Niederlage brachte die favorisierten Sowjets, die in den vorherigen acht Runden der Olympiade lediglich mit einem 2:2 Unentschieden gegen England einen einzigen Mannschaftspunkt abgegeben hatten, aus dem Rhythmus. Nach dem Rückschlag gegen Deutschland kam die sowjetische Mannschaft in Runde 10 gegen Israel und in Runde 11 gegen Schweden über ein 2:2 Unentschieden nicht hinaus und landete am Ende mit 23 Mannschaftspunkten und 36 Brettpunkten nur auf dem zweiten Platz hinter der Mannschaft aus Ungarn, die ebenfalls 23 Mannschaftspunkte hatte, aber einen Brettpunkt mehr holen konnte. Eine bittere und historische Niederlage für die erfolgsverwöhnten Sowjets.

1952 in Helsinki war die Sowjetunion das erste Mal bei einer Schacholympiade dabei, die Olympiade 1976 in Haifa hatte die UdSSR aus politischen Gründen boykottiert, aber von Helsinki 1952 bis zur Olympiade in Novi Sad 1990, der letzten Olympiade vor dem Zerfall der UdSSR, konnte die Sowjetunion alle Schacholympiaden gewinnen, bei denen sie an den Start gegangen war – mit Ausnahme der Olympiade in Buenos Aires 1978. Pflegers Sieg im Theorieduell gegen Polugaevsky hat zu diesem Misserfolg der Sowjets maßgeblich beigetragen.

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Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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