Gewinnen lernen 7: Warum ist die Drohung stärker als die Ausführung?

von Jan Markos
21.05.2024 – Das bekannte Bonmot "Die Drohung ist stärker als ihre Ausführung" wird Aron Nimzowitsch (Bild) zugeschrieben, zu seinen besten Zeiten die Nummer 3 der Welt und Autor des Klassikers "Mein System". Der Ausspruch ist prägnant und paradox und hat schon manchen Schachspieler verwirrt. Denn wie kann denn eine Drohung jemals stärker sein als ihre Ausführung? Jan Markos hat ein paar Antworten. | (Foto: L'Echiquier 1931)

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"Die Drohung ist stärker als ihre Ausführung" ist wohl eine der rätselhaftesten Regeln des Schachs. Ich erinnere mich, dass ich diesen Satz (der Nimzowitsch zugeschrieben wird) in meinen Teenagerjahren viele Male gesagt bekam und ihn dennoch nicht verstand, obwohl ich ansonsten ein relativ aufgeweckter Schachschüler war.

Ich war verwirrt: Warum sollte ich eine starke Drohung nicht ausführen? Warum sollte ich warten? Und wie stark kann eine Drohung denn eigentlich sein, wenn es besser ist, sie gar nicht auszuführen?

Vor kurzem landete ich zufällig in einem Schachforum zu diesem Thema und stellte fest, dass es vielen Vereinsspielern ähnlich geht.

Ein Spieler mit dem Handle Divyesh_B fragte: "Ich habe diesen Satz in vielen YouTube-Videos gehört und in einigen Büchern gelesen, aber nie wirklich verstanden, wie eine Drohung stärker sein kann als ihre Ausführung. Kann mir das bitte jemand erklären?"

Aber die Antworten auf diese Frage waren leider auch nicht besonders klar:

"Drohung heißt, dass die Gegenseite gezwungen ist, sich zu verteidigen, was ihre Ideen durchkreuzt, gegen einen selbst aktiv zu werden....vermute ich mal."

"Frag mich nicht, ich habe das nie behauptet....:("

"Im Prinzip heißt das, die Drohung ist ein Bluff."

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So fällt uns die Aufgabe zu, diese geheimnisvolle Regel von Nimzowitsch zu erklären. Beginnen wir mit einem schönen Beispiel:

Shcherbakov - Daniliuk, Elista 1995, Weiß am Zug:

Die weißen Leichtfiguren gleichen einem geladenen Gewehr. Weiß verfügt über eine ganze Reihe von Abzugschachs, aber keins davon gewinnt sofort. Weiß hat sich deshalb in der Partie alle Möglichkeiten offengehalten und mit 40.Dxa7!? einfach einen Bauern weggenommen. Er gewann die Partie ohne größere Probleme.

Allerdings hätte Weiß direkter gewinnen können. Die beste Fortsetzung war das verblüffende 40.Df4!! Dxa1+ 41.Kh2, z.B. 41…Kf6 42.Dd6+ Le6 43.Df8+ Lf7 44.Dg7+ mit Gewinn der schwarzen Dame auf a1.

Beachten Sie, wie die weiße Dame in dieser Variante mit dem Springer auf f5 zusammenarbeitet. Der Tanz der weißen Dame war nur möglich, weil Weiß darauf verzichtet hat, den "Schuss abzufeuern" und den Springer auf seiner starken Stellung belassen hat.

Indem er den Springerabzug verzögert, erreicht Weiß etwas Bemerkenswertes: sein Springer befindet sich an vielen Stellen gleichzeitig. Natürlich steht er offensichtlich auf f5, aber zugleich auch auf h4, g3, e3, e7, d6 etc., da Weiß ihn sofort auf diese Felder ziehen kann. Der weiße Springer auf f5 ähnelt Schrödingers Katze: Er ist auf f5 und ist es zugleich nicht.

Eine nicht ausgeführte Drohung erlaubt es uns, unseren Gegner gleichzeitig mit zwei Szenarien zu konfrontieren: 1) die Drohung wird ausgeführt, und 2) die Drohung wird nicht ausgeführt. Unser Gegner muss auf beide Szenarien vorbereitet sein und sein Spiel entsprechend anpassen. Damit sind seine Möglichkeiten stark beschränkt, während unsere Möglichkeiten stark erweitert sind.

Außerdem zögern wir die Ausführung von Drohungen in der Regel nur dann hinaus, wenn sie noch nicht entscheidend sind. Die Drohung nicht auszuführen bedeutet also, den besten Zeitpunkt für ihre Ausführung zu suchen.

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In der folgenden Stellung ging Schwarz viel zu überhastet vor:

Petrosian-Zhou, Lake Sevan 2011, Schwarz am Zug:

Der Weiße hat eine schöne Angriffsstellung und die meisten seiner Figuren sind gegen den schwarzen König gerichtet. Zhou hat sich deshalb dazu entschlossen, mit 25…d3? die Notbremse zu ziehen. Aber für den geopferten Bauern bekommt er nicht genug Kompensation. Nach 26.Lxd3 Sxd3 27.Txd3 Txd3 28.Dxd3 Td8 29.De2 steht Weiß einfach besser. Das schwarze Läuferpaar sieht gut aus, aber hat keine Angriffsziele, was Weiß Zeit gibt, seine Stellung allmählich zu verbessern.

Aber Schwarz hätte mit viel mehr Geduld vorgehen können. In der Diagrammstellung verfügt er über viele defensive Ressourcen, wenn er mit dem Zug …d4-d3 wartet, bis ein passender Moment gekommen ist. Der paradoxe Zug 25…h5!, den einer meiner Schüler vorgeschlagen hat, ist sehr stark. Schwarz schwächt den Schutz seines eigenen Königs etwas, aber nimmt dem weißen Springer das Feld g4 und verzögert so den weißen Angriff. Natürlich kommt 26.Sf3 nicht in Frage, da ...d4-d3 dann sehr viel stärker ist als zuvor. Nach langer Analyse sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Weiß wahrscheinlich 26.Ld3 spielen sollte, um die Drohung …d4-d3 zu unterbinden. Doch nach 26…Sxd3 sichert sich Schwarz wie in der Partie das Läuferpaar, allerdings steht sein Bauer hier noch auf d4 und das Materialverhältnis ist ausgeglichen. Ein gutes Ergebnis für ein wenig Geduld, nicht wahr?

Hier ist die ganze Partie:

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Das folgende Beispiel stammt aus einer äußerst wichtigen Partie, nämlich der 10. Partie des Weltmeisterschaftskampfes zwischen Carlsen und Karjakin 2016.

Carlsen-Karjakin, World Championship match (10), New York 2016, Weiß am Zug:

Eine kurze Erinnerung an die Umstände, unter denen diese Partie gespielt wurde: Carlsen befand sich in einer sehr schwierigen Wettkampfsituation. Er hatte die achte Partie des Wettkampfs verloren, aber konnte bis dahin noch keine Partie gewinnen. Da nur noch zwei weitere Partien zu spielen waren, musste er diese günstige Stellung unbedingt gewinnen.

Der Plan des Weißen ist einfach: Er muss den Vorstoß b4-b5 durchsetzen. Aber wann soll er zuschlagen? Jetzt oder später?

Wann ist es möglich, mit einer Drohung zu warten? Nun, wenn der Gegner die Drohung sowieso nicht verhindern kann. Oder, allgemeiner gesagt, wenn er seine Stellung in absehbarer Zeit nicht verbessern kann. In der Diagrammstellung spielt Zeit für Schwarz keine so große Rolle, da er sich für lange Zeit passiv verteidigen muss.

Carlsen hat deshalb beschlossen, geduldig zu sein. Mit dem Aufschieben der Drohung hat er sein Gegner vor ernste psychologische Probleme gestellt. Schwarz muss in den folgenden Zügen stets mit b4-b5 rechnen, und das kostet eine Menge Zeit und Energie.

Die Partie ging langsam weiter:

48.Ta3 Sd4 49.Td1 Sf5 50.Kh3 Sh6 51.f3 Tf7 52.Td4 Sf5 53.Td2 Th7 54.Tb3 Tee7 55.Tdd3 Th8

Magnus, ist die Zeit jetzt reif?

56.Tb1

Nein, noch nicht. Erst sollte der Turm h8 auf ein etwas schlechteres Feld gelockt werden…

56...Thh7 57.b5!

Jetzt! Carlsen hat endlich mit einen direkten Angriff begonnen, und der erwies sich als erfolgreich. Karjakin gab 18 Züge später auf.

Wie viel Zeit und Energie Carlsen seinem Gegner mit dem Verzögern des Vorstoßes b4-b5 geraubt hat, kann man nicht genau sagen, aber ich glaube, die meisten von uns wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer es psychologisch ist, in schlechterer Stellung nur passiv warten zu können.

Hier ist die vollständige Partie:

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Die "Drohung-Ausführung"-Regel kann uns auch beim Variantenrechnen helfen. Sie erinnert daran, dann ein Angriff nach ein paar forcierten Zügen manchmal vorteilhaft verlangsamt werden kann.

Krasenkow-Radjabov, Dos Hermanas 2001, Schwarz am Zug:

In dieser Stellung hat sich Radjabov dazu entschlossen, b2-b4 zuzulassen und hat 11…Se8 gespielt. Aber beim Schreiben meines Buches "Beat the KID", das sich mit dem Königsinder beschäftigt, habe ich festgestellt, dass Schwarz sehr viel ehrgeiziger spielen kann.

Logischer ist 11…Ld7!

Jetzt muss Weiß 12.b4 spielen, da Schwarz droht, den weißen Damenflügel mit …a5-a4 lahmzulegen.

Schwarz kontert mit einem Opfer:

12…Scxe4! 13.Sdxe4 Nxe4 14.Sxe4 f5 15.Sc3

Aber was jetzt? Schwarz scheint keine gute Fortsetzung zu haben, die das Opfer rechtfertigt. 15…f4 gibt das Feld e4 auf, 15…e4 erlaubt 16.Ld4. Hat Schwarz genug Kompensation?

Ja, er hat! Er muss sich nur an die "Drohung-Ausführung"-Regel erinnern. Nach dem einfachen 15…De7!! befindet sich Weiß in einer schwierigen Lage. Schwarz droht plötzlich, …f5-f4 nebst …e5-e4 zu spielen. Die Stellung ist immer noch ungefähr ausgeglichen, aber sie ist für Schwarz sehr viel einfacher zu spielen als für Weiß. (Ich kann verraten, dass die besten Züge des Weißen auf den ersten Blick alle paradox aussehen: 16.h4, 16.b5 oder sogar 16.Se4).

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Fassen wir zusammen, was die Regel "Die Drohung ist stärker als ihre Ausführung" tatsächlich bedeutet:

  1. Wenn Ihre Drohung sofort entscheidet, dann führen Sie diese Drohung aus. Es gibt keinen Grund zu warten.
  2. Wenn Ihre Drohung aussichtsreich, aber nicht entscheidend ist, dann könnte es ratsam sein, mit der Drohung zu warten, da man so die gegnerischen Möglichkeiten einschränkt, da der Gegner sich auf verschiedene Szenarien einstellen muss.
  3. Mit der Drohung zu warten, könnte auch helfen, einen besseren Zeitpunkt für die Ausführung der Drohung zu finden.
  4. Für Ihren Gegner ist es ebenfalls anstrengend und psychologisch schwer, auf die Ausführung der Drohung zu warten, und deshalb kann es psychologisch vorteilhaft sein, mit der Ausführung der Drohung zu warten.

Im Gespräch: Jan Markos

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Jan Markos ist ein slowakischer Schachautor, Trainer und Großmeister. Sein Buch "Under the Surface" wurde 2018 vom Englischen Schachverband zum Buch des Jahres gewählt. Sein neuestes Buch, "The Secret Ingredient", das er zusammen mit David Navara geschrieben hat, konzentriert sich auf die praktischen Aspekte des Schachs, z.B. Zeitmanagement am Brett oder Vorbereitung auf einen bestimmten Gegner. Markos war vor zwanzig Jahren U16-Europameister und jetzt verhilft er seinen Schülern aus mehreren Ländern zu ähnlichen Erfolgen. Neben Schachbüchern hat er auch Bücher über kritisches Denken, moralische Dilemmata und Phänomenologie geschrieben.