Quo vadis Vincent?
Die Turniere in Wijk sind entschleunigt und in jeder Hinsicht lang. 13 Runden bei recht üppiger Bedenkzeit fordern allen Spieler sehr viel ab und decken die eigenen Schwächen gnadenlos auf. Vincent Keymer muss vor allem an seinem Zeitmanagement arbeiten.
Über Verbesserungen
Entwicklungen der eigenen Spielstärke kann man mit Hilfe der Ratingzahl messen, wobei ein solcher Maßstab für Entwicklungen sicherlich nur der Anfang der Betrachtung sein sollte. Wie das Ergebnis in einem einzelnen Turnier zustande kommt, hängt zum Beispiel auch stark vom Turnierstart ab.
Die interessantesten Entwicklungen können bei aufstrebenden Teenagern beobachtet werden. Ambitionierte Junioren sind noch nicht an ihrem Leistungszenit angekommen und besitzen daher noch erhebliches Verbesserungspotential in allen Spielphasen. Für reifere, meist ältere Spieler, sind lange Zeit eingeübte, schädliche Verhaltensweisen viel schwieriger zu korrigieren. Zunächst muss man sich allerdings, wenn man besser werden will, in jedem Alter mit der Frage beschäftigen, welcher Art die eigenen Schwächen sind. Als Beispiel solcher Überlegungen dient mir hier der aktuell hellste Stern am deutschen Schachhimmel.
Vincent in Wijk an Zee 2019 und 2020
Vincent Keymer hat sich beim Jahresauftaktturnier in Wijk aan Zee 2020 besser geschlagen als im Jahr zuvor. Sein Ergebnis war mit 7 aus 13 (Plus 1) bei etwas stärkerer Besetzung um anderthalb Punkte (Performance: 2637) besser als im Vorjahr (2529) und brachte ihm den geteilten sechsten bis siebten Platz. 2020 gelangen ihm drei Siege, was in einem Turnier der Kategorie 15 (Ø2602) völlig akzeptabel ist. Seine Performance entspricht dabei einer um einen halben Punkt übererfüllten Großmeisternorm und bescherte Vincent, der mit einer Zahl von 2527 als Nummer 11 der Setzliste ins Turnier gestartet ist, weiteren Elo-Zuwachs.
Abschlusstabelle Challengers Tata Steel 2020
Vincents Ergebnis war über die gesamte Strecke des Turniers nicht nur seinem Glück oder dem Unvermögen der Gegner zu Beginn des Turniers (Partien gegen Anton Smirnov und Lucas Van Foreest) geschuldet, sondern Vincent hatte mehrfach Chancen auf ein besseres Ergebnis, die er allerdings zu wenig nutzte oder zu häufig in Zeitnot verspielte.
Am Anfang des Turniers wurde Vincent von einer Grippe geplagt. | Foto: Alina l'Ami
Bei seinem missglückten Start zeigte Vincent vor allem seine Widerstandskraft in schlechten Stellungen, die ich als Nehmerqualität bezeichnen möchte – eine Qualität, die man bei Schachspielern nicht unterschätzen sollte.
Der Vergleich: Jahrgang 2004
Zieht man die Weltspitze der etwa gleich alten Jugendlichen zum Vergleich heran, dann ist Vincent eine sehr gute Jahresleistung hinter seinen Altersgenossen zurück: Mit dem im gleichen Jahr geborenen Inder Nihal Sarin (2004) konnte Vincent in den Niederlanden gut mithalten, allerdings liegt er weiterhin etwa 60 Elopunkte hinter Sarin zurück.
Nihal Sarin | Foto: Alina l'Ami
Der Usbeke Nodirbek Abdusattorov hingegen legte im Turnier nach ebenfalls schwierigem Start eine Serie von drei Siegen in Folge hin und konnte seine Position als weltweit Jahrgangsbester weiter ausbauen. Nodirbek zeigte sich nicht nur in diesen Partien bestens vorbereitet, sondern er spielte, als es endlich „lief“, mit einer Leichtigkeit, die man Nihal und Vincent manchmal ebenfalls gewünscht hätte.
Nodirbek Abdusattorov | Foto: Alina l'Ami
Der reine Altersvergleich ist allerdings zu kurz gesprungen: Vincent spielt im Jahr etwa 80 bis 90 gewertete Turnierpartien. Seine Altersgenossen kommen im Schnitt auf etwa drei Turniere mehr im Jahr und das zahlt sich in Erfahrung aus. Vincent hat deutlich weniger Partien gegen starke Großmeister vorzuweisen als Nihal oder Praggnanandhaa. Der zurzeit jüngste Großmeister weltweit, der Inder Gukesh (Jahrgang 2006), ist ein Vielspieler und kam in den letzten zwei Jahren auf insgesamt etwa 400 gespielte Partien. Er hat damit mehr Turnierpartien gespielt als manche Spieler der Jahrgänge 2003 oder 2002.
Vincent: Zeitmanagement
Auffällig war in Wijk Vincents häufige Zeitnot. Das war insofern überraschend, als er sich meist sehr gut vorbereitet zeigte. Zudem vermeidet Vincent durch seine Eröffnungswahl oft frühen Feindkontakt, bei dem das Berechnen von Varianten in der Regel viel Zeit kostet. In Wijk 2020 musste Vincent häufig mit wenig Zeitreserven in späteren Partiephasen komplexe Entscheidungen treffen und spielte dann zu passiv – ein typisches Phänomen bei Spielern aller Spielstärken. So konnten sich einige von Vincents Gegnern in Wijk 2020 in der Zeitnotphase aus schlechteren Stellungen befreien. In der Schlussrunde war es übrigens der Schwede Nils Grandelius, der unter Zeitdruck agierte, bevor ihm der entscheidende Fehler unterlief.
Ein weiterer Aspekt beim Zeitmanagement des Teenagers ist, dass die ruhigen, von Vincent bewusst angestrebten, Stellungen für Zeitnotphasen nicht sonderlich geeignet sind. Wenn beispielsweise ein Spieler wie Alexander Grischuk in Zeitnot gerät, dann spielt er möglichst aktive Züge und setzt das Brett durch risikoreiches Spiel gerne in Flammen. Geeignete Stellungen für solch einen Ansatz entstehen aus dynamischen Eröffnungen, die auf asymmetrische Bauernstrukturen mit vielen Hebeln setzen.
Vincents Eröffnungswahl
Wer in der Weltspitze mithalten will, der muss alle Arten von Stellungen beherrschen. Vor allem mit Weiß ist es wichtig, das Risiko jederzeit erhöhen und der Turniersituation anpassen zu können.
Vincent spielt zurzeit ausschließlich geschlossene Systeme (1.Sf3, 1.d4 und 1.c4), seine letzte Weißpartie mit 1.e4 stammt aus dem Jahr 2015. Das ist grundsätzlich keine Schwäche, denn es gibt in geschlossenen Systemen genügend Variationsmöglichkeiten, aber um die Weltklasse zu attackieren, wird diese Herangehensweise vermutlich nicht ausreichen.
Nihal Sarin bevorzugt ebenfalls geschlossene Systeme, ist aber jederzeit für den Königsbauern als Eröffnungszug gut. Nodirbek Abdusattorov und Alireza Firouzja machen es zurzeit umgekehrt. Die beiden Youngster bevorzugen den Königsbauern als Startpunkt und spielen etwa jede vierte oder fünfte Partie ein geschlossenes Eröffnungskonzept. Bei Jeffery Xiong finden sich geschlossene Strukturen in der Datenbank fast ebenso häufig wie offene.
Der Vorzug einer flexibleren Eröffnungswahl für Weiß ist nicht zu unterschätzen. Insbesondere in Rundenturnieren können sich die Teilnehmer sonst recht gut auf ihre Gegner vorbereiten. Fakt ist zudem, dass Vincent in Wijk keine Weißpartie gewinnen konnte. Unter seinen fünf entschiedenen Partien in Wijk 2020 waren fünf Schwarzsiege (dreimal gewann Vincent). Allerdings spielte Vincent gegen die nominell stärksten Gegner überwiegend mit Weiß und Vincents Partien zeigen, dass die Ergebnisse meist nicht ein direktes Resultat der Eröffnungsphase waren.
Mit Schwarz fügte Vincent seinem Repertoire neben dem Najdorf-Sizilianer diesmal Caro Kann als Verteidigung hinzu. Das macht ihn weniger ausrechenbar, zumal Vincent in Wijk 2019 mit Najdorf oft in Bedrängnis geriet. Man hatte den Eindruck, dass ihm besonders Stellungen mit entgegengesetzten Rochaden nicht behagten.
Auch hier ist der Vergleich mit anderen Talenten interessant: Der US-Amerikaner Xiong spielt bevorzugt Sizilianisch (Najdorf), aber greift auch regelmäßig zu 1...e5 oder zu Caro-Kann. Nihal wählt Sizilianisch (Najdorf oder Klassisch) und 1...e5 etwa gleich häufig. Sogar mit Französisch experimentierte der Inder bis 2018. Im Blitzen entscheidet er sich allerdings meist für Sizilianisch (Najdorf). Bei der grundsätzlich Streit suchenden Spielanlage von Alireza dürfte es nicht überraschen, dass der Iraner jederzeit zu einem Wettstreit im Sizilianer (Najdorf und Klassisch) bereit ist, aber auch offene Spielweisen wählt. Nodirbek hat sein Repertoire von offenen Systemen in letzter Zeit um den Sizilianer (allerdings nur Najdorf) erweitert. Ein anderer erfolgreicher Youngster, der Russe Andrey Esipenko (2002, 2654), setzt zurzeit vor allem auf Caro-Kann und offene Spiele. Bis 2018 hatte Andrey allerdings auch verschiedene Sizilianer in seinem Repertoire.
Exkurs: Abkürzungen in der Entwicklung
Eröffnungen im Kinderschach
Im Kinderbereich könnte man durch eine einseitige Schachausbildung kurzfristig Erfolge erzielen. Ein Kind, das beispielsweise nur das Londoner System in einer aggressiven, vulgären Form lernt (1.d4, 2.Lf4, 3.e3, 4.Ld3, 5.Sf3, 6.Se5, 7.f4 gegen alle möglichen Damenbauernspiele), dürfte in Kinderturnieren mit wenig Aufwand früh erste Erfolge erzielen können. Auf Dauer ist solch eine Herangehensweise nicht zu empfehlen, denn die Gegner stellen sich darauf ein und lassen sich nicht mehr nach 15 Zügen mattsetzen.
Wie hält man es mit dem Eröffnungsstudium?
Bei den weltweit größten Talenten sind Fragen zum Eröffnungsstudium auf einem deutlich höheren Niveau angesiedelt. Es ist interessant, zu beobachten welche Aufmerksamkeit dem Eröffnungsstudium durch die unterschiedlichen Trainer gewidmet wird.
Der zurzeit erfolgreichste Kinder-und Jugendtrainer, der Inder Ramesh, verzichtet zu Beginn der Ausbildung von Talenten fast vollständig auf das Eröffnungstraining und händigt seinen talentierten Schützlingen beispielsweise Dateien zum Lernen der Eröffnungszüge aus. Die Aufgabe der Spieler ist es dann, sich anhand von Klassikern fortzuentwickeln und aktuelle Großmeisterpartien zu verfolgen. Sein bekanntester Schüler ist Rameshbabu Praggnanandhaa (2005), kurz Pragg, dieser begann erst im letzten Jahr, also mit 13, der Eröffnungsphase einen größeren Raum im täglichen Training einzuräumen. Seitdem erhöhte sich dessen Durchschlagskraft vor allem mit Weiß deutlich. Gukesh (2006) ist zurzeit der jüngste Großmeister auf dem Planeten. Der Inder spielte mit Weiß lange Zeit Naturschach, er verzichtete also weitgehend auf ein Eröffnungsrepertoire im Kampf um Vorteil. Der dritte herausragende Inder ist Nihal Sarin. Dieser versucht sein Spielverständnis durch das Ausprobieren neuer Eröffnungen und Stellungstypen ständig zu erweitern.
Vincent scheint mit Peter Leko ein bombensicheres Eröffnungsrepertoire erarbeitet zu haben. Manche Eröffnungen wirken jedoch unter dem Aspekt des Spielens auf Gewinn etwas zu zahnlos. Zumal Vincent in Zukunft nicht nur in Rundenturnieren mit den besten Spielern der Welt engagiert sein dürfte.
Turnierauswahl
Jeder Schachspieler kennt das: Mancher spielt lieber gegen stärkere Gegner, andere bevorzugen gleichstarke oder sogar leicht schwächere Opposition. Für Junggroßmeister mit Ambitionen ist die richtige Auswahl von Turnieren und Gegnern gar nicht so einfach. Da sie in der Regel selten in Rundenturnieren spielen, bleibt ihnen meist nur die Teilnahme an Open-Turnieren. Highlights der offenen Turniere, deren Teilnehmerfeld aufstrebenden Spielern wie Vincent starke Gegner garantieren, weil diese Turniere nur Spieler mit hohen Elo-Zahlen zulassen, sind z.B. das Aeroflot-Open (2550+) in Moskau, das Biel Masters, das Reykjavik Open oder das Isle of Man Open, wo Vincent 2019 seine dritte und letzte GM-Norm geholt hat.
Vincent Keymer beim Isle of Man Open, kurz nach Ende der Partie, die ihm den Großmeistertitel gebracht hat. | Foto: John Saunders
"Normale Open" sind oft trickreicher und meist weniger geeignet. Das Grenke-Open beispielsweise beginnt wegen der großen Teilnehmerzahl für stärkere Spieler realistischerweise erst ab Runde 4 oder Runde 5. Eine Anmerkung: Eine sinnvolle Ergänzung für das deutsche Großevent wäre sicherlich ein Challengers-Turnier.
Für Vincent dürften die Deutsche U18-Meisterschaft oder die U18-Welt- oder Juniorenweltmeisterschaften gute Herausforderungen darstellen und ihn vor allem aus seiner Komfortzone herausholen. Denn es ist natürlich etwas anderes, wenn man in einem stark besetzten Turnier mit einem leichten Plus ein sehr gutes Ergebnis erzielt oder ein Turnier mit neun Runden mit, sagen wir, Plus vier abschließen muss, um die Elo-Zahl zu halten. Das Sammeln von Titeln und Erfolgen ist zudem keine schlechte Motivation.
Viele Trainer setzen auf Blitzschach zum Trainieren von Eröffnungen und weil es Spaß macht. Für Großmeister etablierte sich die Schnellschach-und Blitzweltmeisterschaft zwischen Weihnachten und Neujahr als wichtiges Highlight im Turnierkalender. Alireza Firouzja beispielsweise sah dieses Turnier 2019 als geeignete Vorbereitung für das Masters in Wijk aan Zee 2020 an. Bei der Blitz- und Schnellschach-WM bekam er durch Siege gegen rund ein Dutzend Spieler über 2700 die Sicherheit, mit Spielern dieser Kategorie mithalten zu können. Solch ein Event könnte also ebenfalls in den Jahresplan aufgenommen werden.
Alireza Firouzja | Foto: Alina l'Ami
Wie geht es weiter mit Vincent?
Die etwa gleichaltrigen Konkurrenten von Vincent sind teilweise weiter als er. Einige indische und iranische Spieler und einige Usbeken sind erkennbar als Profis im Turnierzirkus unterwegs. Das sieht man insbesondere an der Anzahl der gespielten Partien im Jahr. Im Vergleich spielte Vincent 2019 etwa drei Turniere weniger als andere in etwa gleich alte Talente.
Für Inder ist aus rein ökonomischen Gesichtspunkten eine frühe Entscheidung für ein Leben als Schachprofi einfacher zu treffen. Will ein deutsches Talent wie Vincent diesen Weg in Zukunft zumindest ausprobieren, dann bietet nur die erweiterte Weltklasse (2700+) eine realistische ökonomische Perspektive. Um eine Chance auf die absolute Spitze zu haben, muss sich ein Spieler bis etwa 20 über 2700 etabliert haben, meint der renommierte Trainer und Autor Jacob Aagard. Noch keine Erfolge im Hinblick auf das Etablieren in der Weltklasse brachte der deutsche Mittelweg, bei dem Spieler nach dem Abitur vor Aufnahme eines Studiums zunächst ein Sabbatjahr einstreuen, in dem sie sich auf das Schach konzentrieren.
Die zurzeit besten Spieler der Welt, Magnus Carlsen und Fabiano Caruana und deren Eltern setzten frühzeitig alles auf die Schachkarte. Unbekannt ist allerdings die Zahl derjenigen, die mit einem solchen Plan gescheitert sind.
Will Vincent seine Chancen auf den Weg zum Profi suchen, dann wird er seine Schullaufbahn baldmöglichst unterbrechen müssen. Keine einfachen Entscheidungen für den Teenager und seine Familie.
Vincent Keymers Partien in Wijk 2020
Vincent Keymers Partien in Wijk 2019
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